V or lauter Wiedersehensfreude kamen Julia fast die Tränen. Nie im Leben hätte sie es für möglich gehalten, dass man sich so danach sehnen konnte, das im Grunde ziemlich hässliche Präsidium in Kungsholmen zu betreten. In dem es zur Feier des Tages auch noch so heiß wie in einem Backofen war. Pünktlich zum heißesten Sommer, den Stockholm je erlebt hatte, war die Klimaanlage zusammengebrochen. Sie fächelte sich mit einem Blatt Papier Luft zu, während sie in den Konferenzraum ging. Für ihre Kollegen war es möglicherweise ein ganz normaler Donnerstag. Für sie war es der Himmel auf Erden.

Zumindest, solange sie den anderen noch nicht gesagt hatte, warum sie hier waren.

»Julia!« Ein Mann mit Bart strahlte sie an.

Sie machte große Augen, als sie Peder wiedererkannte.

»Das ist kein Hipsterbart, sondern ein Papabart«, antwortete er auf ihren fragenden Blick.

»Natürlich ist das ein Hipsterbart«, brummte Ruben, der kurz nach ihr hereinkam. »Zum Glück ist es zu heiß für diese kleine Mütze, die du das ganze Frühjahr aufhattest.«

Offenbar hatte sich nichts verändert. Und wenn sie nicht alles täuschte, waren sogar Mina und Christer erfreut, sie zu sehen.

»Herzlichen Glückwunsch nachträglich«, murmelte Christer.

Der hechelnde Golden Retriever Bosse lag an derselben Stelle wie vor einem halben Jahr zu seinen Füßen, konnte sich aufgrund der Hitze jedoch zu keiner stürmischen Begrüßung aufraffen, warf ihr aber zumindest ein fröhliches Bellen zu.

»Ja, Glückwunsch!«, sagte Mina, während sie ängstlich Julias Jackett beäugte.

Julia warf einen Blick auf den Fleck auf ihrer linken Schulter, den Mina ins Visier genommen hatte, und stieß einen Fluch aus.

»Verdammt, kann man denn kein einziges Mal ohne diese beschissenen Kotzflecken aus dem Haus gehen?«

Sie zog das Jackett aus und wollte es gerade über den Stuhl legen, als sie sich Mina zuliebe eines Besseren besann und es stattdessen an einen Haken neben der Tür hängte.

»Noch wird ja nur Brei erbrochen«, sagte Peder mit verständnisvoller Miene. »Den bekommt man leicht weg. Wenn sie erst Banane und Bœuf Stroganoff aus dem Gläschen essen, hilft nur noch Vanish Oxi. Du weißt schon, die pinken Dosen. Alles einweichen, natürlich bei neunzig Grad waschen und viel Bleichmittel dazutun. Eigentlich dürfte man ja am Anfang nur weiße Sachen tragen …«

»Ich behalte das im Hinterkopf.« Julia signalisierte mit erhobener Hand, dass es jetzt reichte. »Guten Morgen.«

Sie hatte schon genug mit der Sisyphusarbeit zu tun, die ein sechs Monate altes Baby mit sich brachte. Mit den Ärgernissen zukünftiger Entwicklungsphasen würde sie sich beschäftigen, wenn es so weit war.

»So. Schön, wieder da zu sein. Wie wunderbar, euch alle zu sehen. Ich habe eure Arbeit während meiner Abwesenheit natürlich genau verfolgt und bin stolz auf euch. Großes Lob, Mina, für deine Führungsqualitäten. Aber jetzt bin ich froh, wieder hier zu sein, und kann es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen. Ausgeschlafen bin ich zwar nicht, aber man kann eben nicht alles haben.«

Sie gab ein halbherziges Lachen von sich. Ein Teil von ihr hätte gern von den Streitigkeiten erzählt, die der Grund dafür gewesen waren, dass sie heute ins Präsidium zurückgekehrt war. Streitigkeiten, die ihr bewusst gemacht hatten, dass die gleichberechtigte Beziehung, in der sie zu leben geglaubt hatte, nichts als eine Illusion gewesen war. Eine Illusion, die nur deshalb so lange Bestand gehabt hatte, weil sie bisher nicht von den Widernissen der Kinderbetreuung auf die Probe gestellt worden war. Die Argumente, die ihr an den Kopf geknallt worden waren, hatten ihr früher immer nur ein müdes Seufzen entlockt, wenn sie sie aus dem Mund ihrer Freundinnen gehört hatte. Sie sei eben aus biologischen Gründen geeigneter dafür, ein Baby zu versorgen. Und dass Torkel in seiner Firma unentbehrlich war. Ohne ihn würde nicht nur sie, sondern das gesamte schwedische Bruttosozialprodukt zusammenbrechen, der Euro abstürzen und eine globale Wirtschaftskrise den unausweichlichen und sofortigen Weltuntergang auslösen.

Am meisten regte sie auf, dass sie eine Abmachung gehabt hatten. Sie sollte das erste halbe Jahr übernehmen und er das zweite. Beide hatten Elternzeit beantragt und bewilligt bekommen. Nicht klar gewesen war ihr, dass Torkel es damit zu keinem Zeitpunkt ernst gewesen war. Und er wäre im Leben nicht auf den Gedanken gekommen, sie könnte wirklich glauben, dass er sich die Elternzeit mit ihr teilen würde. Sie hatte noch vor Augen, wie entsetzt er sie angestarrt hatte, als sie ihn in der vergangenen Woche daran erinnerte, dass sie an diesem Donnerstag wieder anfangen würde zu arbeiten.

Torkel hatte offenbar geglaubt, dass sie, Zitat, »selber merken würde, dass sie viiiel lieber mit Harry zu Hause blieb und gar nicht wieder arbeiten wollte «.

Anschließend hatten sie tagelang nicht miteinander geredet.

Als sie sich vor einer guten Stunde auf den Weg gemacht hatte, schien ein Fremder vor ihr zu stehen. Panisch, wütend und unfrisiert hatte er etwas von »Bindung« und »biologischen Grundlagen« gefaselt. Außerdem müsse er dringend mit seinem Chef sprechen. Am Ende seines Sermons hatte sie ihm Harry wortlos überreicht und eilig das Haus verlassen. Seitdem wagte sie nicht mehr, auf ihr Handy zu sehen.

»Willkommen zurück.« Ruben grinste hinterlistig.

Julia ignorierte, so gut es ging, die Tatsache, dass er den Blick kaum von ihren Brüsten losreißen konnte. Sie hatte vor einer Woche aufgehört zu stillen, aber ihre Brüste schienen davon noch nichts mitbekommen zu haben. Wie so vieles andere, hatte sie auch ihre B-Körbchen schmerzlich vermisst. Mit den E-Körbchen war sie nie so richtig warm geworden.

»Falls du noch ein bisschen erschöpft bist, weiß ich eine perfekte Methode, um dich aufzumuntern.« Gut gelaunt fischte Peder sein Telefon aus der Tasche.

»Nicht schon wieder«, stöhnten Mina, Christer und Ruben wie aus einem Mund.

Peder achtete gar nicht auf sie. Er drückte Julia das Handy in die Hand und startete das Video.

»Das sind die Drillinge«, juchzte er. »Sie singen den ESC -Hit von Anis Don Demina mit. So unglaublich süß!!!«

Julia sah drei Babys in Windeln begeistert vor einem großen Fernseher wippen. Sie nahm an, dass sie wahnsinnig niedlich waren, aber von Kindern hatte sie heute die Nase voll.

»Moment, ich stelle den Ton lauter«, sagte Peder. »Sie singen auch.«

Seine Kollegen stöhnten auf.

»Danke, ich hab’s verstanden.« Sie gab ihm das Handy zurück. »Wirklich goldig. Wie dem auch sei. Ich schlage vor, wir fangen sofort an. Gestern Nachmittag wurde die Entführung eines Kindes namens Ossian Walthersson gemeldet. Fünf Jahre alt. Aufgrund eines Versehens hat der Fall nicht sofort die höchste Dringlichkeitsstufe erhalten. Das ist leider erst heute Morgen aufgefallen.«

»Oh, mein Gott«, rief Peder. »So was darf nicht passieren!«

»Stimmt, ist es aber. Jedenfalls hat die Leitung uns mit dem Fall betraut. Er hat höchste Priorität.«

Mina nickte und trank einen großen Schluck Wasser. Als sie ihre Flasche wieder abstellte, bemühte sie sich, sie so weit entfernt wie möglich von Peders Bart zu platzieren. Als Bosse das bemerkte, trottete er hechelnd auf sie zu.

»Christer!«, sagte Mina. »Wenn der Hund sich in diesem Raum aufhält, musst du ihm auch etwas zu trinken geben. Sollte er sich meiner Wasserflasche noch weiter nähern, kaufst du mir eine neue.«

»Reg dich nicht so auf«, seufzte Christer. »Hundezungen sind erstaunlich sauber. Aber in Anbetracht der Zeit, die wir hier voraussichtlich verbringen werden, sollte ich ihm wirklich eine Schale Wasser hinstellen. Für Bosse ist das auch kein Vergnügen.«

Er winkte den Hund zu sich zurück, der Mina einen beleidigten Blick zuwarf, bevor er sich wieder neben sein Herrchen legte. Julia überlegte, ob sie Christer erklären sollte, dass die Zungen von Hunden alles andere als sauber waren. Ihr Belag wies eine vollkommen andere Bakterienzusammensetzung auf als die von Menschen und konnte teilweise sogar gesundheitsgefährdend sein, aber als sie bemerkte, wie liebevoll Christer das Tier ansah, ließ sie es bleiben.

»Ich hatte ganz vergessen, was für eine Kita das hier ist«, sagte sie. »Wir sollten uns jetzt konzentrieren und schnellstens an die Arbeit machen. Unsere Gruppe bekommt Verstärkung von einer Person, die mit ähnlichen Fällen Erfahrung hat. Er kommt von den Verhandlern … aus der Verhandlungsgruppe … also, es ist ein bisschen schwierig, sich für eine Bezeichnung zu entscheiden. Ihr wisst schon, was ich meine.«

Sie schwieg einen Moment und sah in die erstaunten Gesichter.

»Wieso hat die Abteilung eigentlich keinen Namen?«, fragte Peder.

»Reine Psychologie«, sagte Julia. »Solange sie keinen Namen hat, gibt es sie auch nicht. Und dann kann man auch nicht auf ihr herumhacken.«

»Wow.« Peder zog die Augenbrauen hoch.

»Aber, wie gesagt, er gehört jetzt nicht mehr zu den Verhandlern, sondern ist ein willkommener Zuwachs zu unserer kleinen Schar. Er hat sich auch schon ein paar Gedanken über den Fall Ossian gemacht und müsste jeden Augenblick hier sein.«

»Brauchen wir wirklich noch mehr Leute?« Mina runzelte die Stirn.

»Du meinst, wir reichen dir vollauf?« Christer lachte grunzend und stieß andeutungsweise einen Ellbogen in Minas Richtung.

Offenbar kannte er seine Kollegin gut genug, um zu wissen, dass Körperkontakt nach Möglichkeit vermieden werden musste. Julia hatte Minas Reaktion bereits vorhergesehen. Veränderungen waren Mina Dabiri ein Gräuel. Vor allem dann, wenn sie zwischenmenschliche Kontakte mit sich brachten. Wobei gerade diese ihr guttun würden. Seit die Zusammenarbeit mit Vincent im Herbst vor zwei Jahren abgeschlossen war, hatte Julia sie mit niemandem außer den Kollegen reden sehen. Und während ihrer Elternzeit war Mina wahrscheinlich auch nicht geselliger geworden. Ihren Bekanntenkreis zu erweitern, konnte also nicht schaden.

»Das haben die Chefs bestimmt aus politischen Gründen entschieden«, sagte Christer.

Er kraulte Bosse den Nacken und erntete einen zärtlichen Blick.

»Gleichberechtigung und Vielfalt sind ja unheimlich in, und da wir bereits zwei Frauenzimmer im Team haben, werden wir diesmal entweder einen Schwulen oder Importware dazubekommen.«

»Christer!« Peder sah den älteren Kollegen tadelnd an. »Wegen genau solcher Bemerkungen bist du hierher versetzt worden. Haben all die teuren Seminare, die dir die Polizeibehörde spendiert hat, um dich aus der Steinzeit abzuholen, denn gar nichts gebracht?«

Seufzend streichelte Christer Bosse hinter dem Ohr.

»Ach, das war doch nur ein Witz«, sagte er verlegen. »Die Leute sind heutzutage alle so dünnhäutig. Außerdem enthielt meine Aussage keinerlei Wertung, was dir auch aufgefallen wäre, wenn du dieselben Seminare besucht hättest wie ich.«

»Manchmal verbirgt sich die Wertung in der Wortwahl …«

Ein diskretes Klopfen unterbrach Peder. Alle sahen zur Tür.

»Du kommst wie gerufen.« Julia deutete auf den Neuankömmling. »Darf ich euch unser neues Gruppenmitglied vorstellen? Das ist Adam Balondemu Blom.«

»Beeindruckende Aussprache.« Der Mann trat ein. »Aber Adam Blom reicht vollkommen.«