Hinterhof

Die Postbotin gab den gefütterten Umschlag, da Ella nicht zu Hause war, bei Marte ab. Seit der Hochzeit hatte er Ella nicht mehr gesehen. Insofern verursachte die bevorstehende Begegnung bei ihm ein diffuses Unwohlsein. Sie trug ein kurzes Trägerkleid und schwarze Plateau-Sandalen, die er noch nie an ihr bemerkt hatte, als sie gegen neunzehn Uhr auf den Hof kam.

Bei Martes Anblick – er saß mit dem Laptop an seinem kleinen Tisch vor der Tür – verringerte Ella abrupt ihr Schritt-Tempo. Zwar hatte sie sich schon ein paar Worte für ein Aufeinandertreffen zurechtgelegt, doch ihr Kreislaufsystem geriet trotzdem aus dem Takt.

»Hey, neue Sandalen?«, fragte Marte, sobald sie vor ihm stand.

Das unverfängliche Thema ließ Ella aufatmen. »Gestern gekauft. Zu heiß für die anderen und in Flipflops gehe ich nicht gerne zu Terminen.« Schuhe waren im Sommer immer ein Problem. Ella vermied es, ihre Füße zu zeigen. Sie schleppte das Thema schon seit ihrer Kindheit mit.

»Breite Füße sind bei Mädchen ja nicht so schön«, hatte eine Schuhverkäuferin einmal Ellas Mutter zugeraunt und Ella hatte es nie vergessen. Zumal sich die Hinweise darauf, dass ihre Füße nicht dem absoluten Schönheitsideal entsprachen, gemehrt hatten. Mareike nannte sie Entenfüße und deren Cousine, eine Physiotherapeutin, hatte mal, als Ella barfuß und mit ausgestreckten Beinen am Teich gesessen hatte, einfach so nebenbei angemerkt, dass aus ihren leicht nach innen geneigten großen Zehen später definitiv ein Hallux valgus werden würde. Seitdem beobachtete Ella argwöhnisch die Entwicklung ihrer großen Zehen. Immer mit dem Bild ihrer Großmutter vor Augen, deren Zehen krüppelig übereinander gewachsen waren.

»Sehen cool aus.« Dass an der Achillessehne die übliche Schlaufe heraushing und die neuen Sandalen nur eine luftig geschlitzte Variante ihrer Boots waren, amüsierte Marte. Er stand auf, um den Umschlag zu holen. »Ich habe Post für dich.«

Erstaunt über den Absender, nahm Ella den Großbrief entgegen. »Danke.«

»Kein Ding.« Marte setzte sich wieder.

Da er Ella nicht wie sonst zu einem Getränk oder einer Zigarette einlud, blieb sie unschlüssig vor ihm stehen. Auf die Schnelle versuchte sie, seine Stimmung zu analysieren. Er schien weder sauer noch besonders mitgenommen zu sein. Er war – und das tat mehr weh als jede Reaktion, die sie sich ausgemalt hatte – neutral, sachlich oder sogar, was Ella wesentlich heftiger niederschlug, unterkühlt. Mit voller Wucht traf sie die Vorstellung, ihn als Freund verloren zu haben.

Seufzend lehnte sich Marte, der das Mienenspiel in Ellas Gesicht verfolgt hatte und die Tränen schon an ihrer Lidunterkante stehen sah, zurück.

»Eine rauchen?«, fragte er wie einer, der etwas, das er sich vorgenommen hat, wieder aufgibt.

Die Wahrheit war, dass Marte keine Lust gehabt hatte, sich von Ellas Anwesenheit in seinem sowieso schon wunden Herzen herumstochern zu lassen und sich deshalb nicht unbedingt auf ein Gespräch einlassen wollte. Die Wahrheit war aber ebenso, dass er nicht genug von Ella bekommen konnte und es echt beschissen war, in diesem Zwiespalt zu stecken, aus dem noch nie ein unglücklich liebender Mensch je herausgefunden hatte.

Ella atmete auf. »Ja. Gerne.« Sie stellte ihren Rucksack auf die Pflastersteine, wobei sie zwei kleine gelbe Blumen bemerkte, die sich ein Leben in einer Fuge erkämpft hatten, setzte sich und zündete sich mit Martes Plastikfeuerzeug, das auf dem Tisch lag, eine Zigarette an. Mehr gab es nicht zu tun, um sich weiter um das Gespräch herumzudrücken. Sie war dran. Das war deutlich. So, wie Marte sie abwartend ansah. Noch einen tief inhalierten Zug. Sie schaute dem Rauch hinterher. »Bist du sauer auf mich?«

Marte stieß einen dieser Schnaufer aus, die im Bauchraum beginnen, mit einem Knacklaut durch die Kehle laufen und sich durch die Nase entladen. »Worauf könnte ich sauer sein? Wenn es DAS wäre.«

»Was ist es dann?«

»Ach komm schon, Ella. Das wissen wir doch beide.«

Sie presste die Lippen aufeinander. Ja, das wussten sie beide. »Und nun?«

Es zeugt von wahrer Größe, im Zustand empfindlichster Zerbrechlichkeit die Kraft aufzubringen, einen weniger beeinträchtigten Menschen zu stärken. Ella sah so unglücklich aus, dass Marte sich zu ihr beugte und sie tröstend umarmte. »Bleibt alles so entspannt, wie wir es kennen.« Aus dem Augenwinkel sah er den Krater in Ellas Zigarettenfilter, während sie im Blindflug versuchte, um seine Umarmung ebenfalls beidarmig zu erwidern, die Kippe in den Aschenbecher zu klemmen. Der ungelenke Akt brachte beide zum Lachen, was derart befreiend war, dass Marte nun doch fragte, ob Ella Lust auf ein Getränk habe.

»Keinen Alkohol heute«, stöhnte sie.

In der Küche mixte er ihr den alkoholfreien Bittersweet Sunset, den sie so gerne mochte, schüttete einen großzügigen Schuss Gin in seinen und presste den Saft einer halben Orange einhändig über den Gläsern aus. Die Orangenschale platzte und das Gefühl der kaputten Frucht in seiner Hand ließ unsinnigerweise etwas Druck aus seiner Seele weichen, was Marte beschämte. Als habe er die nichtinihnverliebte Ella zerquetscht, dabei war es nur seine eigene Hoffnung. Oder eben doch bloß die Orange.

Es blieb bei einem Bittersweet Sunset, weil die Entspannung, wie sie sie kannten, noch verschreckt in irgendeinem Winkel hockte. In ihrer Wohnung ließ Ella die Sandalen, die sie für die paar Schritte über den Hof in die Hand genommen hatte, auf den Fußboden gleiten und atmete auf. Noch auf dem Weg zur Toilette – sie hatte schon bei ihrer Ankunft auf dem Hof aufs Klo gemusst – riss sie den Umschlag von Peter auf. Feuerzeugbenzin, ein Kerzendocht und eine grüne runde Dose, kleiner als der Kreis, den Ella mit Daumen und Zeigefinger bilden konnte. Der durchsichtige Deckel gab den Blick auf bleischwarz glänzende Stäbchen frei, die fein sortiert in winzigen Fächern lagen. Ella hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Sie legte alles auf den Waschbeckenrand und las beim Pinkeln die handschriftliche Nachricht auf dem Zettel: Erstausstattung für dein neues Feuerzeug. Viel Freude damit. Anleitung anbei. Peter. Darunter standen drei Links, die sie wenige Minuten später am Küchentisch nacheinander ins Suchfeld ihres Browsers tippte. Ein Erklärvideo zum Auffüllen eines Benzinfeuerzeugs sowie jeweils eines zum Wechseln des Feuersteins und des Dochts. Kein Kerzendocht also. Sie war nicht auf die Idee gekommen, dass ihr neues Feuerzeug regelmäßig eine Wartung benötigen würde, geschweige denn einen neuen Docht. Zu Testzwecken zog sie der Anleitung folgend den Feuerzeugeinsatz aus dem unteren Gehäuseteil, wobei das gleiche ploppende Geräusch wie beim Abziehen der oberen Kappe entstand. Benzingeruch schlug ihr aus der im Hohlraum steckenden Watte entgegen. Mit dem Finger ertastete sie eine leichte Unebenheit auf dem glatten Metall, weshalb sie das Feuerzeug umdrehte und den krakelig eingeritzten Spruch entdeckte. Don’t forget the fire.

Auf der anderen Seite der Stadt saß Peter vor seinem gebrauchten Exemplar und ritzte mit einem kleinen Nagel exakt diese Worte in glattes Metall. Er machte sich keine Illusionen. Diesem neuen Feuerzeug würde nicht die gleiche Nostalgie anhaften, wie dem alten. Der Gedanke daran, dass es von Zeit zu Zeit vielleicht vorkäme, dass er und Ella im selben Moment mit den von ihm gravierten Feuerzeugen eine Zigarette anzünden würden, brachte ihn jedoch zum Lächeln.

Was Ella zuerst sah, als sie am nächsten Morgen erwachte, waren die Konzerthalsband-Hunde von Marte auf der großformatigen Leinwand und – obwohl unsichtbar, so doch für Ella präsent – die darunter verborgen liegenden Worte, die Nick auf die Wand gemalt hatte. Würde sie jeden Morgen beim Aufwachen zuerst an Marte und dann an Nick denken wollen? Vor einigen Wochen schien es ihr eine gute Idee zu sein, sich von Marte ein Bild mit ihren eigenen Konzertbändchen anfertigen zu lassen. Unter den gegebenen Umständen kam es Ella allerdings moralisch verwerflich vor, von ihm so ein großes Geschenk anzunehmen. Zudem hatte sie keine Lust, regelmäßig vor dem ersten Kaffee optisch und mental von ihm oder Nick bestürmt zu werden.

Ella rollte sich in ihrer Bettwärme zusammen. Schon jetzt freute sie sich darauf, am Abend wieder ins Bett zu gehen. Was war falsch mit ihr? Sollte sie sich morgens nicht auf den Tag freuen? Auf das Leben da draußen?

Nick hatte auf ihre partielle Aufsteh-Verweigerung meist mit Sex reagiert. Eine Erweckung, auf die Verlass gewesen war. Ohne Zweifel war Nick ein virtuoser Liebhaber. Er hatte diese Gabe, eine Spannung im Rhythmus zu erzeugen. Wie bei einem guten Song, der sich leise aufbaut, im Energielevel bis zur Ausgelassenheit steigt, manchmal die Tonlage ändert, breite Flächen bietet, im Tempo zunimmt und schließlich ein tosendes Ende findet. Bei dem Gedanken daran schwappte eine Welle der Erotik durch ihren Körper. Ella schob sich die Hand zwischen die Beine und begann, sich zu massieren, wobei ihre Fantasie Kapriolen schlug zwischen Nick, der Szene mit Jonze an der Hausmauer und einer Reihe von lustvollen Bildern, die ihr, wann immer sie masturbierte, Gesellschaft leisteten. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach der Holzschatulle im Weinkisten-Regal neben dem Bett, nahm ihren Rabbit-Vibrator heraus – Adamma hatte ihn ihr mit den Worten empfohlen, dass er in jeder Hinsicht der bessere Liebhaber sei – und schaltete ihn an. Den ersten ernstzunehmenden Orgasmus nach Nick begleitete ein sanftes Surren.