Der Wunsch, einen Blick in die verborgene Gefühls- und Gedankenwelt eines anderen Menschen zu werfen, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Wie oft hatte Ella sich gewünscht, nur noch ein einziges Mal mit Wulf sprechen zu können, ihn noch ein einziges Mal zu befragen, um zu erfahren, was das damals eigentlich gewesen war, zwischen ihnen beiden. Dass ihr nun ein anekdotisch dahingeplauderter Satz tatsächlich ein Teilchen seines Seelenlebens zugespielt hatte, verstörte sie. Wenngleich sie auch andere Möglichkeiten in Betracht zog, hatte sie kaum Zweifel daran, dass er IHRE Brüste gemeint hatte. Und weil das so war, sagte sie zu Selle, dass sie, obwohl das ihr Plan gewesen sei, noch nichts essen könne.
»Du kannst dir ja trotzdem was holen«, bot Ella an. »Aber ich bin noch so angespannt, dass ich keinen Bissen runterbekomme.«
»Kein Ding«, meinte Selle. »Wir können ja einen Kaffee trinken. Vielleicht in dieser Straßenbahn, von der du mir erzählt hast. Und dann fahre ich. Bin auch echt erschöpft.«
Die Linie 5 wirkte zu dieser Stunde malerisch verträumt. Der Feierabendverkehr hatte sich gelegt und aus den Linden links und rechts der Straße war deutlich das Zwitschern der Vögel zu vernehmen. Ellas Besuche bei Najah hatten sich in letzter Zeit gehäuft. Bei gutem Wetter hatte sie sich sogar mit dem Laptop vor den Kiosk gesetzt und geschrieben, was nicht nur mit ihrer wachsenden Zuneigung zu Najah im Zusammenhang stand. Vielmehr hatte es sich Ella zur Challenge gemacht, das Alleinsein an Orten zu üben, die sie zuvor nur in Begleitung aufgesucht hätte. Insofern betrachtete sie das Arbeiten vor dem Kiosk als Café-Besuch ohne Begleitung, obwohl sie in Najahs Nähe keineswegs alleine war. Tatsächlich war Najah selbst es gewesen, die ihr den Vorschlag gemacht hatte, den Kiosk als Übungsraum zu betrachten.
»Es ist leichter, die Angst kleinschrittig zu besiegen«, hatte sie gemeint. »So verwandeln sich Herausforderungen mit der Zeit in Gewohnheiten.«
Die wenigen Male der Überwindung hatten dazu geführt, dass Ella sich sogar vor einigen Tagen mit einer Art von Stolz in ein ihr fremdes Café gesetzt und alleine ein Stück Kuchen gegessen hatte. Es war ihr absurd vorgekommen, sich für das Verspeisen eines kalorienhaltigen Teig-Teilchens selbst zu feiern, doch am Ende des Tages hatte sie das Erlebnis unter der Rubrik Glückliche Momente/Bemerkenswerte Erfolge in ihrem Notizbuch festgehalten und befunden, dass Alleinsein nichts mit Einsamkeit zu tun haben musste.
Najah war hinter dem Tresen mit dem Ausräumen der Geschirrspülmaschine beschäftigt, als Ella und Selle eintraten. Sie blickte auf und bemerkte noch das verschwörerische Grinsen, bevor die beiden wortlos ihre linken Brüste entblößten, indem sie sich synchron ihre Oberbekleidung von der Schulter zogen. Augenblicklich überkam Najah der Drang, die Tür zu schließen. Ihr brach der Schweiß aus. Höflich rang sie sich ein Lächeln ab. Trotz der Folie waren die gleichen, jedoch unterschiedlich großen Motive mühelos zu erkennen. »Schwalben«, brachte sie mit rauer Stimme hervor.
Selle war die Erste, die betreten ihr Hemd wieder zurechtzupfte. Bis vor wenigen Sekunden hatten sie und Ella ihre Anspannung, von der sie meinten, der Tätowier-Schmerz habe sie verursacht, albernd abgeschüttelt und waren auf dem Weg zu Najah auf diese kindische Idee gekommen. Doch jetzt merkte Selle deutlich, dass ihre sonderbare Präsentation Najah stresste.
Auch Ella bedeckte wieder ihre Schulter. »Das ist Selle«, sagte sie zu Najah. »Ich habe dir ja schon von ihr erzählt.«
Obwohl Najah Selle freundlich begrüßte, hatte Ella sich das Kennenlernen der beiden vollkommen anders vorgestellt. Sie war davon ausgegangen, dass Najah die Vertrautheit, mit der sie Ella stets empfing, auch Selle zukommen lassen würde.
Dass ihre Begegnung so stockend verlief, irritierte alle drei gleichermaßen. Erst, als sie vor die Tür traten, um zu rauchen, kamen sie etwas ins Plaudern, sodass Ella und Selle ihre Lockerheit zurückgewannen und schilderten, wie es zu dem Tattoo gekommen war. Was Lynn über die flatternde Schwalbe gesagt hatte, sparte Ella allerdings aus. Noch war sie zu geschockt, um dieses Wissen mit anderen zu teilen. Wie hatte sie einfach alles nicht kapieren können? Und wie hatte sie eine derart egozentrische Person sein können? Ihr fiel auf, dass sie in letzter Zeit fast mehr über Wulf nachgedacht hatte als über Nick.
Najah zog an ihrer Zigarette, inhalierte und ließ den Rauch in den beginnenden Abend gleiten. »Khalil hatte auch Tattoos.« Die Furcht, die sie ständig deswegen hatte ertragen müssen, saß immer noch tief in ihrer DNA. Ihr Sohn war nicht der Einzige gewesen, der sich im Zuge des Arabischen Frühlings hatte tätowieren lassen. Es war Mode geworden. Auch in Syrien. Ein Zeichen des Aufbruchs. Und ein gewagtes Statement. Wer ein Tattoo trug, war vor den drakonischen Strafen des IS nicht sicher gewesen. »In Syrien war das gefährlich, wisst ihr. Tattoos gelten als unreligiös. Haram. Nicht selten wurden Leute dafür verhaftet.« Najah wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und hob ihre knapp schulterlangen Haare etwas an. »Es war Khalils größtes Glück, sie in Deutschland offen tragen zu können.« Sie zog erneut an ihrer Zigarette, während sie ihn vor sich sah, wie er, sogar an kalten Tagen, in diesen ärmellosen T-Shirts herumgelaufen war.
Selle fühlte sich unwohl. Sie wusste nicht, ob es okay war, Fragen zu diesem Khalil und seinen Tattoos zu stellen. Oder ob es, und so schien es ihr, eher Wunden aufreißen würde. Schweigend hielt sie sich an ihrer Zigarette fest und schielte auf die Uhr im Inneren des Kiosks. »Ich glaube, ich muss gleich mal los, wenn ich den nächsten Zug erwischen will.«
»Möchtet ihr nicht noch einen Kaffee trinken?« Es war Najah unangenehm, dass sie nichts angeboten hatte.
»Nein danke«, sagte Selle. »Ich muss echt los.«
»Dann wenigstens ein paar Nüsse für unterwegs. Nur einen Moment.« Najah drückte ihre Zigarette aus, eilte in den Kiosk und füllte zwei große Papiertüten mit einer Nussmischung.
Obwohl Ella gerne mehr über Khalil erfahren, die verunglückte Begegnung von Najah und Selle gerettet und mehr Zeit mit Selle verbracht hätte, war sie froh, als sie sich zu Hause endlich allein in die Kissen in ihrer Fensterecke sinken ließ. Um sich herum hatte sie ihren Laptop, das Notizbuch, die Nüsse und ein Glas Rotwein drapiert, wobei sie lediglich den Wein anrührte. Sie trank in kleinen Schlucken und spürte dem Brennen auf ihrer Brust nach, das sich auf schmerzliche, aber absurderweise richtige Art mit dem Wundbrand im Inneren ihrer Brust vereinigte.
Nick hätte das Tattoo gefallen. Wenngleich er es wohl niemals für möglich gehalten hätte, dass Ella sich eines würde stechen lassen. Sie widerstand dem Drang, es auf Instagram zu posten, damit er es sehen würde. Er war immer noch überall. In ihren Gedanken. Und in ihrer Wohnung. Damit musste Schluss sein. Und wenn sie ihn schon nicht aus ihrem Gehirn schneiden konnte, so stand es ihr immerhin frei, ihn aus ihren Räumen zu entfernen. Mit dem Tattoo, das merkte Ella deutlich, hatte eine Transformation eingesetzt. Und wie jede innere Verwandlung, verlangte auch die ihre nach Ausdruck. Das Tattoo war ein Anfang gewesen. Doch jetzt explodierte die gewaltige Lust auf Veränderung förmlich in Ella. Anstatt Nicks Psyche sezierte sie bei einem zweiten, dritten und vierten Glas Wein sowie nahezu einer halben Schachtel Zigaretten ihre eigene. Sie gestand sich ein, dass sie ihm tatsächlich ein bisschen hinterhergestolpert war. Und stellte fest, als sie ihren Blick prüfend durch die Wohnung schweifen ließ, dass ihr der klobige rote Ohrensessel aus Leder, den Nick nach einer Haushaltsauflösung mitgebracht hatte, nicht gefiel. Einige ihrer Möbel waren Beute seiner Jobs gewesen. Umzüge und Haushaltsauflösungen sicherten sein Überleben, während seine Druckerkunst und die Arbeit für den Klimaschutz sein Gewissen und seinen Stolz retteten. Jedenfalls hatte er häufig Errungenschaften von seinen Möbelpacker-Jobs mitgebracht, wobei er nicht nur mit dem Ohrensessel, sondern auch mit anderen Gegenständen knapp daneben gelegen hatte. Ja, sie hatte sich einen ähnlichen Sessel gewünscht. Allerdings keinen derart monströsen mit latentem Uringeruch. Außerdem hatte er nicht rot, sondern cognacfarben sein sollen. Warum also sollte sie, da Nick vermutlich niemals mehr Gast in ihrer Wohnung sein würde, noch die Möbelstücke fremder Menschen ertragen, die nur so ähnlich aussahen wie das, was sie gerne gewollt hätte. Sicher, sie waren kostenlos und secondhand gewesen. Versehen mit dem trendenden Siegel der Nachhaltigkeit. Scheiß drauf! Ella leerte ihr Glas und in einer schweißtreibenden Aktion zerrte sie den unhandlichen Ohrensessel sowie einen Kleiderständer aus Kupferrohr – und eben nicht aus Stahlrohr, wie sie ihn sich vorgestellt hatte – vor die Tür. Bevor sie diese wieder schloss, machte sie ein Beweisfoto, das sie Maschenka und Adamma mit dem Kommentar Eliminierung Nick Part I in ihre Gruppe stellte.
Adamma sendete das Emoji mit den klatschenden Händen in Mittelbraun.
Maschenka schlug einen Bummel über den Flohmarkt vor, um die Möbelstücke zu ersetzen, und fragte, ob Ella und Adamma Lust hätten, übermorgen mit ihr zum Release einer jungen Rapperin im alten Güterbahnhof zu kommen.
Adamma wollte lieber weiter das zweite Buch einer Trilogie lesen, die sie gerade so inhalierte wie andere Leute Netflix-Serien. Doch Ella schrieb Bin dabei und hatte, als sie gegen zwei Uhr nachts ins Bett sank, das Gefühl, auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt zu sein.