W ährend Vincent das gelbe Papier faltete und versuchte, sich an die Anleitung zu erinnern, betrachtete er die Fische im Aquarium. Die heutige Abendvorstellung fand ausnahmsweise in Stockholm statt, daher hatte er noch ein paar Stunden Zeit, bis er losmusste.

Als die Kinder klein gewesen waren, hatten sie sich ein »richtiges« Haustier gewünscht, womit in ihrem Kosmos eins gemeint war, das sie streicheln konnten. Sie hatten hoch und heilig versprochen, sich darum zu kümmern, aber er hatte gewusst, dass sie sich etwa eine Woche lang an ihre Versprechen halten würden.

Daher hatten sie sich für Fische entschieden, und er war auf den Amerikanischen Hundsfisch gestoßen. Aus irgendeinem Grund fand Aston den Namen der Art immer noch entsetzlich komisch, und außerdem fraßen einem diese Fische aus der Hand, wenn man sie fütterte. Das war natürlich nicht das Gleiche, wie einen Hund zu streicheln, aber immerhin.

Alle in der Familie, er selbst mitgerechnet, waren erstaunt gewesen, dass Vincent die Fische wirklich ins Herz schloss. An manchen Tagen hatte er das Gefühl, sie wären seine einzigen Freunde. Das waren die Tage, an denen die Schatten überhandnahmen. In letzter Zeit kamen sie häufiger vor. Dann hatte er das Gefühl, das, was Astronomen als Kernschatten bezeichneten, würde auf ihm lasten. Ein Ort, den nie das Licht erreichte. Die Mutter aller Schatten.

Wer die Mutter seines Schattens war, wusste er.

Er legte das fertig gefaltete Papier auf den Tisch und begann mit dem nächsten. Seine Mutter hatte heute Geburtstag. Dem Rest der Familie hatte er das aber nicht gesagt. Je weniger sie ihn nach seiner Vergangenheit fragten, desto besser. Er fuhr die letzten Falze nach und setzte die beiden Teile zu einem Tier zusammen. Das Modell war zu kompliziert, um aus nur einem Blatt Papier gefaltet zu werden. Jetzt fehlten nur noch die Flecken. Dann war die Origamiversion eines Leoparden fertig. Letztes Jahr hatte er ihr auch einen zum Geburtstag geschenkt, und er wollte diese Tradition von nun an fortsetzen. Als kleine Hommage an ihr Kleid am letzten Geburtstag, den sie zusammen gefeiert hatten. Das Problem war nur, dass ihn der Leopard auch an Jane erinnerte. Und mit ihr wollte er sich momentan nicht beschäftigen.

Er konzentrierte sich lieber auf die Hundsfische, die zur Familie der Umbridae gehörten. Mit den Buchstaben ließen sich die Worte Dubai, Radium oder Burma bilden, doch sosehr er sich auch bemühte, ein vollständiges Anagramm aller Buchstaben konnte er nicht daraus bilden, und ihm wollte auch beim besten Willen kein sinnvoller Bezug einfallen.

Er schüttelte den Kopf. An manchen Tagen erkannte er einfach keine Muster. Und manchmal schien es nur ihn und die Fische zu geben. Wenn das Haus, so wie jetzt, leer war, stellte er sich ab und zu vor, seine Familie wäre nur ausgedacht. Er hätte sie sich herbeifantasiert. Erst wenn Rebecka mit dem Handy vor dem Gesicht hereinkam oder Aston die Haustür aufriss und mit Schuhen auf die Toilette rannte, entspannte er sich.

Andererseits, wenn sie zu Hause waren, musste er sich bemühen, ihre Erwartungen an einen akzeptablen Vater und Ehemann zu erfüllen. Er hatte den Verdacht, dass er einiges zu wünschen übrig ließ.

Er schüttete sich ein wenig Fischfutter in die Hand.

Aber mit Mina.

Mit Mina war er immer er selbst gewesen.

Da hatte er sich nie bemüht, Erwartungen zu erfüllen.

Er war schon öfter bei diesen Gedanken verweilt. Auch wenn sie nicht konstruktiv waren. Denn Mina war Vergangenheit. Das musste er endlich akzeptieren. Mina war damals, nicht jetzt. Nicht einmal auf der gestrigen Pressekonferenz hatte er sie gesehen. Vermutlich lebte sie einfach ihr Leben.

Nicht leugnen ließ sich jedoch, wie gut es ihm mit Mina gegangen war. Ausschließlich gut.

Während ihn die Fische kitzelten, überlegte er, was das zu bedeuten hatte.