V incent saß in seinem Arbeitszimmer. Maria war noch mal zu Kevin gefahren, um an ihrer Verkaufsstrategie zu feilen. Vincent und sie hatten sich die Klinke in die Hand gegeben, als er vom Friedhof nach Hause kam. Kevin hatte offenbar eine gute Idee gehabt, die er ihr unverzüglich mitteilen musste. Rebecka war mit Aston im Kino. Noch vor einem Monat wäre so etwas undenkbar gewesen, doch seit Kurzem vergötterte Aston seine große Schwester, und Rebecka hatte anscheinend nichts dagegen, mit ihrem sieben Jahre jüngeren Bruder abzuhängen. Und das, obwohl sie einen Freund hatte. Wahrscheinlich war allen die Hitze zu Kopf gestiegen, aber insofern war ja ein klimatisiertes Kino mitten am Tag gar keine schlechte Entscheidung.

Benjamin war in seinem Zimmer und machte, was Einundzwanzigjährige so machten, wenn sie sich in ihre Zimmer zurückzogen. Vincent hoffte, dass er Immoscout nach geeigneten Wohnungen durchforstete.

Den Samstagnachmittag hatte er jedenfalls ganz für sich.

Früher war es kein Problem für ihn gewesen, mit seinen Gedanken allein zu sein. Doch seit Jane die ganze Vergangenheit, die mit seiner Mutter zusammenhing, wieder hochgeholt hatte, war das anders. Nun musste er sich ablenken, um seine Gedanken in Schach zu halten. Ihnen freien Lauf zu lassen, war viel zu gefährlich.

Er nahm den Zauberwürfel aus dem Regal hinter dem Schreibtisch und betrachtete ihn von allen Seiten. Mina hatte ihm den Würfel geschenkt. Er hatte schon einmal versucht, das Rätsel zu lösen, aber die Einzelteile saßen zu locker, als dass er gewagt hätte, sie zu verdrehen. Wieder fragte er sich, was sie eigentlich mit dem Würfel angestellt hatte. Es sah fast so aus, als wäre er komplett auseinandergefallen und wieder zusammengesetzt worden. Der Würfel weckte Erinnerungen, mit denen er nicht umgehen konnte. Minas Wohnzimmer mit dem Würfel auf dem Schreibtisch. Er spürte ein Stechen in der Brust und merkte, dass seine Gedanken auf dem besten Weg waren, an genau den Ort zu wandern, dem er nach Kräften auswich. Er zog die Schreibtischschublade heraus, um den Würfel aus seinem Blickfeld zu verbannen. Da sah er den Umschlag mit dem Weihnachtsmannsticker in der Schublade liegen. Nach kurzem Zögern nahm er das Kuvert heraus.

Die Weihnachtskarte hatte er gute zwei Monate nach Beendigung seiner Zusammenarbeit mit der Polizei erhalten. Die Karte war nur eins von zahllosen selbst gebastelten Rätseln und Puzzleteilen, die ihm verschiedenste Privatpersonen aus der Bevölkerung nach Bekanntwerden seiner persönlichen Rolle in dem Fall geschickt hatten.

Wenn er ehrlich war, hatte es ihm sogar Spaß gemacht, einige der Rätsel zu knacken, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es sich nicht um versteckte Morddrohungen handelte. Einige waren recht simpel gestrickt, andere weitaus komplizierter. Manche waren vollkommen unbegreiflich. Wie zum Beispiel diese Weihnachtskarte. Im Umschlag steckten, abgesehen von der nicht beschrifteten Standardkarte aus dem Supermarkt, bunte Papierschnipsel, die an Tetris erinnerten.

Er schüttete sie über seinem Schreibtisch aus und wurde sofort wieder vom selben Gefühl wie beim ersten Mal übermannt. Dass dieses Puzzle anders war, hatte er sofort gespürt. Er konnte es nicht rational begründen, aber der Anblick der rechtwinkligen Teile hatte ihn mit einem undefinierbaren Unbehagen erfüllt, und dieses Gefühl hatte nichts von seiner Intensität eingebüßt.

Auf jedem Stück Papier standen einige Buchstaben, und man musste die Teile ganz offensichtlich zusammenlegen, um die Botschaft lesen zu können. Der Absender hatte ihn jedoch zunächst in eine Falle gelockt. Vincent grinste in sich hinein. Das gelang nicht vielen, und er wusste diese Leistung durchaus zu schätzen. Da die Form der Teile die Assoziation mit dem Computerspiel Tetris weckte, hatte er zuerst versucht, die Kanten direkt aneinanderzulegen. So, wie man es bei dem Spiel machte. Es kam jedoch keine lesbare Nachricht dabei heraus.

Am Ende war ihm klar geworden, dass die Ähnlichkeit mit Tetris eine falsche Fährte war. Die vertrauten Formen hatten ihn automatisch dazu verleitet, in gewohnten Bahnen zu denken. Und dadurch verriet der Absender, dass er sich durchaus mit Vincents Vergangenheit als Zauberer beschäftigt hatte. Die Aufmerksamkeit des Publikums auf die falsche Sache zu lenken, war nämlich ein Tragpfeiler aller Zaubertricks. Misdirection nannte man das in der Magiersprache.

Gleichzeitig hieß das, dass er dieses Puzzle von jemandem erhalten hatte, der Recherchen über ihn angestellt hatte. Was kein besonders angenehmer Gedanke war. Nachdem er seinen Irrtum bemerkt hatte, war es ihm innerhalb von Sekunden gelungen, die Botschaft zu entschlüsseln. Dafür hatte er sich lediglich auf den Text konzentrieren müssen. Und es gab nur eine Lösung.

Er legte die Papierteile so zusammen wie schon viele Male zuvor. Der Text war immer noch unbegreiflich. Und also, gieriger Tim! Beim ersten Lesen war er beleidigt gewesen – er war nicht gierig, und er hieß auch nicht Tim. Dann hatte er begriffen, dass sich vermutlich ein Code dahinter verbarg. Die Frage war nur, was für einer.

Er hatte nach Unregelmäßigkeiten in der Handschrift gesucht, aber alle Buchstaben waren so wohlgeformt, dass sie völlig gleich aussahen. Damit war der Bacon-Chiffre schon mal ausgeschlossen, denn bei dem wurden zwei verschiedene Arten von Buchstaben verwendet. Er versuchte es auch mit dem ROT 13 -Code und weiteren, relativ weitverbreiteten Verschiebungen, bei denen jeder Buchstabe des Alphabets einem bestimmten anderen entsprach, aber bei diesen Methoden kamen selten so vollständige Wörter wie in der Nachricht heraus. Das Gleiche galt für alle Varianten, bei denen Buchstaben ausgetauscht wurden.

Er ging ins Wohnzimmer und legte das Album »Pollen« von AES Dana auf. Wie immer roch er zuerst am Vinyl, bevor er die Platte auf den Plattenteller legte.

Der Rest der Familie verdrehte über seine Vorliebe für physische Medien die Augen. Aber gebundene Bücher und Vinylscheiben hatten einen eigenen Geruch, der Abenteuer und überraschende Entdeckungen versprach. Streamingdienste waren praktisch, aber sie rochen nach nichts. Genau wie bei Kapselkaffeemaschinen wusste er die praktischen Vorteile zu schätzen, aber er fand, dass dabei immer ein Teil des Erlebnisses verloren ging.

Als die ersten Töne aus den Lautsprechern erklangen, drehte er die Lautstärke voll auf, weil er die Musik im Arbeitszimmer hören wollte. Man konnte über die Franzosen sagen, was man wollte, aber mit elektronischer Musik kannten sie sich aus. Vielleicht hatte Rebecka mit Denis doch keinen so schlechten Fang gemacht.

Er ging zurück zum Schreibtisch und betrachtete die kryptische Nachricht. Sie musste eine tiefere Ebene enthalten, die ihm bis jetzt entgangen war. Die einzige noch verbleibende Lösung war, dass es sich um ein Anagramm handelte, bei dem sowohl Groß- und Kleinschreibung als auch Zeichensetzung ignoriert werden und die Buchstaben in eine neue Reihenfolge gebracht werden mussten. Doch bei achtzehn Buchstaben ergaben sich Millionen von möglichen Kombinationen. Ohne bestimmten Anhaltspunkt brauchte er gar nicht erst anzufangen.

Seufzend steckte er die Papierteile wieder in den Umschlag. Es konnte natürlich auch sein, dass das Puzzle überhaupt keinen Sinn ergab. Vielleicht hatte er den Absender maßlos überschätzt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, Nonsens bekam er öfter zugeschickt. Zwei Dinge sprachen jedoch dagegen. Zunächst einmal das anhaltende Unbehagen, das ihn vom ersten Moment an beim Anblick des Puzzles erfüllt hatte.

Und zweitens hatte er vor einem halben Jahr wieder so eine Weihnachtskarte erhalten. Mit neuen Puzzleteilen.