Najah hätte sich kaum ein unglücklicher dreinblickendes Wesen vorstellen können, als sie Ella auf den Türöffner drücken und matt die Stufen in den umgebauten Straßenbahnwaggon steigen sah.
»Mädchen! Du siehst aus wie ein vom Regen zerfleddertes Eichhörnchen.«
Ella versuchte ein Lächeln.
»Kaffee?«
»Zigaretten«, erwiderte Ella.
»Hier, nimm erst mal eine von mir.« Najah hielt Ella die Schachtel hin, steckte sich selbst eine an und öffnete das Kippfenster hinter sich. Sie rauchte nur in Ausnahmefällen im Kiosk. Dass dies ein solcher war, sah sie Ellas verquollenen Augen an. Ohnehin war bei dem Wetter kaum jemand unterwegs und der nächste Bus kam erst in zwanzig Minuten. Mit einem Ansturm von Kundschaft war nicht zu rechnen.
Najah klemmte ihre Zigarette in den Aschenbecher und setzte Wasser auf. Falls Ella reden wollte, würde ein Kaffee sicher helfen. Ohne erneut nachzufragen, zählte sie löffelweise das feine Pulver in die silberne Kanne. Sie vermisste die zerbeulte Dallah ihrer Großmutter, die sie in Syrien hatte zurücklassen müssen. Aus der Messing-Kanne hatte der Kaffee aromatischer geschmeckt. Zumindest bildete sie sich das ein. Während sie etwas Kardamom zum Kaffee gab, bemerkte Najah das Zittern der Hand, mit der Ella ihre Zigarette zum Mund führte. Noch nie hatte sie die junge Frau so aufgelöst gesehen. Fahrig. Verstört. Hoffentlich war niemand gestorben. Daran dachte Najah immer zuerst, wenn etwas offensichtlich Schlimmes passiert war. Dass jemand gestorben sein könnte.
Im Wasserkocher begann es zu rauschen. Najah nahm einen schnellen Zug von ihrer Zigarette, klemmte sie zurück in den Aschenbecher, goss das Wasser auf und rührte den Kaffee um. Als sie die Kanne hochnahm und auf den Gaskocher stellte, fuhr ihr ein Schmerz ins Handgelenk. Das war in letzter Zeit häufiger passiert. Bisher hatte Najah es ignoriert. Auch jetzt ging sie darüber hinweg und griff erneut nach ihrer noch qualmenden Zigarette.
»Nicht viel los heute?«, fragte Ella, nur um etwas zu sagen.
»Nein. Bei dem Wetter.«
Rauchend richteten beide den Blick nach draußen, wo der vom Wind gepeitschte Regen die zarten Blütenrispen der Spiersträucher zerpflückte. Ella hatte das Gefühl, dass das Leben gerade genau das mit ihr machte.
»Schade um die schönen Blüten«, sagte Najah. »Gestern war das noch so eine Pracht.«
Gestern, dachte Ella. Ihre Unterlippe bebte. Hastig zog sie an der Zigarette. Sie wollte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen.
In der silbernen Dallah begann der Kaffee zu brodeln. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Gebräu überkochen konnte, drosselte Najah die Gasflamme. Ella sah zu, wie sie hinter dem Tresen hantierte. Wie sie karamellisierte Cashewkerne in ein Schälchen schüttete, Tassen auf Unterteller stellte, Löffel zurechtlegte und alles auf einem Tablett anordnete. Solange das Klappern und Klimpern für Geräusch sorgte, war es nicht nötig, zu sprechen. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Najahs Kippe klemmte noch in einer der Vertiefungen. Wie eine Metapher. Noch nicht halb aufgeraucht und schon von selbst erloschen. War das mit Nicks Liebe zu ihr passiert? Wie lange er Anlauf genommen hatte, für seine fünf Worte. Mit Belanglosigkeiten über den Tag war er eingestiegen. Irgendwas an der Druckmaschine hatte geklemmt. Seine ausführliche Schilderung, wie er dem Fehler auf den Grund gegangen war, hatte Ella durch sich durchrauschen lassen. Erst während er von Veränderungen, nicht nur in seinem Business, gesprochen hatte, war sie hellhörig geworden. Vielleicht war es der Klang seiner Stimme gewesen. Oder sein Blick? Wahrscheinlich die vielen nervös gerauchten Zigaretten. Intuitiv hatte sie geahnt, dass da etwas Ungutes auf sie zurollte.
Najah schenkte den Kaffee ein, brachte das Tablett zu dem schmalen Holztisch und setzte sich davor auf die Bank, wobei sie mit der flachen Hand auf den Platz neben sich klopfte.
Wenn Ella sich wegen des mangelnden Vorrats an Zigaretten zu Hause noch selbst verflucht hatte, so war sie jetzt sicher, dass ihr an diesem beschissenen Tag nichts Besseres hätte passieren können. Der ausrangierte Triebwagen mit seinem honigwarmen Licht erschien ihr wie ein Kokon. Als würde die Welt da draußen nicht existieren. Hörbar atmete sie ein und aus. Ein Seufzer wie ein Versuch, das Erlebte abzuschütteln.
»So schlimm?« Najah stand auf, holte ein Frotteehandtuch und rubbelte die Nässe aus Ellas Haaren.
Matt zuckte Ella mit den Schultern. »Wie lange dauert Trennungsschmerz?«
Najah hörte auf zu rubbeln. »Wie lange hat die Liebe gedauert?«
»Nicht lange genug. Fünf Jahre. Plus ein paar Wochen.« War es tatsächlich erst im März gewesen, als Nick ihren Jahrestag vergessen hatte? Im Rückblick kam es Ella wie ein Vorzeichen auf die vergangene Nacht vor, das sie hätte bemerken müssen. Vier Mal hatte er diesen Tag zu etwas Besonderem gemacht. Letztes Jahr mit einem Picknick in einer ehemaligen Fabrikhalle. Nick war Meister darin, Lost Places aufzuspüren. Er hatte ihr die Augen verbunden und sie auf dem Gepäckträger seines Fahrrades durch die halbe Stadt gefahren. Es war ein trockener, aber kalter Tag gewesen. Die Arme um seinen Körper geschlungen, die Wange an seinen Rücken geschmiegt, hatte sie versucht, den Weg anhand der Geräusche, Gerüche und Fahrbahnbeschaffenheit zu erraten. Das Verkehrsgeräusch hatte bald ab- und das Vogelgezwitscher zugenommen. Statt Asphalt hatte Ella Schotter unter den Reifen gespürt. Nick hatte sie absteigen lassen und in ein Gebäude geführt. Es war zugig. Aber sobald er ihr die Augenbinde abgenommen hatte, wurde Ella von einer Welle wärmender Zuneigung überwältigt. Auf dem Boden lag Nicks große Matratze, über der er eine Patchwork-Decke ausgebreitet hatte. Daneben vier Stumpenkerzen und ein Holzbrett mit Käse, Weintrauben und Baguette. Das konnte Nick: Üppigkeit durch Minimalismus erzeugen. Immer wieder hatte er auf diese Weise ihre Liebe befeuert. Drei Worte auf einem abgerissenen Zettel. Zwei miteinander verbundene Kirschen auf dem Tellerrand. Ein Herz aus Rasierschaum auf dem Badezimmerspiegel.
»Das ist lange.« Najah rubbelte wieder. Gedankenverloren. Und blieb die wahre Antwort schuldig.
»Du kennst die Antwort nicht«, stellte Ella fest.
»Wenn jemand stirbt, so heißt es, dauert die Trauer ein Jahr. Ein erstes Weihnachten ohne den geliebten Menschen, ein erster Geburtstag, ein erstes Eis, ein erster Sommer. In diesem einen Jahr erinnerst du dich jeden Tag. So war es vor ein paar Tagen. So war es letzte Woche. Letzten Monat. Und irgendwann: So war es vor einem Jahr. Danach hört es nicht auf. Aber es verwässert. Mit jedem Jahr etwas mehr.«
»Klingt traurig«, murmelte Ella nur, obwohl sie längst wusste, wie seltsam sich Geburtstage oder sogar ganze Jahreszeiten anfühlten, wenn der Tod einen Platz im Leben einnahm.
»Es IST traurig.« Najah verbot sich jeden Gedanken an die Vergangenheit. Das Bild, das sich ihr aufdrängte – die abgewinkelten Beine, der aufgerissene Mund – schüttelte sie mit der gewohnten Vehemenz ab. Sie musste nach vorne schauen. Najah legte das Handtuch zur Seite, setzte sich wieder und schob Ella eine Kaffeetasse zu. »Trink. Solange er noch heiß ist.«
Ella umfasste die Tasse mit beiden Händen. Als könnte deren aufgeheizte Keramik den kalten Schock der Nacht in Wärme umwandeln. Mit der Zeitverzögerung einer schlechten Internetverbindung nahm sie Najahs Antwort wahr: Es IST traurig.
Hinter den kürzesten Sätzen verbergen sich oft die längsten Geschichten. Für den Moment, den ein letzter Wassertropfen braucht, um sich von der Armatur zu lösen und im Waschbecken zu landen, wollte Ella Najah fragen. Nach der Geschichte hinter den drei Wörtern. Stattdessen brachte sie nur einen weiteren Seufzer hervor. »Also bin ich jetzt ein Jahr lang traurig?«
Insgesamt betrachtet, würde es vielleicht so sein. Doch Najah hatte es sich zu eigen gemacht, die Zeit in kleinste Abschnitte zu zerlegen und sich von einer guten Sache zur anderen zu hangeln. Vom Anblick einer Blüte zum Schluck gesüßten Tees im Mund. Vom Duft gerösteter Nüsse zur Buchlektüre am Abend. Aufmunternd tätschelte sie Ellas Hand, wobei sie sich wieder einmal ihrer eigenen faltig gewordenen Haut bewusst wurde. »Du darfst nicht aufhören, die Momente zu lieben. Jeder Tag ist gut zu dir.«
Ella nippte an ihrem Kaffee, vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrühen, schmeckte den Kardamom und lächelte. »Kardamom ist gut zu mir.«
»Komm her, du verunglücktes Eichhörnchen.« Najah zog Ella zu sich heran und hielt sie eine Weile fest. Und solange es jemanden gibt, der einen in unsicheren Momenten festhält, ist ein Tag nicht ganz verloren. Jedenfalls fühlte sich Ella ein bisschen geborgen und weniger allein in Najahs Armen. Sie schloss die Augen und ließ sich in Najahs Körperwärme fallen, die nach Waschmittel, einem Hauch von Schweiß und Gewürzen roch.
Nachdem Ella sich eine Weile später aus der Umarmung gelöst hatte, der Kaffee war inzwischen abgekühlt, leerte sie die Tasse. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf die körnigen braunen Schlieren und versuchte, im Kaffeesatz-Muster ein schlüssiges Bild zu erkennen. Seit sie regelmäßig bei Najah einkehrte, war ihr das Kaffeesatzlesen zu einem liebgewonnenen Ritual geworden. »Sieht aus wie eine Brücke mit drei Torbogen«, sagte sie und stellte die Tasse vor Najah auf den Tisch.
Nickend betrachtete Najah das Motiv.
»Und?« Ella tippte gegen den Tassenrand. »Was bedeutet das jetzt?«
»Was denkst du selbst?«
Ella starrte auf die Schlieren. »Dass ich über die Brücke gehen soll? Das tiefe Tal überwinden oder sowas?«
Der Unmut in Ellas Stimme war unüberhörbar. Zu gerne hätte Najah ihr gesagt, dass alles ganz leicht sei. Aber das war es nicht. Das war es nie. Sie stand auf, um sich die Zigarette zu holen, die sie vorhin in den Aschenbecher geklemmt hatte. Wie oft hatte sie früher Brandlöcher erzeugt, wenn sie das getan hatte. Seit es diese Brandschutz-Zigaretten gab, die von alleine ausgingen, sobald man nicht mehr daran zog, musste sie sich darum keine Sorgen mehr machen. Während sie sich die angerauchte Kippe wieder ansteckte, betrachtete sie Ella. Wie deren zierliche Hand sich zögernd aus dem überlangen Strickpullover-Ärmel herausbewegte, nach der Tasse griff und diese leicht ankippte. Es rührte Najah, wie Ella in dem Muster aus Kaffeesatz Antworten suchte.
»Ich kann auch durch einen der Torbögen gehen.« Nachdenklich fixierte Ella die Schlieren. »Es gibt VIER Wege.«
»Sogar mehr. Wenn du die Kombinationen mitdenkst.«
»Na super. Und woher soll ich wissen, welchen Weg ich wählen soll?«, fragte Ella.
»Das«, entgegnete Najah, drückte die Zigarette endgültig aus und setzte sich wieder, »wird sich zeigen. Vertrau deinem inneren Kompass.«
»Der ist kompletter Schrott.« Mit einer Drehung aus dem Handgelenk ließ Ella den Löffel, den ihre Finger die ganze Zeit bearbeitet hatten, quer über den Tisch schlittern. »Sonst hätte er mir ja wohl mal ein Zeichen gegeben, dass ich auf dem falschen Weg bin.«
Najah nahm den Löffel vom Tisch und legte ihn bedächtig auf ihren Unterteller. »Es gibt keine falschen Wege.«
Der Regen prasselte auf die Stahlhülle der Straßenbahn, die weit vor Ellas Zeit schon wer weiß wie viele Menschen durch die Stadt gefahren hatte, die Türmechanik zischte und herein kullerte ein mehrstimmiges Kichern, gefolgt von drei etwa zehnjährigen Mädchen, die sich die Nässe aus den Haaren schüttelten wie junge Hunde. Ein roter Cockerspaniel, ein schwarzer Pudel und ein fauvefarbener Briard. Glitzernde Wassertropfen perlten über die Ärmel ihrer Funktionsjacken, und aus ihren Mündern sprudelte glucksendes Geplapper, als wäre dieser graue und zutiefst deprimierende Tag eine fröhliche Party.
Ich nehme dies. Oder lieber das. Vielleicht drei davon. Ich mag lieber die Gelben. Wollen wir auch die Roten? Keine Kerne! Oh, süße Mandeln! – Drei Freundinnen im Neo-Paradies der bunten Tüten. Wie lange war es her, dass Ella nach der Schule am Bushaltestellen-Kiosk mit Mareike und Esma weiße Mäuse, saure Schnüre und Lakritz gekauft hatte? Die Mädchen tippten abwechselnd mit ihren Zeigefingern gegen die Glasscheibe am Tresen, hinter der Najahs köstliche Vielfalt selbst gerösteter und gewürzter Nüsse, Kerne und Trockenfrüchte lag. Najah und Ella nahmen jede ihre Tasse und erhoben sich.
»Gibst du mir noch schnell drei Schachteln?«, fragte Ella und stellte ihre Kaffeetasse, in der die Torbögen zu einem konturlosen schmuddeligen Aquarell verlaufen waren, auf die Arbeitsfläche hinter dem Tresen. Ihr Blick streifte die Mädchen, die unbeirrt weiterquasselten und Kleingeld zählten. Ella fragte sich, wann sie aufgehört hatte, bunte Tüten, Mareike und Esma für den Mittelpunkt ihres Lebens zu halten.
Mareike war im Begriff zu heiraten. Ihren Denne, der eigentlich Dennis hieß und den sie im Grunde schon ewig kannte, aber erst während ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau in der Berufsschule für sich entdeckt hatte. Ella hatte bis heute kaum eine Ahnung, wie Mareikes Arbeitsalltag aussah, was wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Sicher hatte sie ähnliche Bilder im Kopf wie ihr Denne, der bei jeder Begegnung mit Ella die Reporterin Karla Kolumna aus den Bibi-Blocksberg-Filmen erwähnte. Mit einem gequälten Lächeln ließ sie den abgegriffenen Vergleich durchgehen, ohne ihm ihren Online-Magazin-Alltag näher zu erläutern. Er hatte ohnehin die Vorstellung, dass Ella überwiegend über vergnügliche, politisch korrekte oder popkulturelle Sachen plaudernd mit ständig feiernden sowie kaffeetrinkenden Stadtmenschen in Räumen herumsaß und Spaß hatte. Sie konnte es ihm nicht vorwerfen. Ihr Bild von Dennes Leben, zwischen Job, Freiwilliger Feuerwehr und Zigarettenschachtelnsammeln für den fünfundzwanzigsten Geburtstag von Laura oder Lena, war ebenso klischeehaft.
»Ella?« Najah hielt ihr die drei Schachteln Zigaretten hin.
»Danke.« Das sogenannte Schockbild auf der Packung, zum Glück nicht das mit dem immer wieder falsch gedeuteten Arschloch, zeigte eine rauchende Mutter mit Kleinkind, was Ella in Erinnerung rief, dass ihre Familienidee nun auf Eis lag. Nicht, dass es sich um eine konkrete Planung gehandelt hätte wie bei Mareike und Denne, die nach der Schule im Landkreis geblieben waren und jetzt diskutierten, in wessen Dorf sie ein Haus bauen sollten. Es hatte sich mehr um eine nicht terminierte Gewissheit gehandelt. Sie und Nick und die Zukunft. Noch gestern war sie davon ausgegangen, dass heute ein gemütlicher Teil davon werden würde. Ein nicht erwähnenswerter Zeitabschnitt, den sie mit Nick zwischen Bett und Küche verbracht hätte. Regentropfenzählend. Kaffeekochend. In nichts als dem langen Strickpullover vor dem Herd stehend und Spaghettisoße rührend. Nicks Atem für einen hingehauchten Kuss in ihrem Nacken. Müßig den Tag vergeudend und sich selbst in ihrer von Netflix-Serien gesäumten Zweisamkeit völlig genügend. Ella spürte die Tränen an der Oberkante ihrer Unterlider, während sie mit zittrigen Händen versuchte, ihr Portemonnaie zu öffnen.
»Geh nur«, sagte Najah. »Ich schreibe es auf.«
»Danke«, presste Ella hervor. Sie stopfte die Zigarettenschachteln in ihre Manteltaschen, derweil die Mädchen neben ihr diskutierten, ob sie von gerösteten Kichererbsen kichern müssten und welche Menge nötig sei, um eine entsprechende Wirkung zu erzielen. Ella drückte gerade auf den Türöffner, als sie eines der Mädchen hinter sich flüstern hörte, dass die Frau statt der Zigaretten lieber Kichererbsen hätte kaufen sollen.
An jedem anderen Tag hätte Ella etwas erwidert. Zumindest gelächelt. Doch ihr fehlte schlichtweg die Energie. Die Türen zischten und Ella war bereit, den Rest des Tages, oder besser noch den Rest ihres Lebens, ihr seelisches Tief zu zelebrieren.
In der darauffolgenden Nacht begriff Ella, was es bedeutete, nicht schlafen zu können. Es handelte sich nicht um die Art von Aufregungsschlaflosigkeit, die sie in der Vergangenheit vor Prüfungen schlecht hatte einschlafen und zu früh aufwachen lassen. Diese neue Schlaflosigkeit war vielmehr das Spinnrad, auf dem sie ihre diffusen Gedankenbausche zu einem Garn verspann, das bis in die Morgendämmerung reichte. Verfangen in dem Knäuel aus Fragen und Nichtantworten, strauchelte sie mit Kopfschmerzen in den Tag, nahm zwei Aspirin und teilte der Redaktion mit, dass sie vorerst im Homeoffice bleiben würde.
Stumpf stromerte sie durch die Wohnung. Starrte aus dem Fenster. Kauerte sich auf dem Bett zusammen. Nahm Nicks Foto von der Pinnwand, drückte es an ihre Brust und weinte. Nur ein Mal ging sie zum Vorratsschrank in der Küche und nahm sich einen Keks. Die Appetitlosigkeit am Anfang und Ende einer Beziehung ist das einzig Verlässliche in der Liebe. Bei der konkreten Vorstellung zu kauen und zu schlucken, zog sich Ellas Kehle zusammen. Sie legte den Keks auf den Küchentisch.
Ein paar Tage vermied Ella den Kontakt zur Außenwelt, duschte wenig und rauchte viel. Ständig checkte sie ihre Nachrichten, immer in der Hoffnung, dass Nick sich noch einmal melden würde. Dass es noch irgendetwas zu sagen gäbe. Doch von Nick kam kein weiteres Wort.
Zugeschwallt wurde sie stattdessen in der Whatsapp-Gruppe, die sich mit der geheimen Planung diverser Hochzeitsüberraschungen für Mareike beschäftigte.
Kann jemand Tanne, Kirschlorbeer oder Buchsbaum fürs Kranzbinden besorgen?
Nehmen wir weiße Schleifen oder lieber weiße Rosen für die Deko?
Ich kann am 15. nicht. Da sind wir im Urlaub. Finden wir einen anderen Termin für den Junggesellinnen-Abschied?
Was halten die Brautjungfern von gelben Kleidern? Das hat Mareike sich gewünscht.
What the fuck! – Gelbe Kleider? Kommentarlos registrierte Ella die Rufe nach ihrer Meinung.
Ella?
Ella, bist du da? Was sagst du dazu?
Ein aufgeregt blinkender Vorwurf auf ihrem Display. Entnervt warf Ella ihr Handy auf die Wolldecke zu ihren Füßen.
Sie hasste übertrieben zelebrierte Junggesellinnen-Abschiede und Brautjungfern, die mit einer Welle Halloween-Kürbisse aus Amerika nach Deutschland geschwappt waren. Und in dieser Phase, da sich ihr Leben weit von Hochzeiten und sonstigen Zukunftsplänen entfernt hatte, steigerte sich ihre Abneigung bis hin zur Kotzgrenze. Der bloße Gedanke an die Hochzeit – sogar Hochzeiten überhaupt – machte sie aggressiv. Und wenn eine Hochzeit schon im wortwörtlichen Sinne die Hoch-Zeit war, was sollte danach noch kommen als ein beständiger Sinkflug? Abrupt stand Ella auf, nahm ihre Zigaretten und stapfte auf Socken durch die alte Werkstatt-Tür nach draußen, um sich auf die kleine Holztreppe im Hinterhof zu setzen.