A n der Tür blieb Mina stehen und sah sich prüfend im Raum um. Im Fitnessstudio war an diesem Nachmittag nicht viel los. Gut. Und diejenigen, die sich aufgerafft hatten, waren hauptsächlich ältere Leute. Die Schüler, die Gewichtheberinnen und die Muskelmänner waren schon da gewesen. Um fünfzehn Uhr dominierten hier die Senioren. Jedenfalls unter der Woche. Wenn auch nur für eine Stunde. Das Gute daran war, dass sie die Geräte sorgfältiger abwischten. Sie säuberten sie nicht nur von ihrem eigenen Schweiß, sondern auch von dem der Fitnessmonster, die sie vor ihnen besudelt hatten. Nicht, dass Mina in dieser Hinsicht Risiken eingegangen wäre. Wie immer hatte sie zwei Sprühflaschen Desinfektionsmittel, Mikrofasertücher und einen Zipbeutel dabei, in dem sie die benutzten Lappen verstauen konnte.
Heute standen Beine und Po auf dem Trainingsprogramm. Sie zog die Handschuhe über, ging zu einer freien Beinpresse und sprühte alle Teile sorgfältig ein. Ihr war aufgefallen, dass einige nur die Griffe einsprühten. Oder, noch schlimmer, nur den Sitz. Doch Dreck und Bakterien konnten überall sein. Sie verstand nicht, warum manche Leute so unachtsam waren.
Sie faltete das Tuch zusammen, steckte es in den Zipbeutel und zog ein frisches aus der Tasche. Das Fitnessstudio war ein einziger Infektionsherd. Deswegen konnte sie auch nicht im hauseigenen Kraftraum der Polizei trainieren. Sie wusste ganz genau, was für Ferkel dort herumliefen. Hier brauchte sie den Siff wenigstens nicht bestimmten Gesichtern zuzuordnen.
Am liebsten hätte sie mit Mundschutz trainiert. Sie hatte gehört, dass Gewichtheber häufig furzten, und bekam Atemnot beim Gedanken an die Fäkalkeime, die im Lüftungssystem zirkulierten. Aber ein Mundschutz hätte noch mehr Aufmerksamkeit erregt, und das musste ja nicht sein. Vielleicht würde sie sich eine dieser Trainingsmasken zulegen, die hier einige trugen, um ihre Atemmuskulatur zu stärken.
»Willst du trainieren oder putzen? Wenn du fertig bist, würde ich gerne an die Presse gehen.«
Mina zuckte zusammen und blickte erschrocken von der Rückenlehne auf, die sie gerade abwischte. Ein etwa siebzigjähriger Mann mit Nickelbrille und weißem Bart sah sie fragend an. Sein rotes T-Shirt war aus ganz normaler Baumwolle und nicht aus atmungsaktivem Funktionsmaterial. Auf der Brust hatte er einen dunklen Schweißfleck. Sie erschauerte.
»Ist Ihnen klar, wie unhygienisch Baumwolle ist?«, fragte sie. »Sie wird klitschnass und durchnässt anschließend die Geräte. Es dürfte gar nicht erlaubt sein, in so ungeeigneter Kleidung zu trainieren.«
Wenn Blicke töten könnten, hätte sie seinen nicht überlebt. Dann ging er kopfschüttelnd davon. Offenbar war ihm seine Zeit zu schade. Ihr war das nur recht. Sie rieb noch einige Male mit dem Tuch über die Lehne, stopfte dann Tuch und Handschuhe in den Plastikbeutel. Setzte sich auf die Beinpresse und stellte das Gewicht ein. Der Mann mit dem roten T-Shirt saß mit dem Rücken zu ihr am Lastzug. Hinten hatte er natürlich einen genauso großen Schweißfleck. Sie rümpfte die Nase. Ihrer Gesundheit zuliebe verzichtete sie gerne auf die Sympathien anderer. Die konnten ihr nämlich mit all ihren Bakterien gestohlen bleiben.
Mina war es gewohnt, für ein Alien gehalten zu werden. Sie brauchte niemanden. Das ganze Gerede vom Zugehörigkeitsgefühl war vermutlich ein genauso großer Mythos wie die sogenannte »Seelenverwandtschaft« oder die »große Liebe«. Völlig unrealistische Konzepte, mit denen Hollywood Geld scheffelte, normalen Menschen jedoch Angst einjagte. Die Wissenschaft bestätigte das. Sie hatte gelesen, dass Menschen sowohl den eigenen Partner als auch die Qualität der Beziehung schlechter bewerteten, wenn sie zuvor eine romantische Komödie gesehen hatten. Denn mit der frei erfundenen Idee von der »ewigen Liebe« konnte keine reale Beziehung mithalten.
Sie selbst hatte sich weder als Erwachsene noch in ihrer Jugend jemals zugehörig gefühlt. Mit Ausnahme der kurzen Zeit, die sie mit ihrer Tochter verbracht hatte. Der Mann jedoch, mit dem sie mal zusammengelebt hatte, rief alles andere als herzliche Gefühle in ihr hervor. Nein, von Zugehörigkeit hatte auch da keine Rede sein können. Sie kam in ihrem Leben einfach nicht vor.
Außer …
Mit ihm.
Dem Mentalisten.
Aber das war jetzt lange her.
Auf Facebook hatte sie Werbung für Vincents neue Show gesehen. Beinahe hätte sie sich eine Karte gekauft. Doch dann hatte sie es bleiben lassen. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie ihn auf der Bühne sah. Was, wenn er sie im Zuschauersaal nicht bemerkte?
Und was, wenn doch?
Sie runzelte die Stirn. Sie hielt lieber Abstand. Zur Sicherheit. Schließlich hatte er sich kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Sie verstand natürlich, wieso nicht. Erstens hatte er eine Familie. Seiner Frau wäre es nicht zu verübeln gewesen, wenn sie sich gefragt hätte, was er und Mina da vor bald zwei Jahren eigentlich getrieben hatten. Vincent hatte ihr erzählt, dass Maria unglaublich eifersüchtig war. Und die Ereignisse auf der Insel hatten das Ganze nicht besser gemacht. Mina und Vincent wären fast gestorben. Zusammen. Es lag nahe, dass Vincents Frau Mina seitdem hasste. Nicht, dass sie schuld an der Sache gewesen wäre. Aber sie war immerhin Polizistin.
Außerdem hatte sie und Vincent etwas verbunden, das man Außenstehenden nicht erklären konnte. Und der Vorfall auf Lidö hatte sie noch enger zusammengeschweißt.
Gleichzeitig hatte genau diese Verbindung einen normalen Kontakt erschwert. Sie waren sich extrem nah gekommen. Näher, als sie ertragen konnte. Und daher war es besser so, wie es war. Wenn sie allein war, konnte ihr niemand etwas anhaben. Dann war sie sicher. Und er empfand es vermutlich genauso.
Aber dennoch.