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Als die junge Sennerin das Bewusstsein wiedererlangte, lag sie in ihrer Schlafkammer im Bett. Siegfried war bei ihr. Er... wird... mir... doch... jetzt... nicht... Gewalt... antun!, schoss es Bärbel siedend heiß durch den Kopf.

Sie bewegte sich und stellte fest, dass Siegfried mit ihrem Strick ihre Arme und Beine zusammengebunden hatte. Er lachte höhnisch. "Jetzt hab ich das getan, was du mit mir vorgehabt hast. Wie geht doch gleich der gescheite Spruch? Ach ja: Was du nicht willst, das dir man tu, das füg auch keinem andern zu."

"Was hast du mit mir vor?", fragte die Sennerin mit weinerlicher Stimme.

"Nichts", antwortete Siegfried. Bärbel konnte sich nicht erklären, wie es möglich war, dass er nicht mehr so schwer betrunken war wie vor einer Stunde. "Du bleibst hier ein Weilchen liegen", sagte er. "Ich werde den Finkbach-Hubert in den Bärengraben locken, und nachdem ich mit ihm abgerechnet habe, wird jemand in Sonnleiten erfahren, dass man dich von deinen Fesseln befreien soll."

"Bitte, tu's nicht", flehte Bärbel. "Verschon den Hubert."

Siegfried lachte meckernd. "Schau einer an, du hast den Mistkerl ja noch gern."

"Es ist doch kein Grund, einem Menschen das Leben zu nehmen, weil er seine Arbeit so gemacht hat, wie man es von ihm erwartet."

"Für mich ist es ein Grund", sagte Siegfried hart und verließ die Kammer.

Bärbel hörte, wie er sich draußen hinlegte, und es dauerte nicht lange, bis laute Schnarchgeräusche die Hütte erfüllten. Bärbel bemühte sich verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien. Es gelang ihr nicht.

Irgendwann nach Mitternacht stand Siegfried auf und verließ die Sennhütte, um sich auf sein blutiges Werk vorzubereiten. Er nahm sich nicht die Zeit, nach Bärbel zu sehen. Sie hörte, wie sich seine Schritte entfernten - und kurz darauf war es beklemmend still.