T om sah unglücklicher aus, als Ruben es bei einem erwachsenen Mann für möglich gehalten hätte. In dem kleinen Personalraum der Kita Backen saßen auch Toms Kollegin Jenya sowie die Leiterin Mathilda. Zusammen mit Ruben und Adam wurde es in dem Raum viel zu eng. Die Fenster standen sperrangelweit offen. Wobei das nichts nützte, wie Ruben feststellte. Der Schweiß auf Toms Stirn war kurz davor, ihm auf Nase und Wangen zu tropfen.
Ruben musste sich erst mal sammeln. Als Julia die morgendliche Besprechung eröffnet hatte, war er in Gedanken schon bei Ellinor gewesen. Hatte sich zurechtgelegt, was er sagen wollte. Er hatte geglaubt, es würde nur eine kurze Teamsitzung anlässlich Julias Rückkehr geben, und hatte direkt im Anschluss ins Auto steigen wollen. Stattdessen hatten sie den Fall Ossian auf den Tisch bekommen. Der erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit. Jetzt an die Frau zu denken, die seit zehn Jahren in seinem Kopf herumspukte, kam nicht infrage. Wenn sie mit dieser Sache hier fertig waren, konnte er sich ausgiebig mit Ellinor beschäftigen. Aber Ossian brauchte ihn jetzt. Ossian war darauf angewiesen, dass er, Ruben, seine Arbeit machte.
Er schob Ellinor gedanklich beiseite und sah die anderen an, die sich in den winzigen Personalraum gezwängt hatten, doch bevor er den Mund aufmachen konnte, ergriff Adam das Wort.
»So«, sagte sein neuer Kollege, »der Vorfall gestern. Wieso hat niemand gemerkt, dass Ossian weg war?«
Um Himmels willen! Viel plumper hätte man die Sache kaum angehen können. War Adam nicht angeblich Verhandlungsexperte? Sogar Ruben wusste, dass man Befragungen nicht mit Vorwürfen einleitete. Diese Menschen sahen ohnehin so aus, als würden sie damit rechnen, umgehend ins Gefängnis zu kommen. Wenn Adam und er sie unter Druck setzten, würden sie kein Wort sagen. Ruben studierte die Zeichnungen an den Wänden. Mit unterschiedlichem Erfolg hatten die Kinder ihre Erzieher porträtiert, falls ihn nicht alles täuschte.
»Wir möchten nur wissen, wo Sie sich zum Zeitpunkt von Ossians Entführung befanden«, sagte Ruben so freundlich wie möglich.
Tom machte ein Gesicht, als wollte er im Boden versinken. Er zog ein Taschentuch aus einer Pappschachtel auf dem Tisch und trocknete seine Augen.
»Oben im Skinnarvikspark verliert man leicht den Überblick«, gab er schließlich zu. »Es sind ganz schön viele Kinder, da sieht man nicht alle die ganze Zeit. Und die größeren Kinder müssen ja auch nicht so intensiv beaufsichtigt werden wie die jüngeren. Sie wissen aber, dass sie den Park nicht verlassen dürfen, ohne Bescheid zu sagen, und wir schauen in regelmäßigen Abständen nach ihnen. Dass ich Ossian minutenlang nicht gesehen hatte, war nichts Ungewöhnliches.«
Wieder warf Ruben einen Blick auf die Kinderzeichnungen. Auf einer war eine erstaunlich detaillierte männliche Gestalt zu sehen, um die ein Herz herumgemalt worden war. Auf dem T-Shirt des Mannes stand ein großes T. In die Ecke des Bildes hatte jemand den Namen des Künstlers geschrieben. Ossian. Ruben hatte plötzlich einen Kloß im Hals und musste sich räuspern.
»Ihre Welt …«, sagte Tom mit belegter Stimme, »unsere Welt hier ist normalerweise ein sicherer Ort.«
»Das ist uns bewusst«, sagte Adam. »Trotzdem konnten Sie keine hundertprozentige Sicherheit gewährleisten.«
Was zum Teufel sollte das? Allmählich wurde Ruben klar, weshalb Adam in der Verhandlungsgruppe nicht mehr erwünscht war. Tom liefen jetzt sogar Tränen übers Gesicht.
»Was vollkommen menschlich ist«, fuhr Adam fort. »Ich stelle das ganz wertfrei fest. Sie müssen auf diese Reaktion gefasst sein. Nicht zuletzt von den Eltern. Je mehr wir über die Ereignisse an dem Tag wissen, desto besser können wir Sie dabei unterstützen, die Haltung Ihnen gegenüber in eine empathische zu verwandeln.«
Adam wandte sich von Tom ab und sah Mathilda, der Kitaleiterin, in die Augen.
»Was angesichts der wenigen Kinder, die heute gekommen sind, auch in Ihrem Sinne sein dürfte«, fügte er hinzu.
Okay. Adam war nicht blöd. Aber sie führten hier keine Verhandlung, sondern ein Gespräch, und damit hatte der Kollege mit seinem Sixpack und der stattlichen Größe von einem Meter neunzig anscheinend nicht viel Erfahrung, dachte Ruben mit einem Anflug von Befriedigung. Letztendlich kam es hier auf Rubens Fingerspitzengefühl an.
»Wir fragen uns«, sagte er, »ob Ihnen vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, das uns bei der Suche weiterhelfen könnte. Kennen Sie beispielsweise die Frau, die ihn abgeholt hat?«
Jenya schüttelte den Kopf. Obwohl sie ein Kopftuch trug, war sie bei Weitem nicht so verschwitzt wie Tom. Ruben widerstand der Versuchung, sich bei ihr zu erkundigen, ob es unter dem Hidschab nicht furchtbar heiß sei. Er nahm an, dass sie die Frage nicht mehr hören konnte.
»Wir haben mit allen Kindern gesprochen«, sagte Jenya. »Erstaunlicherweise kennen die meisten von ihnen die Eltern und großen Geschwister der anderen Kinder genau. Diese Frau hatten sie noch nie gesehen.«
Adam stand auf und stellte sich ans Fenster, das auf den Hügel hinausging, von dem Ossian verschwunden war. Er schien nachzudenken. Nach einer Weile kehrte er wieder an den Tisch zurück.
»Womit wir wieder von vorne anfangen können«, sagte Adam. »Warum hat, im Gegensatz zu den Kindern, keiner von Ihnen die Frau gesehen? Ist das nicht ein bisschen merkwürdig?«
»Wollen Sie damit andeuten, das Kitapersonal hätte etwas mit der Sache zu tun?« Mathilda riss die Augen auf. »Und würde etwas verschweigen? Tom und Jenya gehören zu den besten Erziehern, mit denen ich je zusammengearbeitet habe. Ich stehe uneingeschränkt hinter ihnen. Wenn Sie uns Vorwürfe machen wollen, sollten wir das Gespräch vielleicht nicht ohne Rechtsbeistand fortsetzen.«
Ruben hob beschwichtigend die Hände. Auch das noch. Rechtsanwälte. Die hatten ihnen gerade noch gefehlt. Er hatte zwar nichts dagegen, wenn Adam sich selbst ein Bein stellte, aber momentan stand zu befürchten, dass seine plumpe Art auch auf Ruben abfärbte.
»Wir nehmen an, dass sie nicht gesehen werden wollte«, sagte Ruben ruhig. »Daher wird sie einen geeigneten Moment abgepasst haben. Sie hat nichts dem Zufall überlassen. Niemand macht Ihnen Vorwürfe.«
Mathilda schien sich wieder ein wenig gefasst zu haben.
»Eine letzte Frage noch«, sagte Adam. »Eins verstehe ich nicht ganz. Wieso ist Ossian freiwillig mitgegangen? Schließlich war die Frau eine Fremde für ihn.«
»Er hat eine Schwäche für Rennautos«, sagte Tom leise. »Lamborghini, Koenigsegg, Porsche. Er kennt alle Marken und Modelle. Es spielt keine Rolle, ob sie echt sind oder aus Pappe. Solange sie schnell aussehen. Am liebsten mag er rote.«
»Und diese Frau hatte Autos, wenn ich das richtig verstanden habe.« Adam nickte nachdenklich.
»Das hat sie jedenfalls zu Felicia gesagt. Autos und Welpen. Wieso sollte Felicia sich das ausgedacht haben? Es fragt sich natürlich, ob es die Welpen wirklich gab. Felicia hat sie ja nie zu Gesicht bekommen.«
»Und niemand kannte diese Frau vom Sehen.« Ruben warf einen Blick auf seine Notizen. »Was nicht heißen muss, dass Ossian sie nicht kannte. War er in letzter Zeit anders als sonst? Oder haben sich möglicherweise seine Eltern anders als sonst verhalten?«
Tom schüttelte den Kopf.
»Es war alles wie immer. Eine ganz normale Sommerwoche. Bis … gestern.«
»Na dann.« Adam stand auf. »Danke für Ihre Hilfe. Das war es erst mal.«
Mathilda begleitete sie zur Tür. Ruben war beeindruckt von ihr. Normalerweise waren die Leute ziemlich kleinlaut, wenn sie es mit der Polizei zu tun bekamen. Nicht so Mathilda. Sie hatte sich wie eine Löwin vor Tom und Jenya gestellt. Außerdem sah sie nicht schlecht aus. Ob sie im Bett wohl genauso dominant war? Vor nicht allzu langer Zeit hätte er alles darangesetzt, es herauszufinden. Nun musste er sich mit seinen Fantasien begnügen. Amanda, diese verdammte Psychotante.
»Es wird natürlich auch eine umfassende interne Untersuchung geben.« Mathilda gab ihm die Hand. »Aber gegenwärtig wissen wir nicht mehr als das, was wir Ihnen gesagt haben. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns auf dem Laufenden halten könnten. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, das können Sie uns glauben.«
Ruben und Adam gaben allen dreien die Hand. Toms Finger fühlten sich schlaff an, und er sah aus, als hätte er soeben dem Tod ins Auge gesehen. Es würde vermutlich eine Weile dauern, bis er wieder arbeitsfähig sein würde.
»Ziemlich schlau von dir«, sagte Adam, während sie sich von der Kita entfernten. »Die good cop, bad cop -Nummer. So haben wir ganz schnell alles erfahren, was sie wissen. Und Schnelligkeit ist im Moment am wichtigsten.«
Ruben starrte ihn an. Fühlten sich Verhandlungsexperten immer wie in einem Film? Soweit Ruben wusste, waren sie eigentlich darauf geeicht, Vertrauen aufzubauen. Adam hatte das Gegenteil getan. Andererseits musste Ruben zugeben, dass sie tatsächlich alles Wissenswerte in Erfahrung gebracht hatten.
»Aber beim nächsten Mal«, sagte Adam, »bin ich der Gute.«