S ie nahm die Sonnenbrille ab und lächelte ihn an. Dann schlug sie die Beine übereinander und beugte sich vor. Sie saßen sich gegenüber, ohne einen Tisch zwischen sich zu haben. Anfangs hatte Ruben sich extrem unwohl gefühlt. Ausgeliefert. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Mittlerweile unternahm er nicht einmal mehr den Versuch, ihr in den Ausschnitt zu gucken. Und dabei war Amanda alles andere als unattraktiv.
»Wollen Sie damit sagen, dass ich fertig bin?« Ruben sah auf die Uhr.
Er war erst seit einer halben Stunde hier. Aber Amanda schien die Sitzung bereits beenden zu wollen.
»Fertig ist man wahrscheinlich nie«, sagte sie. »Aber wenn nichts Neues auftaucht, sehe ich eigentlich keinen triftigen Grund für Sie, weiter herzukommen. Wobei ich das eigentlich nicht beurteilen kann. Wie ist denn Ihr Gefühl?«
Ruben sah Amanda an, die Psychotherapeutin, zu der er seit über einem Jahr an jedem zweiten Donnerstag ging. Die Frage nach seinem Gefühl fand er immer noch furchtbar, aber er ärgerte sich nicht mehr gar so sehr darüber wie am Anfang.
»Meine Gefühle überlasse ich Sigmund Freud«, sagte er. »Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass meine Gefühle nicht unbedingt das sind, wofür ich sie halte. Und daher habe ich mich entschieden, mein Handeln nicht mehr nach meinen Gefühlen auszurichten, sondern auf rationales Denken zu gründen. Und daher war ich auch ein halbes Jahr lang sexuell enthaltsam. So gern meine Hormone auch ficken würden.«
Amanda zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Nein, es ist nicht so, als wäre ich überhaupt nicht auf der Jagd gewesen«, erklärte er. »Das hatten wir ja besprochen. Genau das meine ich. Ich werde nicht ganz damit aufhören, schließlich bin ich ein Mann in den besten Jahren. Aber seitdem mir bewusst ist, welche Bedürfnisse mein Verhalten erfüllen sollte, spielt das alles nicht mehr so eine große Rolle.«
»Und was waren das für Bedürfnisse?«
Ruben seufzte. Da waren sie wieder. Diese beschissenen Gefühle.
»Frauen rumzukriegen gab mir ein Gefühl von Macht. Aber es erfüllte auch ein tieferes Bedürfnis nach …«
Wieder seufzte er.
»Nach Nähe«, sagte er gequält. »Zufrieden?«
Nähe. Nie im Leben hätte er geglaubt, dass er dieses Wort mal in den Mund nehmen würde. Es klang unerträglich schwul. Doch auch dieser Gedanke war ein Abwehrmechanismus, hatte er gelernt. Scheiße. Gunnar und die anderen Kollegen aus der Spezialeinheit hätten sich ausgeschüttet vor Lachen, wenn sie gewusst hätten, dass er zu einer Psychotherapeutin ging. Gunnar attestierte sich selbst nordschwedische Unerschütterlichkeit. Seiner Ansicht nach bestand die Lösung aller Probleme darin, mit einem Eimer Selbstgebranntem in den Wald zu gehen. Die Männer hätten seinen Helm rosa angemalt, wenn sie gewusst hätten, dass er hier bei Amanda saß. Wieder warf er einen Blick auf die Wanduhr. Kurz nach halb neun. Er hätte längst am Arbeitsplatz sein müssen. Bevor irgendjemand sich zu fragen begann, was er eigentlich jeden zweiten Donnerstagmorgen trieb. Die übliche Ausrede, er hätte sich erst die Frau vom Hals schaffen müssen, die er am Abend zuvor abgeschleppt hätte, zog nicht unendlich oft.
Abschleppen, tja. Um ehrlich zu sein, wusste er kaum noch, wie das ging. Natürlich hatte er bei der ersten Sitzung auch versucht, Amanda zu verführen. Mit mäßigem Erfolg.
»Es gibt nur noch eine Sache, die ich tun muss«, sagte er. »Ich will Ellinor treffen.«
»Ruben«, sagte Amanda in warnendem Ton. »Vergiss nicht, was wir über das Loslassen gesagt haben. Ellinor hat dein Leben all die Jahre überschattet. Dein Verhalten war eine Reaktion darauf. Du bist erst fertig, wenn du dich von diesem Schatten befreit hast.«
»Ich weiß. Und genau deshalb will ich mich ja mit ihr treffen. Um mit der Vergangenheit abzuschließen. Ich schwöre, ich will nur mal Hallo sagen. Um sie von dem Sockel zu holen, auf den ich sie gestellt habe.«
»Das klingt … überraschend vernünftig.« Amanda kniff die Augen zusammen. »Sind Sie sicher?«
»Das Schlimmste, was mir passieren kann, wären doch ein paar Therapiestunden mehr«, sagte er lachend.
Er war sich hundertprozentig sicher. Er war jetzt ein besserer Ruben als noch vor einem Jahr. Gunnar sollte die Schnauze halten.
Sie standen auf und gaben sich die Hand. Zum fünfzigsten Mal widerstand er der Versuchung, sie auf einen Drink einzuladen. Der Gedanke an sich war einfach nur ein Gedanke, solange keine Taten folgten. Er war schließlich immer noch Ruben. Und außerdem hatte er Wichtigeres zu tun. Er hatte bereits herausgefunden, wo Ellinor wohnte. Nur mal kurz Hallo sagen. Schauen, wie es ihr ging. Und sie um Verzeihung bitten. Dann war er fertig.