Das ehemalige Kaufhaus, ein hässlicher Klotz, den Ella als optische Beleidigung empfand, sollte zu einem Erlebnisort und einer kulturellen Begegnungsstätte in der City werden. Das Konzept war spannend, die Rede des Stadtdirektors langweilig. Erst durch die Präsentation der Architektin sah Ella das neue Leben auf den weitläufigen Flächen des Kaufhauses vor sich. Kreative, die in Werkstätten arbeiten und ihre Produkte in angegliederten Shops verkaufen würden, Cafés, Events und die Streetfood-Markthalle im Obergeschoss mit Zugang zur Dachterrasse und Smoking Area. Sobald der Stadtdirektor die Presseleute zu einer Begehung des Gebäudes einlud, bei der Projekt-Beteiligte für Interviews zur Verfügung standen, strebte Ella direkt nach oben. Der Gedanke an die Sonne und eine Zigarette auf der Dachterrasse trieb sie an. Schnellen Schrittes überwand sie die stillstehenden Rolltreppen.
Den Buzz Cut erkannte Ella schon von hinten. Noch bevor sich die Frau zur Seite drehte und dadurch auch den Blick auf Nick freigab. Mit dem Hormon-Cocktail eines Schocks in den Adern war Ella im Begriff, die Tür zur Dachterrasse abrupt wieder zu schließen. Für einen Rückzug war es allerdings zu spät. Nick sah ihr geradewegs in die Augen, wendete sofort den Kopf zur Seite, als würde er noch vorgeben können, sie nicht zu sehen, um sie dann doch wieder anzuschauen. Es war nicht mehr zu leugnen, dass sie sich gegenseitig wahrgenommen hatten. Ella zwang sich zu einem Lächeln und hob ihr Kinn zu einer Begrüßung, während sie aus dem Augenwinkel nach einer Interview-Option suchte, um dringende berufliche Beschäftigung vorzuspielen. Vielleicht war es der Mangel an einer entsprechenden Gelegenheit, womöglich aber auch die trotzige Rebellion gegen ihren eigenen Mindfuck, die Ella in letzter Zeit immer häufiger überkam und die sie nun dazu brachte, entschlossen auf Nick zuzugehen.
»Hey, was machst du denn hier? Absolut nicht mit dir gerechnet.« Ihre Umarmungs-Offensive erwiderte Nick ungewöhnlich unbeholfen. Seine sonst so geschmeidigen Bewegungen fühlten sich eckig an. Dabei hatte Ella angenommen, sie wäre es, die unsicher wirken würde.
»Ich bin Ella«, wandte sie sich an die Frau und streckte ihr die Hand entgegen.
»Zita. Hi.« Etwas stimmte nicht bei dieser Begegnung. Das nahm Zita intuitiv wahr, ohne festmachen zu können, was falsch lief. Dennoch fühlte sie sich unwohl.
Mit dem Händedruck grub sich das Metall des Ozean-Rings in Ellas Haut. Von der Stelle an ihrem Mittelfinger, wo der Ring sie berührte, wanderte ein giftiger Schmerz durch ihren Organismus und bahnte sich den Weg bis in ihren Kopf, wo er hasserfüllte Gedanken wie Atommüll einlagerte. Es war viel leichter, den Gemeinheiten und Horrorszenarien das Terrain zu überlassen, als ständig darauf zu achten, liebevoll in die Welt zu blicken und dankbar zu sein. Etwa dankbar dafür, dass sie Zita kennenlernen durfte? Dass Nick für den Ring noch Verwendung gefunden hatte? Fuck! Nein! In ihrem Hirn lief ein Splatter, bei dem Zita den Ring samt Finger verlor, was Ella gleichermaßen Genugtuung verschaffte und erschrak. Und wenn schon sie selbst, ein durch und durch empathisches und friedfertiges Wesen, mit derart finsteren Szenarien jonglierte, dann, so wurde ihr klar, müssten weniger disziplinierte Menschen täglich die Hölle im Kopf durchleben. Was hatte die völlig betrunkene Stefanie neulich vor dem Restaurant über die Mutation ihres Gehirnes gesagt?
Da komme so viel diskriminierende Scheiße raus, dass ich es selbst nicht fassen könne.
Als Zita Ellas Hand wieder freigab, war die Mutation in Ellas Gehirn vollzogen. Wörter wirbelten darin herum, die sie niemals aussprechen würde. Trotz der obszönen Beschimpfungen und der negativen Übermacht in ihrem Kopf, an der, davon war Ella überzeugt, hauptsächlich der Ozean-Ring an Zitas Finger schuld war, hörte sie sich Nicks Erklärung an, warum er und Zita auf der Pressekonferenz waren.
»Wir beziehen hier ein kleines Atelier. T-Shirt-Druck und so. Du weißt schon. Zita stellt die natürlichen Farbpasten dafür her. Du würdest …«, Nick stockte. Er hatte sagen wollen, dass Ella die Farben lieben würde. Aber hinter ihrer Fassade aus einem gefassten Lächeln braute sich etwas zusammen, das er in all den Jahren nie an ihr zu sehen bekommen hatte. Eine Urgewalt, der zuzutrauen war, dass sie jeden Moment ausbrach. Er kannte das Wort für diese Energie. Es war Wut.
»Goldrute«, hörte Ella Zita sagen und war geneigt, Nick zu fragen, ob damit sein Schwanz gemeint sei. Der Anfang des Satzes war ihr entgangen. Irgendwas mit Färberpflanzen. Sie steckte sich eine Zigarette an und irrationalerweise fühlte sie sich durch den Benzingeruch, der aus ihrem neuen Feuerzeug strömte, in ihrer Aura gestärkt. Als hätte sie ein Parfüm aufgelegt, das ihr Potenz verlieh.
»Das Konzept zur Umnutzung des Kaufhauses ist wirklich cool«, sagte Zita, während Ella in einer dunklen Befriedigung verhaftet, die frischen Herpesbläschen auf Nicks Oberlippe fixierte. »Wir stehen total dahinter.« Zita legte ihre Hand auf Nicks Schulter und lächelte ihn an.
Allein um diese Berührung abzuschütteln, die sich unter Ellas Augen unpassend anfühlte, beugte sich Nick zu einem Tisch, auf dem ein paar Flyer lagen.
»Falls du uns erwähnen möchtest…« Er drückte Ella einen in die Hand. Auch das erschien ihm jetzt unpassend. Wie konnte er sie um etwas bitten, nachdem er sie fast sowas wie geghostet hatte? War das sein Ernst gewesen: Es passt nicht mehr so? Das war unter seinem Niveau. Ihr Blick nahm ihn auseinander. Sie zerteilte ihn wie ein Stück Schlachtvieh. Aber was hätte er sagen sollen? Ich finde eine andere interessanter? Dich langweilig? Es nervt, wie du an mir klettest? Keine eigenen Hobbys hast? Er wäre niemals in der Lage gewesen, Ella die Wahrheit zuzumuten. Sie hatte ihm nichts getan. War einfach nur durchgängig lieb gewesen. Seicht auf eine Weise, die ihm die Luft abschnürte. Anfangs hatte er sich von ihrer Bewunderung genährt. Es geliebt, ihr seine Sicht des Lebens zu zeigen.
»Mansplaining«, hatte Zita ihn unterbrochen, wenn er versucht hatte, sich ihr gegenüber auf ähnliche Art zu präsentieren.
Dagegen war es so leicht gewesen, Ella zu begeistern. Zu leicht. Er brauchte Ecken und Kanten, an denen er sich stoßen konnte. Wie bei Zita, die ihn intellektuell und emotional an seine Grenzen führte. Bei ihr spürte er sich wieder. Und das Leben außerhalb einer Küchen-Bubble mit wochenendlichen Kochzeremonien, die in einer betäubenden Sofa-Session bei Netflix-Serien endeten. Ja, verfickt. Ella hatte ihn gelangweilt und er war zu feige gewesen, ihr die Wahrheit zuzumuten.
»Klar. Kein Ding.« Ella ließ den Flyer in ihre Tasche gleiten.
Abgefuckt cool wirkte das auf Nick. Und dass sie ihn nicht mehr anhimmelte, oder ihm wenigstens hinterhertrauerte, irritierte ihn. Sie hatte sich verändert. Nicht nur das Tattoo, das ihm sofort aufgefallen war, hatte er ihr nicht zugetraut. Auch die Art, wie sie auf ihn und Zita zugegangen war, hatte eine neue Power.
Ella entging nicht, wie Nick sich unter ihrer Begegnung quälte. Und es machte ihr Spaß. Sie betrachtete es als eine Art Entschädigung. Je mehr er sich wand, desto mehr Macht verspürte sie. Die Macht, ihn sich ausgeliefert fühlen zu lassen. Durch ein schlichtes Gespräch. Unter Freunden. Oder etwa nicht?
Er steckte sich jetzt auch eine Zigarette zwischen die Lippen und Ella ließ das Feuerzeug vor ihm aufflammen. Eine Geste purer Dominanz.
Don’t forget the fire.
Sie brannte Nick direkt damit nieder. »Wollen wir was trinken? Die mixen alkoholfreie Cocktails vor der Tür. Sieht lecker aus.« Ella deutete auf ein paar Leute, die mit ihren Drinks auf die Dachterrasse kamen. Dass Nicks linkes Auge zuckte, wertete sie als Treffer.
»Warum nicht«, sagte er und suchte Zitas Blick, die »gerne«, sagte, aber nicht meinte.
Die Tür fiel hinter Ella zu und sie stellte sich vor, wie Zita Nick fragen würde, wer sie sei und was er wohl antworten würde. Meine Ex? Eine Freundin?
Hinter der Tür fragte Zita: »Wer ist das eigentlich?« und Nick antwortete: »Eine Metamorphose«.
Auf dem Tresen standen fertig gemixte Cocktails zur Mitnahme bereit. Ella entschied sich für drei Virgin Sunrise. War nicht der Name gerade sogar Programm? Mit der Schulter stieß sie die Tür wieder auf und schon von hier erkannte sie die bloße Angst, die Nick ins Gesicht geschrieben stand. Er hatte etwas zu verlieren. Und es lag an ihr, darüber zu entscheiden und ein »Weißt-du-noch-im-März?« einzuwerfen. Oder eben nicht.
Das Wissen um ein Geheimnis verleiht Menschen Macht. Ella hatte nicht vor, diese wieder aus der Hand zu geben. Sie hatte Gefallen an dem Spiel gefunden. Daran, mal die Katze zu sein und nicht die Maus.
»Virgin Sunrise«, sagte sie. Zynisch. Das nahm Nick trotz ihrer oberflächlichen Freundlichkeit durchaus wahr. Es klang wie eine Drohung. Ella hatte schon immer feine Antennen gehabt. Wie hatte er nur annehmen können, mit dieser Nummer durchzukommen? Es war ihm von Anfang an klar gewesen, dass die reine und harte Wahrheit der richtige Weg wäre. Nicht nur Ella gegenüber. Auch Zita. Die paar Wochen zeitlicher Überschneidung konnten ihm jetzt jederzeit das Genick brechen. Wenigstens hatte er nicht mehr mit Ella geschlafen, seit er mit Zita zusammen war. Oder höchstens noch zwei oder drei Mal ganz am Anfang.
Zita nahm den Drink entgegen, stellte ihn jedoch auf den Tisch mit den Flyern. Sie war nicht in der Stimmung für Virgin Sunrise. Die Atmosphäre war toxisch und Nick hatte sie im Unklaren gelassen, warum. Er hatte ihr den Mund mit einem seiner charmanten Küsse gestopft. Das gefiel ihr nicht. Sie ließ sich nicht mundtot küssen. Zita klemmte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Das von Ella angebotene Feuer lehnte sie ab. Sie hatte ihr eigenes Feuerzeug bereits in der Hand. Als sie es vor ihrem Gesicht aufflammen ließ, reflektierte der Ozean-Ring in der Sonne. Die Lichtspiegelung bohrte sich wie ein Laser in Ellas Auge. Ella sah zu Nick hinüber. Er senkte seinen Blick auf den Cocktail und rührte mit dem Bambusstrohhalm darin herum.
Es hängt von der Einstellung des Gegenübers ab, wie ein Mensch wahrgenommen wird. Und Ella war gerade dabei, ihr Superzoom-Objektiv neu auszurichten. Auf die Makel, die plötzlich so offensichtlich schienen. Nicks Makel. Nicht die von Zita. Sie war es nur, die einen Ring trug, der nicht für sie gemacht worden war. Unwissentlich. Was unfair war. Ein durch und durch beschissener Move von Nick. Dass Ella seinetwegen erst vor wenigen Momenten Gedanken wie Giftpfeile auf Zita abgeschossen hatte, kotzte sie an.
Sie wendete sich wieder Zita zu. »Setzen wir uns?«, fragte sie, setzte sich an den Tisch mit den Flyern und zündete sich eine Zigarette an. »Erzähl doch mal etwas über das hier.« Ella tippte auf den Flyer-Stapel. »Dann kann ich ein bisschen mehr darüber schreiben. Das mit deinen Farben klingt echt interessant.«
»Okay.« Zita ließ sich neben Ella in den tiefliegenden Lounge-Sessel gleiten. Sie klemmte ihre Zigarette in den Aschenbecher und faltete einen Flyer auseinander, sodass Ella ein paar Fotos von der Farbherstellung betrachten konnte. »Hier«, sagte Zita, »stehe ich in meiner Farbküche. Im Grunde ist es das auch schon – Pflanzen sammeln, einkochen, mit einem Feststoff anreichern, die Masse trocknen und mit einem Mörser zermahlen.«
»Und dann geht es mit dem Druck weiter«, nahm Nick den Faden auf. Er schwang sein Bein über den freien Sessel und setzte sich Zita und Ella gegenüber.
»Verstehe«, erwiderte Ella. »Aber ich würde gerne mehr über die Farben erfahren.« Sie ermunterte Zita, weiter zu erzählen. »Ich will alles wissen. Über die Pflanzen, wie du auf die Idee gekommen bist, die Farben selbst herzustellen – die ganze Geschichte.« Im gleichen Winkel, wie Ella ihren Sessel in Zitas Richtung herumrückte, wendete sie sich von Nick ab. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Zita gerichtet, die, ebenso wie sie zuvor die Anspannung gespürt hatte, nun Ellas Zugewandtheit wahrnahm.
»Es war eine Allergie. Ganz banal. Ich habe Bildende Kunst studiert und allergisch auf die herkömmlichen Farben reagiert. Schon in der Schule gab es Anzeichen, aber der permanente Umgang mit den Substanzen hat dann Gewissheit gebracht. Das Studium aufzugeben war keine Option. Also habe ich angefangen, meine Farben selbst herzustellen.«
Ella hatte ihr Notizbuch aufgeschlagen und schrieb mit, doch wann immer sie aufblickte, wirkte Zita aufgeschlossen und besonnen. Es war eine Wohltat, wie sie ihre Antworten mit dunkler unaufgeregter Stimme auf den Punkt brachte. Keine Ausschweifungen, keine Selbstbeweihräucherung. Sie war Ella eine dermaßen angenehme Interviewpartnerin, dass Nicks Anwesenheit völlig in Vergessenheit geriet. Lediglich den Ring konnte Ella nicht ausblenden. Er saß auf dem Mittelfinger, den Zita beim Rauchen wieder und wieder vor ihren Mund führte. Zunehmend empfand Ella jedoch Erleichterung darüber. Dass der Ring eben auf Zitas Finger saß. Und nicht mehr auf Nicks.
»Für die T-Shirts werden übrigens…«, mischte er sich nach einer Weile in das Gespräch ein.
Ella drehte sich zu ihm. Sie sagte nicht, dass sie schon alles über die T-Shirts wusste, er es ihr in epischer Breite und ständiger Wiederholung erzählt und sie stundenlang beim Druck neben ihm gestanden und ihre Bewunderung signalisiert hatte. Ihre Bewunderung, die sich genau hier oben auf der Dachterrasse schlicht auflöste. Und mit ihr auch alles andere, was Ella je für Nick empfunden hatte. Sämtliche über die Ufer ihrer Seele getretenen Emotionen hatten sich ins Flussbett zurückgezogen, wo jetzt das Wasser mit der Klarheit eines Gebirgsbaches floss. Mit einer Kühle, die einer Erfrischung glich. Ellas geschärfter und klarer Blick ließ von dem Nick, den sie gekannt zu haben glaubte, nichts mehr übrig. Langsam zog sie ihre Sonnenbrille von der Nase und sah ihn über die Gläser hinweg an. Die Schönmalerei hatte ein Ende. Doch ihre Geste wurde unterbrochen und höchstwahrscheinlich hatte Nick sie sowieso nicht kapiert.
Es war Falk, der fragte, ob er kurz stören dürfe. Ella hatte ihn schon unten im Laufe der Pressekonferenz von weitem gesehen, sich aber nicht bemerkbar gemacht.
»Wie lange brauchst du noch etwa?«, fragte er Ella. »Ich habe etwas Zeitdruck und würde gerne ein kurzes Interview mit Nick für die Sendung machen.«
Ella klappte ihr Notizbuch zu. »Bin durch mit ihm. Er gehört dir.« Sie stand auf und bedankte sich bei Zita für das Gespräch.
»Schau dir den Prozess in meiner Farbküche gerne mal an.« Zita reichte ihr eine Visitenkarte mit einem QR-Code. »Du hattest ja nach Fotos gefragt. Vielleicht möchtest du lieber selbst welche machen?« Das Interview mit Ella hatte Zita Freude bereitet. Warum auch immer, die Energie zwischen ihnen hatte sich positiv verwandelt. Zwar waren Zita die Hintergründe völlig unbekannt, doch es war sehr deutlich gewesen, wie Ella sie demonstrativ empowert hatte. Die toxischen Vibes hatten offenbar nicht ihr, sondern Nick gegolten. Zita hatte Fragen. Und sie würde Antworten darauf bekommen. Von Nick. Oder von Ella.