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Gleich nach seinem Eintreffen in der Wiesen-Klinik erkundigte sich Dr. Richard Berends nach dem Befinden der jungen Patientin, die in der vergangenen Nacht eingeliefert worden war.

Dr. Viktor Uhlig, der Leiter der inneren Abteilung, machte ein betrübtes Gesicht.

„Ich könnte behaupten, es gehe ihr den Umständen entsprechend gut, aber wie ich Sie kenne, geben Sie sich mit dieser Standardantwort nicht zufrieden.“

„Wann hat sie das Bewusstsein wiedererlangt?“, wollte der Chefarzt wissen.

„Exakt um vier Uhr fünfundfünfzig“, sagte der Internist. „Was ihr dieser Kerl angetan hat, hat bei ihr einen schlimmen Schock ausgelöst. Hinzu kommt die erlittene Gehirnerschütterung, die zur Folge hat, dass sich die junge Frau an das, was der Tat unmittelbar vorherging, nicht erinnert.“

„Vorübergehender Gedächtnisverlust. Teilamnesie“, sagte Dr. Berends ernst. „Das ist nach Gehirnerschütterungen nichts Ungewöhnliches. Irgendwann wird sie sich wieder erinnern.“

„Der Schock könnte die geistige Blockade wesentlich verlängern“ sagte Dr. Viktor Uhlig.

„Tja, wir müssen es hinnehmen, wie es ist. Hat die Patientin inzwischen ihren Namen genannt?“

„Ja. Sie heißt Ute Farina, ist zweiundzwanzig Jahre alt und wohnt in der Leberstraße.“

„Farina ...“

„Klingt italienisch“, sagte der Oberarzt. „Aber sie ist deutsche Staatsbürgerin. Wahrscheinlich hat sich ihr schwarzhaariger, glutäugiger Ururgroßvater vor langer Zeit in ihre blonde, blauäugige Ururgroßmutter verliebt und sich bei uns angesiedelt. Liebe kennt keine Grenzen, und die Nationalität der Menschen ist ihr auch egal.“

„Hat die Patientin Eltern? Andere Verwandte?“

„Sie hat einen Halbbruder: Hanno Gerlach.“

„Wurde er verständigt?“, fragte Dr. Berends.

„Ja, und die Polizei haben wir gleichfalls alarmiert. Zunächst war die Patientin ziemlich ruhig, und man konnte sich vernünftig mit ihr unterhalten, aber dann erlitt sie ganz plötzlich einen Nervenzusammenbruch. Ich musste Luminal injizieren. Jetzt ist sie wieder ruhig.“

„Ich möchte sie sehen“, sagte Dr. Berends. „Begleiten Sie mich, Herr Kollege?“

„Würde ich gern tun, Herr Chefarzt, aber heute Morgen wurde ein Patient mit einer Fallotschen Tetralogie eingeliefert, um den ich mich kümmern muss.“

„Das geht schon in Ordnung“, sagte Richard. „Wir sehen uns später.“

Der Chefarzt begab sich allein zu Ute Farina. Sie blickte ihn mit großen, traurigen Augen an, als er eintrat.

Der Mediziner stellte fest, dass es der Assistenzarzt, der gestern die Platzwunde der Patientin versorgte, ein bisschen übertrieben hatte.

Es wäre nicht nötig gewesen, der jungen Frau einen solchen Turban aufzusetzen. Weiß wie frischgefallener Schnee leuchteten die Bandagen.

„Guten Morgen“, sagte Dr. Berends und lächelte freundlich.

Ute musterte ihn neugierig, während sie den Gruß leise wiederholte.

„Ich bin Dr. Richard Berends, Chefarzt der Wiesen-Klinik“, stellte sich der Chirurg vor. „Darf ich fragen, wie es Ihnen geht?“

„Ein bisschen Kopfschmerzen“, sagte die Patientin leise. „Werden Sie mir auch Fragen stellen, so wie Dr. Uhlig?“

Richard maß ihren Puls. Er war in Ordnung. „Sie konnten Dr. Uhlig nicht viel erzählen.“

Ute zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen? Ich gab mir die größte Mühe, aber bei aller Anstrengung kam nichts heraus.“

„Dann will ich Ihnen mal einen Tipp geben. Sie dürfen sich nicht anstrengen. Sie können nichts erzwingen. Lassen Sie sich gewissermaßen treiben, und Sie werden sehen, dass Sie bald wieder in einem Meer von Erinnerungen schwimmen werden. Manchmal kehrt das Gedächtnis zurück, ohne dass es der Patient merkt. Es ist auf einmal wieder da. Ohne jede Vorankündigung.“

„Bin ich... Ist mein Zustand... Bin ich verrückt, Dr. Berends?“

Der Mediziner lachte. „Aber nein, wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee?“

„Mein Geist hat in der vergangenen Nacht Schaden genommen, sagte Dr. Uhlig.“

„Das ist richtig, aber Sie müssen sich deswegen keine Sorgen machen. Denken Sie immer an meinen Tipp: treiben lassen. Dann werden Sie bald wieder völlig gesund sein.“

„Ich habe manchmal auch Schmerzen im Hals, beim Schlucken. Wieso?“

Richard vermied es, ihr zu sagen, woher das kam. Sie hätte das in ihrem Zustand schlecht verkraftet.

Es war besser, wenn sie selbst darauf kam, deshalb überhörte er ihre Frage und sprach über die Therapie, mit der man sie so rasch wie möglich wieder auf die Beine stellen würde.

„Was sind Sie von Beruf ?“, fragte er.

„Ich arbeite als Verkäuferin in einem Schallplattengeschäft.“

„Ein ziemlich lauter Job“, sagte der Chefarzt schmunzelnd. „Dafür braucht man gute Nerven, oder sehr viel Liebe zur Musik.“

„Beides habe ich“, sagte Ute. „Das heißt... Wie es jetzt um meine Nerven bestellt ist, weiß ich nicht so genau.“

Sie spielte auf ihren Nervenzusammenbruch an, gegen den Dr. Uhlig zum Glück sofort etwas unternommen hatte.

Dr. Berends sagte, dass das Luminal in solchen Fällen wahre Wunder wirkte. Er tat alles, um das Vertrauen der Patientin in die Menschen, die sie betreuten, zu verstärken.

Jede Frage, die möglicherweise zur rascheren Genesung der jungen Frau beitragen konnte, beantwortete er sehr ausführlich.

Ute spürte, dass dieser Mann sehr viel von seinem Beruf verstand, und dass er mit Menschen hervorragend umgehen konnte.

Es fiel ihr nicht schwer, Vertrauen zu ihm zu fassen. Er erklärte ihr, jederzeit für sie da zu sein.

Sie solle sich nicht scheuen, nach ihm zu verlangen, wenn sie mit ihm reden wolle, egal, über was.

„Danke, Dr. Berends“, sagte Ute Farina leise.

„Ich sehe bald wieder nach Ihnen“, sagte der Chefarzt und lächelte ihr aufmunternd zu. „Kopf hoch, Fräulein Farina. Es wird alles wieder gut. Sie sind bei uns in den besten Händen. Das sage ich nicht nur, weil ich die Wiesen-Klinik leite. Es ist eine Tatsache.“

„Ich fühle mich hier bei Ihnen auch sehr gut aufgehoben.“

„So soll es sein“, sagte Richard. „Und nun lassen Sie sich einfach treiben, ja?“

„Ich will es versuchen. Ich bin sehr müde.“

„Dann schlafen Sie. Schlaf ist nach wie vor die allerbeste Medizin. Er hilft uns, unsere Probleme zu bewältigen und stärkt uns immer wieder aufs Neue, damit wir im harten Lebenskampf bestehen können.“

Ute fielen die Augen zu, und Dr. Berends zog sich lautlos zurück.