Der "Leibhaftige" wurde nicht gefunden. Wie ein böser Spuk war er aufgetaucht und wieder verschwunden, und als Bärbel nach Sonnleiten zurückkehrte, hatten sich die Wogen der großen Aufregung schon wieder geglättet.
Aber tags darauf erschreckte der Unbekannte wieder eine Frau: die resolute Brandtner-Sophie. Sie war gerade beim Wäsche aufhängen, als er plötzlich in ihrem Garten stand. Also schnappte sie sich den Stiel einer abgebrochenen Heugabel und ging damit auf den Verwahrlosten los.
Der Mann ergriff in größter Hast die Flucht, und wenige Minuten später erfuhr Hubert Finkbach vom neuerlichen Auftauchen und spurlosen Verschwinden des Fremden.
Wieder wurde der Unbekannte von Hubert und einigen Dörflern gesucht, aber nicht gefunden. "Das gibt's doch nicht", sagte der junge Polizist. "Der Bursche kann sich doch nicht jedes Mal in Luft auflösen. Er ist doch kein Geist."
"Ein Geist?", fragte der schwerhörige Valerian. "Bei uns? He, Hubert, was bist denn du für ein spaßiger Polizist? Es gibt keine Geister. Und schon gar nicht in Sonnleiten."
Trotzdem machte es die Runde: Der Finkbach-Hubert hat gesagt, dass ein Geist im Dorf ist. Und der Kirchenwirt sagte, als er das hörte: "Spinnt der Polizist? Wie kann er so was Schwachsinniges behaupten?" Und die Gerlich-Walburga erzählte überall herum: "Der Kirchenwirt hat gesagt, der Polizist ist schwachsinnig." Hubert kam das natürlich zu Ohren, aber er reagierte nicht darauf. Er wusste, wie im Dorf Gerüchte entstanden, und von wem sie schadenfroh und absichtlich falsch weitergegeben wurden.
Um die Mittagszeit rannte der Mesner wie von Furien gehetzt durch das Dorf und schrie alle Leute zusammen, als hätte er den Verstand verloren.
Er hatte den Unbekannten in einem alten Strohschober entdeckt. Wieder rückten die Sonnleitener aus, und diesmal bekamen sie den Fremden endlich zu Gesicht.
Er war weder der Leibhaftige noch ein Geist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der, von Panik getrieben, das Weite suchte, als die Dörfler anrückten.
Sie verfolgten ihn, versuchten ihn einzukreisen, hetzten ihn wie Hunde den Hasen, doch es gelang ihm immer wieder im allerletzten Augenblick, ihnen zu entkommen.
In seiner Verzweiflung schloss er sich in die Kirche ein, und die Sonnleitener holten ihren Pfarrer. Josef Meier war gerade beim Essen. Für den wohlbeleibten Gottesdiener war das beinahe eine sakrale Handlung.
"Herr Pfarrer!", rief der Liebherr-Toni aufgeregt. "Ein Landstreicher hat die Kirche besetzt."
Pfarrer Meier sah den Sohn des Großbauern irritiert an. "Wie - besetzt?"
"Eingesperrt hat er sich", berichtete Toni. "Sie müssen ihn da rausholen. Er hat in unserer Kirche nichts zu suchen."
"Die Kirche ist für alle da", belehrte der Priester den Aufgebrachten.
"Nicht für den." Toni schüttelte heftig den Kopf. "Der hat in Sonnleiten nichts zu suchen. Er hat die Breitebner-Linni und die Brandtner-Sophie zu Tode erschreckt."
Seufzend nahm der Pfarrer die Serviette ab und legte sie neben den halb vollen Teller. Saftfleisch mit Spätzle - sein Leibgericht.
Aber die Pflicht ging vor. Er stand auf und verließ mit Toni und einigen anderen Dörflern das Pfarrhaus. Vor dem Kirchentor stand der Polizist mit einigen Leuten.
"Er gibt keine Antwort, Herr Pfarrer", berichtete Hubert Finkbach. "Er tut so, als wäre er nicht da."
Der Priester trat an das große, eisenbeschlagene Tor. Er klopfte. "Hallo, mein Sohn! Hörst du mich? Ich bin Pfarrer Josef Meier!"
"Herr Pfarrer!", kam es aufgeregt durch das Holz. "Hilfe! Sie müssen mir helfen!"
Hubert wandte sich an den Priester. "Sagen Sie ihm, er soll herauskommen", raunte er ihm zu.
"Wie heißt du, mein Sohn?", fragte der Pfarrer.
"Florian Salmhofer."
"Woher kommst du?"
"Ich habe Angst, Herr Pfarrer", krächzte der Fremde.
"Du brauchst dich nicht zu fürchten", sagte Josef Meier in besänftigendem Ton. "Niemand wird dir was tun."
"Diese Leute haben mich gejagt, als wäre ich ein tollwütiges Tier", beklagte sich der Fremde.
"Komm heraus, Florian Salmhofer!", verlangte der Priester.
"Ich denke nicht daran."
"Es wird dir nichts geschehen. Ich verbürge mich dafür."
"Ich komm' nicht raus."
"Darf ich reinkommen?", fragte Pfarrer Meier.
Salmhofer sagte nichts.
"Lässt du mich rein?", fragte Josef Meier.
"Wenn ich das Tor aufschließe, werden alle..."
"Du befindest dich im Hause Gottes", sagte der Priester. "Ich stelle dich unter meinen persönlichen Schutz. Niemand wird Hand an dich legen."
"Wenn Sie versprechen, dass nur Sie in die Kirche kommen, schließe ich das Tor auf", sagte Salmhofer.
"Ich verspreche es", sagte Pfarrer Meier.
Einen Augenblick passierte nichts, dann wurde der Schlüssel im Schloss gedreht. Der Priester öffnete einen Spaltbreit die Tür.
"Seien Sie vorsichtig, Herr Pfarrer", zischte der junge Polizist. "Wer weiß, was dem einfällt."
"Er wird mir nichts tun", sagte Josef Meier zuversichtlich.
Hubert wiegte den Kopf. "Sie kennen ihn nicht. Er nimmt Sie vielleicht als Geisel."
Josef Meier schmunzelte. "Mir scheint, du hast zu viele Kriminalromane gelesen." Er betrat die Kirche.
Florian Salmhofer drängte ihn hastig zur Seite, schloss die Tür und sperrte sich mit dem Priester ein. "Ich bin kein Verbrecher, Herr Pfarrer. Ich habe nichts angestellt."
"Du hast der Breitebner-Linni und der Brandtner-Sophie einen mordsmäßigen Schrecken eingejagt."
"Das tut mir leid. Das war nicht meine Absicht. Ich wollte sie nur was fragen."
"Was wolltest du sie fragen?"
"Ob sie Arbeit für mich haben."
Pater Meier musterte sein heruntergekommenes Gegenüber. Der Mann sah eigentlich nicht zum Fürchten aus. Man konnte eher Mitleid mit ihm haben. "Woher kommst du?", wollte der Priester wissen.
"Aus Lerching am Fuße des Wetterstein", gab Florian Salmhofer zur Antwort. "Ich hab's auf dem elterlichen Hof nicht mehr ausgehalten, hab alles stehen und liegen gelassen und bin fortgegangen. Mein Vater ist ein schrecklicher Tyrann. Jeden Tag trinkt er mindestens zwei Liter Wein, der Alkohol macht ihn aggressiv, und dann schlägt er meine Mutter. Jedes Mal wenn ich mich schützend vor sie gestellt habe, hat er auch mich verdroschen. Vor einem Monat hab ich zum ersten Mal zurückgeschlagen. Da wusste ich, dass es Zeit für mich war, zu gehen, bevor es ein Unglück gibt. Seither ziehe ich umher, verdiene mir mein Geld mit Gelegenheitsarbeiten und schlafe entweder im Freien oder in leeren Hütten oder Heuschobern. Ich bin ein friedfertiger Mensch, Herr Pfarrer. Ich schwör's. Ich tue niemandem was zuleide. Ich möchte bloß arbeiten, um mir was zu essen kaufen zu können."
Draußen schlug jemand mit der Faust ans Kirchentor. "Sind Sie in Ordnung, Herr Pfarrer? Geht es Ihnen gut? Wenn der Kerl Sie anfasst, brechen wir das Tor auf - und dann..."
"Geht nach Hause, Leute!", rief Josef Meier. "Der Mann ist völlig harmlos. Ich bin nicht in Gefahr." Er wandte sich an Florian Salmhofer. "Wann hattest du deine letzte ordentliche Mahlzeit, mein Sohn?"
"Das ist schon eine Weile her", antwortete dieser. "Ich ernähre mich von Beeren und Früchten, und ab und zu schenkt mir jemand einen Kanten Brot."
Das gute Herz des Pfarrers öffnete sich. "Du kommst jetzt mit mir ins Pfarrhaus, kriegst erst einmal was zu essen, und dann helfe ich dir, Arbeit zu finden. Aber zuerst musst du dich waschen und rasieren, damit nicht noch eine Frau bei deinem verwahrlosten Anblick beinahe in Ohnmacht fällt."
Angst erschien wieder in Salmhofers Blick. Er wollte die Kirche nicht verlassen und den gegen ihn so aufgebrachten Sonnleitenern in die Hände fallen.
Er sah den Priester flehend an. "Bitte, Herr Pfarrer, lassen Sie mich hier!"
Josef Meier drehte sich um. "Hubert!"
"Ja, Herr Pfarrer?", antwortete der Polizist.
"Ich komme jetzt mit dem Mann raus. Sorg dafür, dass ich ihn ungehindert ins Pfarrhaus bringen kann."
Schweigen. Salmhofer nagte nervös an seiner Unterlippe.
"Hubert?", rief der Priester. "Hast du mich verstanden?"
"Ja", antwortete der junge Polizist, und Pfarrer Meier schloss das Kirchentor auf.
Florian Salmhofer hielt den Atem an, als der Gottesmann das Tor öffnete. Draußen raunten die Dörfler, die sich zusammengerottet hatten: "Da ist er." - "Seht nur seinen hinterhältigen Blick." - "Ich möchte wissen, was in dem seinem Kopf vorgeht." - "Verschlagen wie eine Hyäne sieht er aus." - "Dem darf man nicht über den Weg trauen."
"Komm", sagte der Pfarrer. "Wir gehen."
Zaghaft folgte Florian Salmhofer dem Priester. Die Dörfler wichen widerstrebend zurück und ließen den Pfarrer und den Fremden vorbei.
Die beiden erreichten ungehindert das Pfarrhaus und verschwanden darin. Für die Sonnleitener stand fest, dass der Priester zu vertrauensselig war, und sie glaubten zu wissen, dass er diese Unbekümmertheit schon sehr bald bereuen würde.