R uben rieb sich seufzend das Gesicht.
»Ich verstehe nicht, wieso wir das zu zweit machen müssen«, sagte er.
»Weil es doppelt so schnell geht«, antwortete Christer. »Könnte es jedenfalls, wenn du uns endlich mal einloggen würdest.«
Ruben hatte nicht die geringste Lust, sich mit der Sexualstraftäterkartei auseinanderzusetzen. Dafür war er viel zu unruhig.
Eigentlich hatte er heute zu Ellinor fahren wollen. Doch daraus war nichts geworden. Ihm war natürlich klar, dass Ellinor warten konnte und Ossian nicht. Aber in seinem Inneren war etwas ins Rollen gekommen, und daher war ihm der aufgezwungene Stillstand zuwider. Er brauchte Bewegung.
»Ich sehe mal nach, was Peder und diese Sara machen.« Er stand auf. »Vielleicht haben die was für uns. Auf dem Rückweg bringe ich Kaffee mit.«
Christer schien zunächst Einspruch erheben zu wollen, aber der in Aussicht gestellte Kaffee brachte ihn zum Schweigen.
»Julia wird keine Freude an dir haben«, brummte er. »Nimm wenigstens die größten Becher.«
Ruben ging rüber zu Peders Büro und steckte den Kopf durch die Tür. Peder hatte Kopfhörer auf und notierte die aufgezeichneten Hinweise, während Sara einen Stapel ausgedruckter Mails durchging.
»Zum Glück arbeitet ihr hier und nicht drüben in der Datenanalyse.« Ruben lächelte Sara an.
Er hatte sie erst ein paar Mal kurz getroffen und immer den Eindruck gehabt, sie würde ihn nicht mögen. Er wusste zwar nicht, womit er diese Abneigung verdient hatte, aber er war fest entschlossen, etwas daran zu ändern. Sara sah gut aus und hatte einen wohlgeformten Körper, obwohl sie in seinem Alter und somit eigentlich etwas zu alt für sein früher bevorzugtes Beuteschema war. Amanda hätte das Wort »früher« mit bedeutungsschwangerem Blick wiederholt.
»Ich glaube nicht, dass ich es bei der Hitze überlebt hätte, zu Fuß dorthin zu gehen«, sagte er.
Sara musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Ein bisschen Bewegung kann nie schaden«, sagte sie kühl.
Verdammt. Bei diesen Temperaturen wurden alle so bissig.
»Habt ihr was Interessantes gefunden?«, fragte er sachlich, weil sein Versuch, nett zu sein, zu nichts führte.
Sara reichte ihm einen Stapel Papier.
»Das hier hat unserer Ansicht nach Priorität«, sagte sie. »Hoffentlich entdecken wir noch mehr Nützliches, aber die meisten Hinweise klingen leider ziemlich abwegig. Was nicht heißen muss, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Wir nehmen uns jedenfalls erst mal der glaubwürdigeren an.«
Es waren nur fünf Seiten. Ossians Entführer waren beeindruckend unauffällig vorgegangen. Bei einem der Hinweise hielt er plötzlich inne. Im Stadtteil Östermalm hatte jemand ein Kind durch eine Wand gehört. Die Information an sich unterschied sich nicht nennenswert von den anderen, aber die Adresse ließ ihn aufhorchen. Die Danderydsgatan. Wieso kam ihm die so bekannt vor?
Er griff zum Handy und schickte Christer eine SMS . Durchsuch die Sexualstraftäterkartei mal nach der Danderydsgatan. Ich bringe die ganze Kanne mit, schrieb er.
»Du weißt schon, dass ich nebenan sitze?«, rief Christer über den Flur. »Du kannst ganz normal mit mir reden.«
Sara musste laut lachen, und Peder blickte auf.
»Ruben?« Verwirrt nahm er den Kopfhörer ab. »Brauchst du was?«
»Zu spät«, sagte Ruben im Gehen. »Gut, dass du Unterstützung hast. Danke, Sara.«
Als er zur Kaffeemaschine ging, trat Julia am anderen Ende des Ganges aus ihrem Büro und eilte in die andere Richtung. Gleichzeitig bekam er eine SMS von Christer: Kein Suchergebnis. Gibt es auch Whisky zum Kaffee? Immerhin war der Kerl lernfähig.
Julia hielt sich ihr privates Handy ans Ohr und schien ihn nicht einmal wahrzunehmen. Ihre Haltung verriet, dass es um ihre Laune nicht zum Besten stand. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Christers Kaffee musste warten.
»Warte, Julia.« Er holte sie ein. »Du, ich habe da …«
»Du sollst doch auch Up&Go-Windeln nehmen«, fauchte sie ins Telefon. »Wenn du mit den Stoffdingern anfängst, kannst du sie selber waschen.«
Sie legte auf und sah Ruben an.
»Ja?« Schnaufend fächelte sie sich Luft zu.
Im Gang war so gut wie kein Sauerstoff mehr vorhanden.
»Tja, ich … Wie geht es dir denn eigentlich. Ich habe dich zwar nur von hinten gesehen, aber … ist alles in Ordnung?«
Julia kniff die Augen zusammen.
»Von hinten? Falls das eine sexuelle Anspielung sein sollte, habe ich sie nicht verstanden.«
»Nein, ich wollte nur … ach, egal«, sagte er. »Ich habe gerade einen Hinweis aus Östermalm gelesen. Danderydsgatan. Da hat jemand durch die Wand ein Kind weinen hören, obwohl der Nachbar keine Kinder hat.«
»Ja, solche Hinweise bekommen wir leider öfter«, seufzte Julia. »In dieser Stadt haben einige Familien nervöse Nachbarn.«
»Mag sein. Irgendetwas an dem Hinweis hat bei mir trotzdem die Alarmglocken läuten lassen. Christer hat zwar in der Danderydsgatan keinen Sexualstraftäter gefunden, aber mir geht die Straße nicht mehr aus dem Kopf.«
Julia sah ihn mit einer Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen an. Er kam nicht umhin, zu registrieren, dass sich nasse Flecken auf ihrem Oberteil abzeichneten. Dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben, nicht auf ihre Brüste zu starren.
»Das passt gar nicht zu dir, Ruben«, sagte sie. »Dich auf deine Intuition zu verlassen.«
»Ich weiß, Julia, aber ich glaube, da ist was dran. Ich kann es nicht erklären. Noch nicht. Aber irgendetwas ist da.«
Julia sah ihn lange an.
»Okay«, sagte sie dann. »Ich gebe dir eine Stunde, es mir zu beweisen. Länger können wir nicht auf dich verzichten. Dafür müssen wir zu viele Hinweise durchgehen.«
Eine Stunde. Ruben war sich sicher, dass er richtiglag. Die Frage war nur, wie er die anderen ohne handfeste Argumente davon überzeugen sollte. Dass er von der Danderydsgatan schon einmal gehört hatte, wusste er genau. Vor Jahren war das gewesen. Die Erinnerung daran spukte wie ein Gespenst in seinem Unterbewusstsein herum, flüchtig und kaum spürbar. Er hatte eine Stunde Zeit. Eine Stunde, um herauszufinden, wie sie Ossian retten konnten.