D as Notebook auf Vincents Schoß war fast vollständig geladen. Er wollte auf keinen Fall etwas verpassen. Ein Timer zeigte an, in wie vielen Minuten und Sekunden es siebzehn Uhr war und die Livesendung auf der Homepage der Polizei begann. In der Pressemitteilung war nur Julias Name genannt worden, da sie die Pressekonferenz leitete. Vincent wusste nicht einmal, ob Mina der Gruppe noch angehörte. Aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.
Wenn er Glück hatte, würde er sie sehen.
Wenn er Glück hatte.
Sein innerer Schatten regte sich. Er hatte ihn von klein auf begleitet, seit das alles mit seiner Mutter passiert war. Damals war er in ihn eingezogen und hatte rasch gelernt, ihn in Schach zu halten, indem er Dinge zählte oder Zusammenhänge entdeckte. Es war natürlich nicht immer leicht, zwischen wirklichen und von ihm nur imaginierten Mustern zu unterscheiden, aber manchmal war das auch gar nicht so wichtig. Wie jetzt gerade zum Beispiel, als ihm aufgefallen war, dass seine Frau eine Plastikflasche zur Wespenfalle auf dem Fensterbrett umfunktioniert hatte, während er selbst auf die Pressekonferenz wartete. Und aus MINA DABIRI konnte man mit etwas gutem Willen BI eNe in MARINAD e machen. Solange sein logisches, analytisches Denken aktiv war, hatten die dunklen Gefühle nicht viel Platz.
Zuletzt war er so gut darin geworden, den Schatten zu ignorieren, dass er ihn beinahe vergaß. Seine Familie war dabei eine große Hilfe. Wenn er Aston Schulbrote schmierte oder sich besorgt fragte, ob Rebeckas Freunde womöglich schlechte Gesellschaft für sie waren, hatte er schlicht und ergreifend keine Zeit für die dunklen Ecken seiner Seele. Und als er dann Mina kennenlernte, war diese Dunkelheit ganz verschwunden. Mit ihr hatte er sich endlich normal gefühlt.
Doch dann war es vorbei gewesen.
Er und Mina hatten sich seitdem nicht wiedergesehen.
Und der Schatten war zurückgekehrt, mächtiger als je zuvor. Die Taten seiner Schwester hatten ihn wieder zum Leben erweckt, und diesmal reichte seine Familie nicht aus, um ihn zu vertreiben. Immerhin hatte er keine Angst, dass der Schatten ganz von ihm Besitz ergreifen könnte, denn dafür war er schon zu lange ein Teil von ihm. Der Schatten war eher so etwas wie ein blinder Passagier. Oder schlechte Gesellschaft. Die sich allerdings immer nachdrücklicher bemerkbar machte.
Die Vorstellung, Mina könnte auf der Pressekonferenz erscheinen, hatte die Dunkelheit jedoch vorübergehend vertrieben. Der Timer auf dem Bildschirm erlosch, und ein Saal war zu sehen. In der Mitte stand ein Rednerpult, aber bislang hatte niemand es in Beschlag genommen. Stimmengewirr und permanentes Rascheln waren zu hören. Wahrscheinlich rührte beides von den Journalisten, die nicht im Bild zu sehen waren. Fünf schmale Mikrofone ragten in Erwartung des Redners auf dem Pult in die Höhe. Er seufzte. Offenbar herrschte nicht einmal bei der Polizei Ordnung. Er nahm einen Stift und lehnte ihn so an den Bildschirm, dass es aussah, als ob es sechs Mikrofone wären.
Viel besser so.
Nach einer weiteren Minute kam Julia ins Bild und stellte sich ans Pult. Kameras blitzten, und das Gemurmel verstummte.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Ich komme sofort zur Sache. Gestern Nachmittag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr verschwand der fünfjährige Ossian Walthersson aus der Kita Backen am Zinkensdamm im Stockholmer Stadtteil Södermalm.«
Von der restlichen Polizeigruppe war niemand zu sehen. Vincent hatte so sehr gehofft, Mina zu sehen, dass er vor Enttäuschung Schmerzen in der Brust bekam. Vielleicht würde sie ja noch kommen. Er musste sich beruhigen.
Ossian.
Fängt mit O an.
Omega im griechischen Alphabet. Da es sich um den letzten der vierundzwanzig griechischen Buchstaben handelte, hatte er eine zusätzliche symbolische Bedeutung. Im Christentum war Omega das Ende von allem. Der Weltuntergang. Und wie hätte man diesen besser einleiten können als mit einer Kindesentführung. Vincent stellte fest, dass seine Atmung ganz und gar nicht ruhiger geworden war.
»Es gibt Anzeichen für eine Entführung«, fuhr Julia fort. »Wir suchen daher nicht nur nach Ossian, sondern auch nach einer Frau mittleren Alters, die sich zum betreffenden Zeitpunkt in einem Auto in der Nähe des Tatorts befunden haben soll. Leider liegt uns keine Personenbeschreibung vor. Wir wissen nur, dass es sich vermutlich um einen Sportwagen handelt. Eventuell hatte sie Hundewelpen bei sich. Die Rasse ist uns jedoch nicht bekannt.«
Sie zog ein Foto von Ossian aus ihrem Hefter. Es schien im Vergnügungspark Gröna Lund aufgenommen worden zu sein. Ossian hatte darauf lange sommerblonde Locken und strahlte hinter einer riesigen Zuckerwatte glücklich in die Kamera. Vincent wandte sich vom Bildschirm ab und warf einen Blick auf Astons Zimmertür, hinter der sein jüngster Sohn spielte. Ihn dazu zu bringen, sich allein zu beschäftigen, hatte eine halbstündige Auseinandersetzung erfordert. Aston kam natürlich generell besser mit seiner Mutter zurecht, aber heute war der Konflikt eskaliert. Doch so heftig sie sich auch stritten, Vincent liebte seinen Sohn heiß und innig. Die Vorstellung, Aston könnte plötzlich verschwinden, war grauenhaft. Schon bei dem Gedanken wurde ihm übel. Was Ossians Eltern durchmachten, mochte er sich gar nicht erst ausmalen.
»Dieses Foto haben Sie alle per Mail bekommen«, sagte Julia zur versammelten Presse. »Sämtliche Informationen über den Aufenthaltsort von Ossian und der genannten Frau sind uns willkommen. Ich brauche nicht zu erwähnen, wie sehr die Zeit drängt.«
Wieder feuerten die Kameras ein Blitzlichtgewitter ab.
»Was sagen die Eltern?«, rief jemand, der nicht im Bild zu sehen war.
»Ossians Eltern sind Ihnen dankbar für Ihre Mithilfe«, sagte Julia. »Sie sind momentan zu angegriffen, um selbst ins Licht der Öffentlichkeit zu treten, und bitten dafür um Verständnis, haben jedoch eine Mitteilung an Sie verfasst.«
Das Foto von Ossian nahm nun fast seinen gesamten Monitor ein. Darüber wurde ein Text eingeblendet.
Das hier ist Ossian. Er singt und tanzt so gern. Ossian ist unser Ein und Alles. Bitte helfen Sie uns, ihn zu finden, damit bei uns zu Hause bald wieder seine Stimme erklingt.
Darunter standen eine Telefonnummer und die Adressen verschiedener sozialer Medien.
»Jeder Hinweis kann Gold wert sein«, sagte Julia. »Kontaktieren Sie die Polizei auf Facebook und Instagram. Anrufen oder mailen können Sie natürlich auch. Und geben Sie bitte auch immer Ihre eigenen Kontaktdaten an, wenn Sie über den Fall schreiben. Manche Mitbürger rufen eher den Expressen an als bei der Polizei.«
»Haben Sie schon eine Tathypothese?«, fragte jemand.
Julia sah lange in die Richtung, aus der die Frage gekommen war. Ihr Gesicht wirkte angespannt. Vincent kam der Gedanke, dass er ihr vielleicht einen Schnellkurs im bewussten Einsatz ihrer Körpersprache angedeihen lassen sollte. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, der Polizei ein Training anzubieten. Dann würde Mina möglicherweise auch kommen. Nicht, dass sie auf diesem Gebiet Nachhilfe gebraucht hätte, ihre Körpersprache war immer ein Muster an Unmissverständlichkeit gewesen. Eine Erinnerung an Minas Art, sich zu bewegen, ging ihm durch den Kopf, und in seinem Bauch regte sich ein leichtes Flattern. Er musste die kleine Sequenz bewusst beiseiteschieben, wozu er eigentlich gar keine Lust hatte, aber er wollte auch nichts von der Pressekonferenz verpassen. Auf dem Bildschirm war jetzt wieder Julia zu sehen, die etwas gelöster wirkte und ihre Rückenmuskulatur entspannt hatte.
»Ehrlich gesagt, nein«, antwortete sie auf eine Frage.
Ihr Tonfall machte deutlich, dass die Pressekonferenz beendet war. Die Journalisten sollten diesmal anscheinend einen Großteil der Arbeit selbst machen. Mina würde offenbar nicht mehr auftauchen. Vielleicht war das auch besser so, denn er hatte keine Ahnung, wie er reagiert hätte, wenn sie auf einmal da gewesen wäre.
Die Haustür wurde geöffnet, und Maria kam herein. Schnaufend hängte sie ihre Jacke auf und ließ sich dann neben Vincent auf das Sofa fallen.
»Versteh mich bitte nicht falsch, ich bin ja ungemein dankbar, dass er sich meiner annimmt«, sie streckte sich ausgiebig, »aber jetzt bin ich vollkommen am Ende.«
Nach dem letzten Existenzgründungsseminar hatte Kevin ihr angeboten, in Einzelstunden mit ihr weiterzuarbeiten. Vincent war nicht ganz klar, was er ihr noch alles beibringen wollte. Es ging doch letztendlich nur um einen Onlineshop, in dem man Keramikengel und Seife bestellen konnte. Sie hatte schließlich nicht vor, mit Amazon zu konkurrieren. Er sah diskret auf die Uhr. Sie war drei Stunden weg gewesen.
»Brauchst du denn all diese Beratungsstunden wirklich?«, fragte er. »Ihr trefft euch fast jeden Abend. Aston fragt ständig nach dir.«
Vincent biss sich auf die Zunge. Eigentlich wollte er großzügig sein und hinter ihr stehen. Maria brauchte etwas, das nur ihr eigenes Ding war. Etwas, wo sie glänzen und sich weiterentwickeln konnte. Und das hatte sie nun gefunden. Er selbst bekam in seinem Beruf viel Aufmerksamkeit. Er hatte ein Publikum, stand in der Öffentlichkeit und wurde von einer anonymen Masse bejubelt. Maria hatte nichts von alledem. Wenn er mit sich ins Gericht ging, musste er zugeben, dass er ihr wahrscheinlich auch nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdiente. Er wollte etwas sagen, blieb aber stumm. Ohne Anleitung war er hilflos.