J ulias Brüste spannten schon, als sie sich der Wohnungstür näherte. Diese bedingten Reflexe waren eine lustige Sache. Julia holte tief Luft, bevor sie die Klinke hinunterdrückte. In der Wohnung hörte sie Harry schreien.
»Hallo?«, rief sie betont fröhlich und unbeschwert, bekam aber keine Antwort. Auch nach dem zweiten Rufen nicht. Außer dem lauten Geschrei eines ungeheuer unzufriedenen Babys.
Auf dem Weg zum Schlafzimmer kam sie an der Küche vorbei. Dort sah es aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Leere Babygläschen, schmutzige Teller, Bananenschalen, benutztes Küchenpapier und endlos viele halb volle Kaffeebecher. Ein aufschlussreicher Anblick. Als sie mit Harry zu Hause gewesen war, hatte Torkel sich nie eine spitze Bemerkung verkniffen, wenn es so ausgesehen hatte. Und er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu fragen, was sie zu Hause eigentlich den ganzen Tag machte.
Behutsam öffnete sie die Schlafzimmertür.
Harry lag mit hochrotem Kopf im Gitterbett. Er brachte sein gesamtes Stimmvolumen zum Einsatz, und das war beträchtlich. Torkel lag angezogen daneben auf dem Doppelbett und schnarchte laut.
Julia warf einen Blick auf die Uhr. Verdammt. Eigentlich hatte sie gar keine Zeit gehabt, nach Hause zu fahren, aber für die Pressekonferenz musste sie sich dringend umziehen. Die Sachen, die sie anhatte, waren mehr als durchgeschwitzt. Außerdem wollte sie einen Kuss auf Harrys speckige Wange drücken. Und nicht zuletzt hatten die SMS -Salven, die Torkel im Laufe des Tages versendet hatte, am Ende doch ihren Zweck erfüllt und ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. Obwohl sie wusste, dass sie keins zu haben brauchte.
Sie nahm Harry hoch. Auf ihrem Arm wurde er sofort ruhig, während sie nun roch, warum er so geschrien hatte. Sie ging mit ihm zum Wickeltisch im Bad.
Nachdem sie seinen Po gesäubert hatte, gab er ausgelassene Gurgellaute von sich und streckte die Hände nach dem Mobile aus. Die beliebten Babblarna-Figuren schienen für Babys die reinste Droge zu sein.
»Komm, Schätzchen. Mama geht sich jetzt umziehen, da kannst du sie begleiten, aber danach müssen wir Papa wecken, weil Mama weiterarbeiten muss. Es gibt nämlich irgendwo da draußen noch einen kleinen Jungen, und der ist traurig und hat Angst. Er kann es kaum erwarten, dass seine Mama ihn wiederfindet.«
Gurgelnd zog Harry an ihrem Haar. Seine kleinen Wurstfinger hatten ein unnachahmliches Talent, die Haare direkt vor dem Ohr zu schnappen und dann mit verblüffender Kraft daran zu ziehen.
»Au, au, au, nicht Mama wehtun.« Sie verzog das Gesicht und bog Harry Fäuste vorsichtig auseinander.
Zum Umziehen setzte sie ihn in die Babywippe. Zuerst eine Katzenwäsche – beziehungsweise eine Ladung Deo, ohne sich vorher zu waschen – und dann eine saubere Bluse und eine saubere Hose. Nun war sie bereit, weiterzuarbeiten. Wenn nötig, open end.
Sie bohrte ihre Nase zwischen die Speckfalten in Harrys Nacken und sog seinen Geruch ein. Er lachte laut und ruderte mit den Armen. Sie spürte, wie sich in ihr etwas löste und ihr warm ums Herz wurde.
Bislang war es ihr gelungen, die beiden Dinge auseinanderzuhalten. Das Verschwinden eines Kindes. Und ihre eigene Elternschaft. Jetzt vermengten sich in ihrem Kopf die Bilder von Ossian und Harry.
Sie war es Harry schuldig, so schnell wie möglich zurück zur Arbeit zu fahren. Der Tag war noch nicht zu Ende. Sie drückte ihren Sohn fester an sich, spürte sein weiches Händchen am Hals. Julia holte tief Luft. Dann ging sie ins Schlafzimmer. Dort legte sie Harry neben Torkel und rüttelte ihn vorsichtig. Torkel zuckte zusammen und sah sich verschlafen um.
»Hä? Was? Was ist los?«
»Ich bin es. Ich habe mich kurz umgezogen und muss auch gleich wieder los. Harry hat eine frische Windel, aber jetzt bekommt er langsam Hunger, glaube ich.«
Torkel sprang auf und sah sie mit zornig funkelnden Augen an.
»Wie bitte? Wieder los? Und was ist mit mir? Ich habe mich den ganzen Tag um ihn gekümmert. Ich dachte, du wärst wenigstens abends zu Hause. Du hast dich nicht einmal dazu bequemt, auf meine SMS zu antworten. So geht das nicht, Julia. Meine Kollegen haben angerufen, ich habe tausend Mails und …«
Während Torkel sie mit seinen Beschwerden torpedierte, verließ Julia schnell den Raum. Sie sah Ossians Gesicht vor sich.
Und darüber das von Harry.
Sie schnappte sich ihre Handtasche und ging zur Tür. Torkels Wortschwall prallte von ihr ab.