A uf den Dächern der Reihenhaussiedlung in Vallentuna schimmerte die sonntägliche Vormittagssonne. Als er hier gewohnt hatte, waren die Häuser braun gewesen, aber irgendwann waren sie alle in verschiedenen Farben gestrichen worden. Ruben hatte schon vor einigen Tagen kommen wollen, aber die Suche nach Ossian war vorgegangen. Am Samstag hatte er alle Personen auf der af Chapman sowie die Angestellten des Nationalmuseums und der Königlichen Kunstschule befragt, die beide ganz in der Nähe lagen. Niemand hatte etwas gesehen. Klar. Adam hatte angeboten, am Sonntag mit den übrigen Anwohnern auf der Insel zu sprechen. Falls der Mörder mit einem Boot gekommen war, bestand natürlich die Möglichkeit, dass das von anderen Booten aus bemerkt worden war. Ruben hatte gesagt, er müsse noch etwas erledigen, würde aber später dazustoßen. Nun wünschte er plötzlich, er wäre direkt nach Skeppsholmen gegangen. Aber nein. Er würde jetzt tun, was er sich vorgenommen hatte.
Der Fall Ossian hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er brauchte dringend das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Oder es zumindest mal getan zu haben. Das freundschaftliche Verhältnis zu Gunnar und den anderen Männern war nicht das Gleiche, denn in ihrer Art von Gemeinschaft ging es immer auch um Konkurrenz. Wer hatte die beste Geschichte zu erzählen? Am Wochenende die größten Brüste gesehen, böse Jungs zur Strecke gebracht. Rustikales Schulterklopfen. Wenn’s drauf ankam, vertraute er ihnen blind, aber jetzt brauchte er etwas anderes.
Ellinor war leicht zu finden gewesen. Sie wohnte immer noch in dem Haus, in dem sie zusammengelebt hatten. Er saß im Auto und sah zu den Häusern hinüber. Das gelbe gehörte Ellinor. Ruben stieg aus und ging den schmalen Fußweg zur Siedlung hinunter. Auf dem kleinen Spielplatz in der Mitte spielten Kinder.
Kinder.
Auf den Gedanken war er gar nicht gekommen. Was, wenn sie verheiratet war und Kinder hatte? Es war ja Sonntag, und da war wahrscheinlich die ganze Familie zu Hause. Falls ihr Mann die Tür aufmachte, würde er sagen, er hätte sich in der Hausnummer geirrt.
Als er auf das gelbe Haus zuging, sah er tatsächlich ein Kinderrad auf dem Rasen liegen. Als ob er es mit seinen Gedanken heraufbeschworen hätte. Es war nicht eins von den kleinen mit Stützrädern, sondern ein größeres. Ellinor hatte schon seit einer ganzen Weile Familie. Er hatte mehr und mehr das Gefühl, dass es überhaupt keine gute Idee war, bei ihr vorbeizuschauen, aber nun konnte er es auch einfach zu Ende bringen. Denn sonst würde er nie aufhören zu grübeln.
Er stieg die wenigen Stufen hinauf und klingelte. Als er hinter der Tür Schritte hörte, wich er instinktiv ein Stück zurück, um nicht aufdringlich zu wirken.
Ellinor machte auf.
»Ja?«
Als Erstes fiel ihm auf, wie viel schöner sie geworden war. Als sie ihn verlassen hatte, war sie zwar auch schon eine Schönheit gewesen, aber nun war sie zehn Jahre älter. Zehn Jahre mehr Weisheit, zehn Jahre mehr Erfahrung, zehn Jahre mehr Leben. Sie war Mutter geworden. Hatte ihr eigenes Leben gelebt. All das war ihr auf den ersten Blick anzusehen. Und verschlug ihm den Atem. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn erkannt hatte. Dann zog sie die Augenbrauen hoch.
»Ruben Höök«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«
Das klang nicht wie: »Schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen.« Eher im Gegenteil. Hau ab, bevor ich meinen Mann hole.
»Hallo«, sagte er so freundlich wie möglich. »Entschuldige bitte, dass ich hier einfach so aufkreuze, aber ich dachte … können wir reden?«
Hinter ihr bewegte sich jemand. Er versuchte auszumachen, wer es war, aber Ellinor versperrte ihm den Blick.
»Es ist nichts, Astrid«, sagte sie. »Ich komme gleich.«
An Ellinors Mimik konnte er genau ablesen, wie weh er ihr getan hatte und wie gering ihr Bedürfnis war, sich damit zu beschäftigen.
»Astrid?«, fragte er vorsichtig.
»Du hast hier nichts verloren«, sagte sie. »Geh, bevor ich die Polizei rufe.«
Er riskierte ein Grinsen.
»Aber Ellie«, sagte er. »Ich bin die Polizei.«
»Du weißt, was ich meine. Und nenn mich nicht so. Komm nie wieder her.«
Plötzlich zwängte sich jemand zwischen sie und den Türrahmen.
»Guten Tag! Ich heiße Astrid. Wie heißt du?«
»Er geht jetzt, Astrid«, sagte Ellinor barsch. »Tschüss.«
Ellinor schob das Mädchen zurück ins Haus und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Dann schloss sie von innen ab. Er wich noch ein paar Schritte zurück und blieb auf dem Rasen stehen, weil er nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Hier konnte er jedoch nicht bleiben. Die Nachbarn würden argwöhnische Blicke herüberwerfen. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Aber ihr war es vielleicht nicht egal.
Langsam ging er zum Auto. Verdammte Scheiße. Psycho-Amanda hatte doch recht gehabt. Das hier war eine der blödesten Ideen, die er je gehabt hatte. Die Ellinor, die er geliebt hatte, mit der er zusammengelebt und die er enttäuscht hatte, die gab es nicht mehr. Übrig waren nur noch ein paar unliebsame Erinnerungen an ihn. Sie hatte einen Schlussstrich gezogen. Hatte eine Familie gegründet. Es war nicht ihre Schuld, dass er es nicht genauso gemacht hatte.
Er stieg ins Auto und blieb eine Weile lang einfach sitzen, bevor er den Motor anließ. Ellinor mit Kind war ein merkwürdiger Anblick. Ellinors Tochter hatte die Augen ihrer Mutter, aber den Mund von jemand anderem. Ellinor hatte immer volle und weiche Lippen gehabt, die im Sommer, wenn sie schwitzte, nach Salz schmeckten. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken als Ellinors Lippen. Er konnte es sich nicht noch einmal erlauben, in seinen Erinnerungen unterzugehen.
Das Mädchen hieß Astrid. Wie Rubens Großmutter. Ellinor hatte seine Großmutter geliebt, und die hatte die Liebe erwidert und fragte immer noch oft nach der süßen Verlobten, die er mal gehabt hatte. Leider hatte er ihre Fragen nie beantworten können. Doch schon morgen würde er wieder Gelegenheit dazu haben, denn montags trafen sie sich immer zum Kaffeetrinken. Diese Gewohnheit pflegten sie, seit sie in das Heim gezogen war, das zum Glück nur fünf Minuten vom Präsidium entfernt war. Morgen konnte er seiner Großmutter erzählen, dass es Ellinor gut zu gehen schien, und dass sie eine Tochter hatte, die denselben Namen trug wie sie. Das würde sie freuen.
Er holte tief Luft und trat aufs Gaspedal. Nun hatte er es hinter sich. Jetzt war die Sache abgeschlossen. Amanda würde stolz auf ihn sein.