»Hey, Ella!« Ihr Nachbar Marte hockte vor seiner Tür auf dem Betonpflaster und öffnete nacheinander mehrere Farbtöpfe.
»Hey.« Ella sah kurz auf ihre Füße, zuckte mit den Schultern und ging auf Socken zu ihm. »Neues Projekt?«
Vor Marte lag ein verwittertes Sprossen-Fenster mit rostigen Griffen. Die drei Glasscheiben waren noch völlig intakt und offenbar frisch geputzt. Daneben eine Palette, auf die er gerade hellgraue Farbe fließen ließ.
»Arbeitstitel: Durchblick.« Marte legte den Kopf in den Nacken und sah in Ellas Gesicht. »Mehr weiß ich noch nicht.«
»Könnte ich auch gebrauchen.«
Der für Ella ungewohnt bittere Tonfall überraschte Marte. Auch die fahrige Art, wie sie sich eine Zigarette ansteckte, war so gar nicht typisch für sie.
»Willst du eine?« Ella hockte sich neben Marte und hielt ihm die Schachtel hin.
»Gerne.« Martes Zeigefinger und Daumen waren an den Spitzen grau, die Farbe noch feucht, weshalb er die Zigarette etwas ungelenk mit Mittel- und Ringfinger aus der Schachtel angelte. Weil Ella lächelte – zum ersten Mal, seit sie aus der Tür getreten war –, wischte Marte den Farbklecks, den sein Zeigefinger beim ersten Zug spürbar feucht über seiner Oberlippe hinterließ, nicht weg. »Was meinst du damit? Dass du Durchblick gebrauchen könntest?«
»Alles gerade ein bisschen verworren bei mir.«
Marte betrachtete Ellas zur Fensterscheibe gesenkten Augenlider und den dunkelbraunen Wimpernkranz, der die perfekte Form einer Mondsichel hatte. Er klemmte sich die glimmende Zigarette zwischen die Lippen, nahm den dicken Borstenpinsel und schrieb in hellgrauer, auf dem Glas fast transparent wirkender Farbe: DURCHBLICK FÜR ELLA. Je ein Wort auf jede Scheibe.
Erst beim zweiten L des dritten Wortes kapierte Ella.
Marte schob den Fensterflügel zu ihr rüber. »Für dich.«
»Wow. Das ist echt cool. Aber … so hatte ich das doch nicht gemeint.«
»Weiß ich. Trotzdem.« Marte stand auf. »Drink?«
Mit einer Mischung aus Berührtheit und Irritation strich Ella mit der flachen Hand über den Fensterrahmen. »Vielen Dank. Das ist echt toll.«
»Drink?«, fragte Marte erneut.
»Was hast du denn da?«
»Was möchtest du?«
»Alkohol?« Ella verzog vage das Gesicht.
Er brachte Gin Tonic.
Nach dem zweiten Drink und nachdem Marte nach Nick gefragt hatte, fing Ella an, zu erzählen. Nichts davon kommentierte Marte. Bei sich dachte er allerdings, dass Nick schon immer ein egozentrisches Arschloch gewesen war. Im Verlauf des vierten Gin Tonics, Ella hatte inzwischen eine neue Zigarettenschachtel aus ihrer Wohnung geholt, Taschentücher von Marte angenommen und seinen um ihre Schultern gelegten Arm als Trost zugelassen, lallte sie: »Und jetzt muss ich alleine zu dieser scheiß Hochzeit.« Sie brauchte eine Weile, bis sie ihr Schluchzen in den Griff bekam. Nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte, schnäuzte sie ins Taschentuch und räusperte sich mit dem Fazit, dass sie da nicht alleine hinkönne.
»Klar kannst du.«
»Auf keinen Fall. Erstens hasse ich es, irgendwo alleine hinzugehen. Und zweitens: Sie werden … Schon der Gedanke triggert meinen Fluchtinstinkt. Sie werden einen männlichen Single aus dem Nachbardorf neben mich setzen, der mir stundenlang von seinem verkackten Hobby erzählt oder meint, dass der Klimawandel nur Wetter ist.«
»Quatsch.«
Ella ging im Geiste die Jungs in Mareikes und Dennes Freundeskreis durch. »Sorry, aber du hast keine Ahnung von Dorfhochzeiten.«
»Okay.« Mit dem Fingernagel schabte Marte die angetrocknete Farbe von seiner Oberlippe. »Dann nimm MICH mit.« Er vermied den direkten Blickkontakt und sah auf Ellas Füße, immer noch nur in Socken. Ihre Haarstoppeln auf der nackten Haut zwischen Socken- und Jogginghosenrand hatten sich aufgestellt. Sie fror. Und antwortete nicht. »Das Angebot steht.« Marte stand auf, holte eine Decke aus seiner Wohnung und legte sie Ella um die Schultern.
»Du weißt schon, was das bedeutet? Die machen den ganzen Scheiß. Mit Kirche, Baumstamm durchsägen und Shots kippen bis zum nächsten Morgen.« Es war Ella absolut nicht möglich, sich Marte, der in Berlin aufgewachsen war, auf Mareikes Hochzeit vorzustellen. Andererseits erschien die Option besser, als alleine auf der Hochzeit herumzustehen und Fragen nach Nick zu beantworten. Fragen, die mit Marte an ihrer Seite kaum jemand stellen würde. Und weil er lediglich mit einem unerschrockenen Schulterzucken reagierte, war die Sache besiegelt.
»Abgemacht.« Ella streckte ihre Beine aus und zog, da ihr nun ebenfalls die Haarstoppeln auf ihren Schienbeinen bewusst wurden, die Socken über die Jogginghosen-Bündchen, was sie sogleich ärgerte. Ja. Auch Frauen hatten borstige Haare an den Beinen. Selbsthass kniff in ihre Eingeweide. Einer, der weit über Beinhaare hinausging. Der sie in einem sekundenschnellen Wurf ihre ganze Minderwertigkeit spüren ließ. Nicht einmal zu der beschissenen Hochzeit konnte sie alleine gehen. Resigniert stieß sie Luft durch die Nase. »Bleibt nur noch Samstag.«
»Samstag?«
»Ein Konzert. Dummerweise habe ich mich regelrecht darum gerissen, den Konzertbericht zu schreiben. Nur, um auf die Gästeliste zu kommen. Und da stehe ich jetzt drauf. Plus eins. Was cool war, als ich noch davon ausging, dass Nick mitkommt.« Sie hasste den Gedanken, sich einsam mit ihrer Kamera durch die Menge schieben zu müssen. »Aber alleine …« Wie arm war das denn, sich vor Marte so zu outen? Ella knetete ihre Fußspitzen mit den Händen. »Hast du vielleicht Lust, mitzukommen?«
Marte wusste die Antwort schon, bevor er in einem Kopf-Comic im Zeitraffer verschiedene Szenarien durchlief, sich in Züge springen sah und mehrmals die Orte wechseln. Doch er hätte direkt das Beamen erfinden müssen, um den Geburtstag seiner Mutter mit Ellas Konzert zu kombinieren.
»Lust schon. Aber Samstag passt leider gar nicht.« Er wünschte, Ella würde wahrnehmen, wie riesig sein Bedauern war. »Samstag feiert meine Mutter ganz groß ihren Geburtstag in Berlin.«
»Oh, na klar. Kein Ding.« Mit zusammengepressten Lippen imitierte Ella ein Lächeln. »Welche von beiden?«
»Paula. Die leibliche. Sie steht auf große Feste. Wegbleiben ist keine Option.«
»Nein, auf gar keinen Fall. Aber war eine Frage wert.« Ella fühlte sich, als würde am Ende einer rauschenden Party das Licht angeknipst, während sie selbst gerade erst den Mut gefasst hatte, sich auf der Tanzfläche der Musik hinzugeben. Ernüchterung kroch ihr in den Körper.
»Noch eine Zigarette?« Marte hatte seine Schachtel bereits in der Hand.
Ella schüttelte den Kopf. »Ich gehe mal rein. Bin völlig fertig.« Sie bückte sich nach dem Fenster, doch Marte wehrte ab.
»Ich erledige das schon.«
»Danke.« Ella faltete die Decke zusammen und hielt sie Marte hin. »Für alles.«
»Gerne. Jetzt schlaf erst mal. Und wegen Samstag – du bist Journalistin. Du gehst ständig überall alleine hin.«
Klar. Das wusste sie auch. Aber ein Konzert war keine Pressekonferenz. Das war eine andere Situation. Ella kniff die Lippen zusammen.
»Stell dir einfach vor, du gehst in den Supermarkt. Ein stinknormaler Einkauf.«
Es war süß, dass er sie aufzumuntern versuchte. Trotzdem zuckte Ella wenig überzeugt mit den Schultern. »Gute Nacht.«
»Schlaf gut.« Marte sah ihr nach und verfolgte das An und Aus der Zimmerbeleuchtung in Ellas Wohnung, bis sie eine halbe Stunde später das letzte Licht ausgeknipst hatte.
Am nächsten Morgen, Ella war erneut in aller Frühe aufgewacht, stand das Sprossenfenster vor ihrer Hintertür. DURCHBLICK. An einem der verrosteten Griffe baumelte eine Karte. Eine mit Aquarell kolorierte Federzeichnung, die Marte noch in der Nacht angefertigt haben musste. Ella betrachtete das hellgrüne – wahrscheinlich in Anlehnung an ihren grünen Pullover – Strichmenschlein mit Einkaufswagen, das auf der linken Kartenhälfte in einer scheinbar nicht endenden Menschenschlange vor der Supermarktkasse stand. Schräg über die Szene zog sich das Wort SUPER-MARKT. Auf der rechten Seite der Karte tanzte das gleiche Strichmenschlein in einer angedeuteten Menschenmenge vor einer Bühne, wobei quer über dieser Kartenhälfte das Wort KONZERT stand. Rechts oben in die Ecke hatte Marte seine Signatur gesetzt. Schon seine geschwungene Schrift, schwer lesbar und dennoch einer ästhetischen Formgebung folgend, glich einem Kunstwerk. Ella drehte die Karte um. Sie brauchte eine Weile, bis sie die Nachricht entziffert hatte: Ella unter Menschen.