V incent holte tief Luft, bevor er in die Küche ging, um Frühstück zu machen. Seine Frau Maria hielt sich bereits seit einer Stunde in der Küche auf. Er wusste, dass der Geruch, der ihm mittlerweile entgegenschlagen würde, nicht nur penetrant, sondern überwältigend war. Und tatsächlich. Verschiedenste Duftkerzen, Kräutersäckchen, Seifen und Raumsprays bildeten eine Wolke aus Aromaschwaden, die sich um ihn legte wie eine feuchte Wolldecke.
»Liebling, wie lange werden wir das ganze Zeug denn noch hier haben?« Er griff sich irgendeinen Becher aus dem Küchenschrank und erwischte den mit der Aufschrift Ich bin nicht unreif, du bist kacka . Als er sich Kaffee eingeschenkt hatte, setzte er sich an den Küchentisch.
»Hast du denn alles vergessen, was wir in der Paartherapie besprochen haben?«, fragte Maria, die mit dem Rücken zu ihm auf dem Fußboden hockte. »Es ist wichtig, dass du mich bei meiner Unternehmensgründung unterstützt.«
Seine Frau drehte sich nicht einmal zu ihm um, sondern packte seelenruhig kleine Keramikengel in einen Karton.
»Doch, das weiß ich natürlich noch. Und du weißt, dass ich dich in jeder Hinsicht unterstütze. Diesen Onlineshop, den du eröffnet hast, finde ich wirklich, äh, interessant. Es wäre nur möglicherweise besser, wenn du dein Lager in, tja … Lagerräumen einrichten würdest?«
Maria seufzte tief. Sie wandte ihm noch immer ausschließlich ihre Rückseite zu.
»Wie Kevin schon gesagt hat, sind Lagerräume teuer«, sagte sie. »Und da deine neue Show noch immer nicht die Produktionskosten eingespielt hat, werde ich wohl die Erwachsene in der Familie sein und Geld verdienen müssen.«
Vincent starrte sie an. Das war das vernünftigste Argument, das er seit Jahren von seiner Frau gehört hatte. All die Existenzgründungsseminare, die sie besucht hatte, waren vielleicht doch keine Zeitverschwendung gewesen. Auch wenn ihm Seminarleiter Kevin, den sie in jedem zweiten Satz zitierte, mittlerweile ziemlich auf die Nerven ging. Aber Maria war nun mal eine Suchende. Sich an Vorbildern zu orientieren, lag in ihrer Natur. Dass ihr aktueller Guru jedoch ein Gründungsberater war, hatte ihn, gelinde gesagt, verblüfft.
»Geld verdienen?« Wie immer in letzter Zeit kam Rebecka mit versteinerter Miene in die Küche. »Mit dem Zeug machst du doch nie ein Plus. Wer kauft denn so einen Scheiß?«
Angewidert hielt sie ein weißes Holzschild hoch.
»Leben Lachen Lieben . Nicht dein Ernst, oder? Sterben Heulen Hassen trifft es eher.«
»Seid doch mal nett«, sagte Vincent.
Insgeheim musste er seiner Tochter jedoch recht geben.
»Kevin sagt, ich hätte einen unschlagbaren Riecher für kommerzielle Produkte.« Maria warf ihrer Bonustochter einen erbosten Blick zu.
Rebecka ging ungerührt zum Kühlschrank.
»Was zum Teufel? Aston!«
Aus dem Wohnzimmer wurde prompt zurückgebrüllt.
»Was ist?«
»Hast du etwa den letzten Rest Milch für dein Müsli verbraucht und die leere Packung in den Kühlschrank gestellt?«
»Die ist gar nicht leer, da ist noch was drin!«
Astons Stimme hallte schrill von den Wänden wider. Rebecka sah Vincent herausfordernd an, während sie die Packung umdrehte. Drei Tropfen klatschten träge auf den Küchenfußboden.
»Was machst du?« Maria stand auf. »Wisch das sofort weg.«
Der Engel, den sie noch auf dem Schoß gehabt hatte, zersprang in tausend Scherben. Besonders robust war das Material offenbar nicht.
»Oh, nein! Siehst du, was du wieder angerichtet hast?«
»Ich?«, zischte der Teenager. »Du hast dich wie üblich selber blöd angestellt. Und hinterher gibst du mir die Schuld. Typisch. Und du, Papa, nimmst mich nie in Schutz. Egal, wie scheiße sie mich behandelt. Hier kann man es echt nicht aushalten. Ich gehe zu Denis.«
Vincent öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es war schon zu spät. Rebecka war bereits an der Haustür.
»Spätestens um acht bist du zu Hause!«, rief Maria ihr hinterher. »Es ist Donnerstag.«
»Es sind Sommerferien!« Rebecka schnappte sich ihre dünne Sommerjacke und knallte die Tür hinter sich zu.
»Aha. Dann vielen Dank für deine Hilfe!« Maria verschränkte die Arme vor der Brust. »Würdest du Aston jetzt bitte zur Ferienbetreuung bringen. Ihr seid spät dran.«
Vincent machte den Mund wieder zu. Es war besser, jetzt den Mund zu halten. Er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, wie er mit diesen Gefühlsstürmen umgehen sollte. Was immer er dazu sagte, war sowieso meistens falsch. Daher hatte er sich angewöhnt, möglichst nichts zu sagen.
Er durchforstete sein Gedächtnis nach irgendeinem nützlichen Ratschlag des Paartherapeuten. Es fiel ihm nicht leicht, Hilfe auf einem Gebiet anzunehmen, von dem er selbst viel mehr verstand. Doch Vincent hatte sich wirklich um Demut bemüht.
Anfangs war im Gespräch gewesen, ob er nicht zusätzlich eine Einzeltherapie machen sollte, um das zu verarbeiten, was in seiner Kindheit mit seiner Mutter passiert war. Ein Ereignis, das er vierzig Jahre lang verdrängt hatte. Doch darauf hatte er sich nicht eingelassen. In ihm lebte ein Schatten, der sein Innerstes streng bewachte, und es gab niemanden, dem er genug vertraute, um ihn bis an diesen Ort vordringen zu lassen.
Vincent hätte sich gewünscht, die Paartherapie wäre eine Art Wunderkur, die ihn und Maria vereinte, indem sie ihm wieder Verständnis für ihre Art zu denken vermittelte. Und sie von der krankhaften Eifersucht befreite, die sie befiel, sobald er in einer anderen Stadt war. Da sein Beruf häufiges Reisen mit sich brachte, war diese Eifersucht ungeheuer belastend für beide. Und sie hatten sich wirklich Mühe gegeben. Vor allem Maria.
Der Therapeut hatte zur Sprache gebracht, was ohnehin auf der Hand lag. Die Eifersucht war in Marias mangelndem Selbstwertgefühl begründet. Und möglicherweise auch in den Umständen, unter denen er und Maria zusammengekommen waren. Denn er hatte seine damalige Ehefrau Ulrika für deren jüngere Schwester Maria verlassen.
Vincent wusste jedoch, dass es nicht ganz so einfach war. Maria hatte noch etwas anderes an sich, das weder sie selbst noch der Therapeut zu fassen bekamen, und dieses Etwas ging zum Angriff über, sobald er seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes oder jemand anderen als ihr Zuhause und die Familie richtete. Er wusste, dass es eigentlich nicht Marias Schuld war, dass sie so reagierte. Sie handelte aus purem Instinkt. Und deswegen sah sie ihn jetzt auch an wie ein Ufo. Und wie schon so oft wünschte er, er hätte gewusst, was sie von ihm wollte.
Am Anfang war es so einfach gewesen. Als die Verliebtheit sie dazu trieb, sich über alles und alle hinwegzusetzen, die ihrer Liebe im Weg standen. Er erinnerte sich noch gut an das Gefühl. Irgendwo tief in seinem Innern hatte er es sich bewahrt. Er wusste noch genau, wie es gewesen war, als sie seine Sätze beendete, und sie eigentlich auch ohne Worte hatten kommunizieren können. Doch mit den Jahren war ihnen die gemeinsame Sprache allmählich abhandengekommen. Als ob sie sich immer weniger in den anderen einfühlen könnten, obwohl es genau umgekehrt hätte sein müssen. Er wollte es nicht so. Er wusste nur nicht, wie er wieder an sie herankommen sollte. Was er tun musste, um ihr Wir wiederzufinden.
Ganz offensichtlich erwartete sie von ihm, dass er etwas sagte. Und ein kleines bisschen war ja bei einer der Therapiesitzungen vielleicht doch hängen geblieben. Der Therapeut hatte vorgeschlagen, dass Vincent sich Maria freundlich zuwandte, wenn sie sich aufregte, selbst wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Auf diese Weise konnte er ihr vielleicht ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Und auf der Grundlage dieser Sicherheit konnte Maria ihre Gefühle vielleicht auf konstruktivere Weise ausdrücken, bevor sie sich in Wut verwandelten. Meistens funktionierte es nicht. Aber einen Versuch war es trotzdem wert.
»Liebling, ich merke, dass du dich ärgerst«, sagte er in bewusst sanftem und ruhigem Ton. »Aber die Wut tut deinem Körper nicht gut. Du spürst doch sicher, dass du deine Muskeln anspannst. Dadurch werden deine Gefäße schlechter durchblutet, und sowohl dein Nervensystem als auch dein kardiovaskuläres und hormonelles Gleichgewicht geraten durcheinander. Mit deinem Blutdruck schießen sowohl dein Puls als auch der Testosterongehalt in die Höhe, und ein Überschuss an Gallenflüssigkeit belastet Regionen deines Körpers, in denen diese nichts zu suchen hat.«
Maria sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Der Rat des Therapeuten funktionierte anscheinend.
»Außerdem verändert sich die Aktivität deines Gehirns, wenn du wütend bist«, fuhr er fort. »Vor allem im Frontal- und Temporallappen. Wie gesagt. Wut ist nicht gut für dich. Könntest du nicht vielleicht auf konstruktivere Weise mit Rebecka kommunizieren?«
Er riskierte ein zaghaftes Lächeln. Maria starrte ihn an. Dann verzog sie das Gesicht, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte, und verließ wortlos die Küche.