Die Häuserzeile mit dem Tattoo-Studio lag in einem Viertel, in dem lange niemand wohnen wollte. Mittlerweile rissen sich alle darum, hier ein egal wie winziges Zimmer für übertrieben viel Geld zu ergattern. Die Häusereingänge waren überwiegend mit Graffitis besprüht und die Haustüren mit Aufklebern, Plakaten und Postkarten beklebt.
Auf Selle wartend, zündete sich Ella eine Zigarette an und betrachtete die alten Single-Cover, mit denen jemand im Eingang neben dem Tattoo-Laden die Glasscheiben von innen verklebt hatte. Ebenso wie sie es ursprünglich in ihrer Wohnung geplant hatte, bevor Nick meinte, sie würde sich dadurch den Blick nach außen vorenthalten. Ob hier, hinter den Beatles, Vicky Leandros und Jürgen Drews jemand wohnte? Jemand wie sie? Eine Person, die sich scheute, anderen einen Blick in ihr Leben zu gewähren? Die sich schützte vor diesen Blicken ins Intimste? Das immerhin hatte sie Nick zu verdanken: den freien Blick auf die Straße. Und dass sie sich nicht hinter Heintje und Abba versteckte.
Die meisten Cover kamen Ella bekannt vor. Mareikes Mutter bewahrte die gleichen alten Singles in einem Album aus orangefarbenem Stoff auf. Frühstückstellerkleine Schallplatten in Plastikhüllen. Für ein Fotoalbum hatte Ella es damals gehalten, als Mareike ihr die Sammlung wie ein Heiligtum in den Schoß gelegt hatte. Da war sie fünf Jahre alt gewesen. Fünf. Jahre.
War jetzt immer alles was mit Nick? Sogar die verkackte Fünf?
Ella schlenderte die paar Schritte zum Eingang des Tattoo-Studios zurück und versenkte ihre erst halb aufgerauchte Zigarette im Sand des Stand-Aschenbechers vor der Tür, als diese sich von innen öffnete. Sie erkannte Lynn sofort. Das Hals-Tattoo, ein filigranes Muster, das sich wie eine aufwendig gewirkte Kette bis in den Ausschnitt ergoss, war unverwechselbar. Ebenso der extrem kurze Pony im Kontrast zu ihrem lang über die Schultern fallenden schwarzen Haar.
»Hey«, sagte Lynn, »ich hab dich hier draußen rauchen sehen. Du hast gleich einen Termin bei mir, richtig?«
»Den Doppeltermin, genau. Ich warte noch auf Selle.«
Lynn hielt weiter die Tür geöffnet. Aus dem linken Ärmel ihres Langarm-Shirts kroch ein Schlangen-Tattoo bis zu ihrem Mittelfinger. »Komm gerne mit nach hinten. Ich wollte sowieso noch eine rauchen, dann können wir uns schon ein bisschen austauschen.«
Sie führte Ella durch den Empfangsbereich des Studios zur Hintertür, vor der sich eine zur Terrasse umgenutzte Laderampe erstreckte. Auf einem runden Blechtisch lagen eine Tabakpackung und ein kleines Buch, das Ellas Aufmerksamkeit auf sich zog. Chimamanda Ngozi Adichie: We Should All Be Feminists.
»Ein erhellender Text«, sagte Lynn. »Möchtest du Kaffee? Der Automat ist kaputt, aber ich habe Filterkaffee mit Pflanzenmilch.«
»Gerne.«
Lynn ging zurück ins Studio. Ella hörte Geschirr klappern. Sie nahm das dünne Buch im Pocket-Format und drehte es um, sodass sie den Klappentext lesen konnte. Es waren nur wenige Sätze auf Englisch. Ein Zitat der Autorin, das sich mit dem Traum einer faireren Welt und glücklicheren Menschen beschäftigte. Drei Wörter, die sich auf Männer und Frauen bezogen, hallten wie ein Echo in Ellas Kopf.
Truer to themselves. Truer to themselves …
»Ich habe es wahrscheinlich schon zehn Mal gelesen.«
Lynn stellte zwei bauchige Keramiktassen auf den Tisch. »Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Da bist du ein Alien, wenn du das Wort Feminismus nur aussprichst.« Sie griff nach der Tabakpackung.
Ellas Gedanken sprangen automatisch zu Denne.
Ob sie jetzt etwa auch zu einer von diesen unrasierten Feministinnen mutieren würde, hatte er eine Bemerkung von ihr zur Gender-Pay-Gap kommentiert.
»Ich kann mir die Beine rasieren UND für geschlechtergerechte Löhne sein«, hatte sie geantwortet, die Diskussion aber nicht weitergeführt. Wäre sie true to herself gewesen, hätte sie argumentiert. Ihn nicht so leicht mit dem Spruch durchkommen lassen.
Wissend verzog Ella ihre Miene. »Same.« Mit viel zu großer Verzögerung wurde sie, da sie sich an diese Sache erinnerte, wütend. Nicht auf Denne. Sondern auf sich. Und darauf, dass weibliche Körperbehaarung überhaupt jemals ein Thema in der Gesellschaft geworden war.
»Also auch ein Landkind?« Lynn zupfte ein Blättchen aus der Packung und verteilte Tabak darauf, den sie mit den Zeigefingern festdrückte und routiniert in Form rollte. Ihre Zunge glitt über den Klebestreifen, sodass Ella ihr Zungenpiercing sehen konnte.
»Inzwischen wohne ich hier in der Stadt. Aber wie heißt es so schön: Du kannst das Dorf verlassen, aber das Dorf verlässt dich niemals.«
»Ist so. Ich war neulich bei meinen Eltern und habe mich abends mit ein paar Leuten aus der Schulzeit getroffen.
Ein ganz normaler Abend. Aber mittendrin haben sich meine Tattoos plötzlich anders angefühlt als in der Stadt. Also ich meine – ich habe wirklich viele.« Lynn legte ihre fertig gedrehte Zigarette auf den Tisch und schob die Ärmel ihres T-Shirts hoch. »Nicht, dass ich mich dafür geschämt hätte. Aber es fühlte sich an, als würden sie anders wahrgenommen. Abschätzig beäugt. Als wäre ICH anders. Nicht passend. Zuviel. Keine Ahnung, wie ich das nennen soll.«
»Paradiesvogel.« Ella tastete in ihrer Jackentasche nach den Zigaretten und zündete sich eine an.
»Genau.« Lynn steckte sich die Selbstgedrehte zwischen die Lippen.
»Das Gefühl kenne ich. Sie umarmen und bewerten dich in nur einem einzigen Atemzug.«
»Ist so. Und wenn du dann sowas wie Feminismus sagst«, Lynn deutete mit dem Kinn auf das Buch, »oder …«
»Gender-Pay-Gap«, warf Ella ein und erzählte von ihrem kurzen Wortwechsel mit Denne. »Dass Beinhaare überhaupt von Interesse sind, ist so ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Wir leben in den 2020er Jahren. Gehts’s noch? Und weißt du was das Schlimmste ist?« Aufgebracht nahm Ella einen Zug von ihrer Zigarette. »Dass ich selbst in diesem Muster stecke. Dass ich mich Denne gegenüber äußern muss, ob ich gleichzeitig rasiert und für geschlechtergerechte Bezahlung sein kann. Und dass ich, wie neulich, meine Jogginghose über die Schienbeine ziehe, damit mein Nachbar nicht die Haarstoppeln an meinen Beinen sieht, gleichzeitig aber denke, dass ich zu meinen Beinhaaren stehen sollte. Verstehst du?« Asche fiel von Ellas Zigarette auf den Tisch. Sie nahm den Aschenbecher, hielt ihn an die Tischkante und wischte die Asche mit der Handkante hinein. »Ich denke über meine Beinhaare nach!«
»Wir sitzen alle in Sozialisierungskäfigen. Ich bin ja der Überzeugung, dass die Filmindustrie unseren Blick auf Beinhaare, Oberschenkel, Brüste und Ärsche geprägt hat.«
»Du meinst, Hollywood ist an allem schuld?« Ella lachte auf. »Ist so. Sogar an unserer Vorstellung, wo wir Sex haben und wie wir dabei klingen oder aussehen sollten.«
Die Intensität, mit der Lynn an ihrer Zigarette zog, ließ das Blättchen hörbar knistern. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und stieß langsam den Rauch aus. Manche Erkenntnisse offenbaren sich so überraschend, dass sie körperliche Reaktionen hervorrufen. Ungläubig schüttelte Lynn ihren Kopf. »Vermutlich sogar wie ich rauche.«
Ella, die im Begriff war, ebenfalls einen Zug von ihrer Zigarette zu nehmen und ihren Kopf schon leicht zur Seite geneigt hatte, hielt inne. »Fuck.«
»Genau. Fuck.«
Sie schwiegen einen Moment.
»Hast du früher auch geübt?«, fragte Ella. Mit Esma hatte sie eine Zeit lang den herumliegenden Schachteln ihres Vaters einzelne Zigaretten entnommen und das Rauchen regelrecht einstudiert. Zuerst war nur Nichthusten das Ziel gewesen. Anschließend hatten sie sich um Coolsein bemüht.
»Ja klar. Aber rückblickend – wie dumm ist das denn?« Lynn drückte ihre Zigarette aus. Wie dumm war Rauchen überhaupt? Ungesund. Und wie absurd für eine, die beim Einkauf Healthy Food im Sinn hatte. Und doch. Als Ventil erschien es Lynn immer noch besser als das Ritzen. In selbstquälerischen Akten hatte sie sich in ihrer Jugend Narben zugefügt, die tiefer gingen als das, was an ihrer Hautoberfläche zu sehen war. Nur sie kannte noch die Stellen. Die dunkelroten Striche auf der Haut. Alle anderen sahen nur die Tattoos. »Okay.« Sie atmete tief durch. »Wollen wir schon mal die Einverständniserklärung durchgehen?«
»Ist langsam Zeit, oder? Ich weiß gar nicht, wo Selle bleibt.« Ella sah auf ihr Handy. Sie hatte eine Nachricht von Selle. »Ihre Bahn hat Verspätung.«
»Ich habe nach euch noch einen Termin. Vielleicht fangen wir dann schon mit deinem Tattoo an? Du kannst ihr ja schreiben, dass sie einfach reinkommen und hier warten kann.«
Auf der Liege spürte Ella, wie ihre Handflächen feucht wurden. Bevor sie in diesen klinisch sauberen, jedoch freundlichen Raum gegangen waren, hatte sie verneinend den Kopf geschüttelt, als Lynn nach Medikamenten- und Drogeneinnahme fragte. Sie hatte deren Ausführungen über eventuelle Nachblutungen sowie mögliche Kreislaufprobleme im Laufe der Sitzung angehört und schließlich unterschrieben.
Lynn zog ihr T-Shirt aus, sodass sie nur noch ein schwarzes Top trug, schlang ihre Haare zu einem Knoten über dem Wirbel am Hinterkopf zusammen und befestigte sie mit einem Haargummi. »Bereit?«
»So bereit, wie eine sein kann, die Angst vor Schmerzen hat.«
Ella kniff die Augen zu, als Lynn begann, mit der Tä-towiermaschine über ihre Brust zu fahren. Und während Lynn mit einem Tuch tupfte, neue Striche zog, tupfte und wieder ansetzte, war Ella bemüht, sich gedanklich wegzubeamen. Doch so sehr sie sich auch Strände und süße Hundewelpen vorzustellen versuchte, landete sie immer wieder bei der Erinnerung an Wulf. Unter den Nadelstichen schwitzend, zwang Ella sich, ihre zusammengebissenen Kiefer zu lockern und dem Schmerz Raum zu geben. Sie öffnete die Augen und konzentrierte sich auf die Blumenmuster, Punkte, Striche und Linien auf Lynns Haut. Doch auch als Lynn »fertig« sagte, mit einem feuchten Tuch über das frisch gestochene Tattoo wischte und Ella einen Spiegel hinhielt, liefen dieser noch die Tränen aus den Augenwinkeln.
»Das Motiv kommt mir total bekannt vor. So eine Schwalbe habe ich schon mal gestochen.« Lynn legte den Kopf schief und betrachtete ihr Werk. Mehr als ihre Augen erinnerten sich jedoch ihre Hände. Bereits bei der Arbeit hatte sie gespürt, dass sie die Linien schon einmal gezogen hatte. »Das Tattoo war größer. Aber nahezu identisch.«
Zweifellos, das wurde Ella in diesem Moment endgültig klar, hatte Lynn keine Erinnerung daran, dass sie Wulf damals begleitet hatte. Und so war Ella schon im Begriff, den Zusammenhang aufzuklären, als Lynn sagte, dass der Auftrag besonders gewesen sei.
»Der Kunde hatte die Schwalbe selbst gezeichnet und schon am Telefon gefragt, ob ich es hinbekomme, sie so flattern zu lassen, wie die Brüste seiner Freundin auf seinem Brustkorb beim Sex.«
Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete Ella im Spiegel ihre linke Brust, auf der eine kleine Schwalbe flatterte.
Selle saß an dem Tisch, an dem zuvor Ella mit Lynn gesessen hatte, und rauchte. Sie sah krass verändert aus.
»Habe mir die Haare gekürzt.«
Es war typisch Selle, fand Ella, dass sie gekürzt anstatt geschnitten sagte. Allerdings erfasste selbst gekürzt die Sache nicht annähernd. Selles Frisur, sofern diese Bezeichnung überhaupt in Frage kam, erinnerte Ella an ihr sechsjähriges Ich, das sich beim Kaugummiblasenmachen die Haare unterhalb der Ohren verklebt und gemeint hatte, diesen Unfall mit der Küchenschere und ein paar beherzten Schnitten vertuschen zu können. Selles Schere schien zudem Färber-Fähigkeiten gehabt zu haben. An sämtlichen unregelmäßig gesetzten Schnitten, mal auf Kinnlänge, mal oberhalb der Ohren oder im schiefen Dreieck auf der Stirn, waren die untersten Spitzen in einem dunklen Türkis gefärbt. Die Scheißegal-Haltung hatte Selle mit ihrem toten Bruder gemeinsam. Und Ella beneidete sie darum.
»Und? Welche Stelle?«, fragte Selle.
»Arsch?«, scherzte Ella.
»Du bist echt ein Freak. Na gut, verstanden. Wir präsentieren es uns gegenseitig hinterher.« Selle drückte ihre Zigarette aus. »Dann bin ich jetzt dran.«
»Lynn«, Ella zeigte auf das Büchlein auf dem Tisch, »darf ich darin lesen, solange ich warte?«
»Na klar.«
Truer to themselves … Auf Ellas Brust brannte das Tattoo. Und in ihrem Inneren die Frage, ob sie true to herself war. Sie zündete sich eine Zigarette an und las.
Selle kam mit freiem Oberkörper zurück zur Laderampe. Auf ihrer linken Brust wölbte sich die Folie über der exakten Nachbildung von Wulfs Schwalbe. Ein Flügel erstreckte sich bis in den Schulterbereich.
Kommentarlos zog Ella Pulli und Top aus.