I n Lillys Obduktionsprotokoll stehen noch mehr ungewöhnliche Dinge«, sagte Mina ins Telefon.

Ihr tat immer noch der Hals weh vom Schreien.

»Aber nichts, was uns bei Ossian weiterhelfen würde. Wir müssen wohl seine Obduktion abwarten.«

Sie hörte Julia am anderen Ende der Leitung seufzen.

»Adams und Rubens Befragungen haben noch nichts ergeben«, sagte ihre Chefin. »Und Peder konnte an den Spazierwegen keine Überwachungskameras entdecken.«

»Wie sieht es denn mit der Brücke aus, die nach Skeppsholmen rüber? Und auf der af Chapman müsste es doch auch eine geben?«

»Das Nationalmuseum hat gleich hinter der Brücke eine Kamera, aber die hat nur einen kleinen Bildausschnitt. Und wenn der Täter mit einem Boot gekommen ist, brauchte er die Brücke gar nicht zu benutzen. Man sollte zwar annehmen, dass die af Chapman eine Kamera an der Gangway hat, aber dort wird nur das Innere des Schiffes überwacht. Wir haben also rein gar nichts in der Hand. Ich dachte, du wüsstest schon mehr.«

»Leider nicht. Wie gesagt, im Obduktionsbericht stehen interessante Dinge, aber nichts, was uns im Fall Ossian nützlich wäre. Allerdings stimme ich Adam zu. Wir sollten den Fall Lilly noch einmal unter die Lupe nehmen.«

Wieder seufzte Julia.

»Dann werde ich mich jetzt noch unbeliebter bei Peders Frau machen, als ich es ohnehin schon bin, indem ich ihn wieder herbestelle«, sagte sie. »Mit ein wenig Glück erwischen wir Lillys Mutter heute noch. Der Vater ist verreist, das weiß ich. Aber du kannst heute sowieso nichts mehr tun. Melde dich, wenn dir noch was einfällt. Ansonsten sehen wir uns morgen.«

»Klar.«

Mina legte auf. Die unerwartete Begegnung mit Nathalies Vater hatte sie so aufgewühlt, dass sie nicht zu Julias Lagebesprechung gegangen war. Sie hatte das Gefühl gehabt, jeden Augenblick zusammenzubrechen, und falls es wirklich so weit kam, sollte es wenigstens nicht im Präsidium passieren. Zu Julia hatte sie gesagt, sie habe Halsschmerzen und wolle die anderen nicht anstecken, was angesichts der Tatsache, dass sie sich vor Kurzem heiser geschrien hatte, wenigstens zur Hälfte der Wahrheit entsprach.

Rastlos ging sie durch die Wohnung. Julia hatte ihr einige Aufgaben erteilt, die sie von zu Hause aus erledigen konnte, aber damit war sie bereits fertig, und daher brach sich ihr Gefühl, zu weit entfernt vom Mittelpunkt des Geschehens zu sein, ungehindert Bahn. Plötzlich fühlte sie sich in ihren gewohnten vier Wänden nicht mehr wohl. Sie brauchte Ablenkung. Sowohl Nathalie als auch Ossian gingen ihr die ganze Zeit durch den Kopf und hielten sie davon ab, konstruktiv zu denken.

Sie hatten Ossian nicht rechtzeitig gefunden. Damit mussten sie sich abfinden. Und Mina hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt. Doch Grübeln brachte auch nichts, das wusste sie. Gleichzeitig war sie froh, dass Julia nicht von ihr verlangt hatte, ins Präsidium zu kommen, weil sie immer noch viel zu durcheinander war.

Als ob es nicht gereicht hätte, dass in ihrem Kopf pausenlos der Fall Ossian abgespult wurde, gesellten sich jetzt auch noch ihre eigene Tochter und deren Großmutter dazu. Minas Mutter. Ines war noch immer nicht ans Telefon gegangen, obwohl die Nummer, die Nathalies Vater ihr auf den Zettel geschrieben hatte, garantiert stimmte. Es wäre natürlich ein Leichtes gewesen, mithilfe des GPS -Senders herauszufinden, wo sich Nathalie befand, und in ihrer Eigenschaft als Polizistin einfach hinzufahren, aber das hätte die Sache nicht besser gemacht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Und sich bang zu fragen, was Ines ihrer Tochter alles erzählen würde. Wenn sie ehrlich war, erfüllte dieser Gedanke sie mit lähmendem Entsetzen. Es gab Geheimnisse, die nie ans Licht kommen sollten. Geheimnisse, die nicht ans Licht kommen durften . Sie bildeten das Fundament, auf dem alles andere aufbaute. Ohne sie würde das Ganze einstürzen und Chaos ausbrechen. Und das würde keiner von ihnen unbeschadet überstehen. Aber im Moment konnte sie nichts dagegen machen. Nathalie war bei Ines, und sie musste einfach abwarten.

Warten war nicht gerade ihre Stärke, sie musste sich irgendwie ablenken. Sie griff zum Handy und scrollte durch die Apps. Sie hatte bereits alle Mails und die wenigen Textnachrichten beantwortet, die sie heute bekommen hatte. Vielleicht gab es noch etwas anderes zu lesen, einen wichtigen Artikel oder … Bei einem Flammensymbol vor orange-rotem Hintergrund hielt sie inne. Tinder. Dieser verdammte Ruben. Warum hatte er sie bloß dazu überredet, sich diese App herunterzuladen. Wobei, eigentlich hatte er das gar nicht, wenn sie ganz ehrlich war. Sie hatte die App nur heruntergeladen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber jetzt war er nicht hier und konnte sie auch nicht zwingen, die App zu öffnen. Andererseits war sie vielleicht die geeignetste von allen hirnlosen Ablenkungen. Und wer sagte eigentlich, dass sie sich nicht mal auf Tinder umsehen durfte. Moderne Menschen machten das ja heutzutage offenbar täglich. Ganz gewöhnliche Menschen. Und sie war schließlich keine alte Jungfer. Außerdem konnten die Männer in der App nicht sehen, dass man sich ihre Profile ansah. Das machte das Ganze leichter.

Hoffte sie jedenfalls.

Sie fuhr den Computer hoch und las zuerst ein paar Artikel aus dem Netz, quasi als Vorbereitung. Männern wurde anscheinend empfohlen, Fotos hochzuladen, auf denen sie mit ihren Haustieren, ihren Freunden oder – noch besser – mit ihren Familien zu sehen und aktiv waren. Denn solche Dinge machten Frauen angeblich an. Mina konnte die psychologischen Hintergründe natürlich verstehen. Männer, die fürsorglich und empathisch wirkten und nicht nur ein soziales Netz, sondern auch eigene Interessen hatten, kamen mit Sicherheit besser an.

Das Problem war natürlich, dass Hunderttausende dieselben Artikel lasen wie sie. Die Authentizität, die die Fotos verströmen sollten, wurde dadurch schon im Keim erstickt.

Sie holte tief Luft, desinfizierte ihren Handybildschirm und registrierte sich bei Tinder.

Der erste Mann, der ihr präsentiert wurde, hielt stolz – Minas Meinung nach zu stolz – einen Fisch in die Höhe, den er höchstwahrscheinlich selbst gefangen hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wusste nicht, wie sie die Information einordnen sollte. War der Fisch als Haustier, als Hobby oder als Beweis seiner Leistungsfähigkeit zu verstehen? Oder vielleicht als Familienmitglied? Vermutlich symbolisierte er Männlichkeit. Die Fähigkeit, zu jagen und die Nahrung auch zu töten. Da der Mann auf dem Foto eine Sonnenbrille trug, konnte sie seine Persönlichkeit nur anhand des Fisches beurteilen.

Und der Tatsache, dass er keine Handschuhe trug.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

Welche Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte hätte sich von einem Mann anfassen lassen, der kürzlich voller Stolz eine große glibbrige Brasse hochgehalten hatte? Mina wurde schon bei der Vorstellung speiübel. Vorsichtshalber sprühte sie ihren Bildschirm noch einmal mit Desinfektionsmittel ein. Sie roch an ihren Fingern. Den Fischgeruch konnte sie fast schon erahnen.

Schnell wischte sie weiter.

Auf den nächsten Mann warf sie nur einen kurzen Blick, bevor sie die Bewegung wiederholte.

Nachdem sie etwa zehnmal gewischt hatte, stand zweifelsohne fest, dass alle Männer dieselben Artikel wie sie gelesen hatten. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie viele Bilder von Männern-mit-Großvätern, Männern-mit-ungewöhnlichen-Haustieren, Männern-beim-Krafttraining und sogar Männern-mit-Kuschelkissen sie gesehen hatte. Ganz zu schweigen von den völlig überproportional vertretenen Fotos von Männern-mit-Fischen. Wie zum Teufel kamen sie auf die Idee, ausgerechnet mit einem Fisch besonders attraktiv zu wirken. Noch so ein dicker Fang, und sie würde sogar ihre Augen desinfizieren müssen.

Sollte Ruben sie ruhig auslachen, jetzt reichte es.

Doch dann verharrte ihr Zeigefinger plötzlich reglos über dem Handybildschirm. Ein Mann mit dunklen Locken, lose zusammengesteckt zu einem Knoten. Kein richtiger Man Bun, aber fast. Dreitagebart. Er sah gut aus, aber nicht übertrieben gut. Sogar ein bisschen müde. Irgendwie … echt. Das Foto war kein professionelles Porträt, sondern ein nebenbei aufgenommenes Selfie. Trotzdem ein gelungenes Bild. Aber eben unprätentiös. Auf dem nächsten Foto saß er am Schreibtisch, den Kopf aufgestützt. Sein Blick war nicht in die Kamera, sondern auf jemanden gerichtet, der nicht zu sehen war. Weißes Hemd. Hochgekrempelte Ärmel. Vielleicht war er bei der Arbeit. Mehr Fotos gab es nicht. Kein Fitnessstudio. Kein Fisch. Sie atmete aus und las den Text.

»Ich heiße Amir und bin Jurist«, schrieb er. »Deswegen habe ich bisher auch nicht viele Hobbys oder private Interessen, aber das würde ich gerne ändern. Wollen wir das vielleicht zusammen machen?«

Ein Jurist. Ohne private Interessen. Aber er sah nett aus. Und im Gegensatz zu den anderen wirkte er nicht so … affig. Ein besseres Wort fiel ihr nicht ein. Ruben würde sich wundern. Sie wollte Kontakt zu Amir aufnehmen. Natürlich nicht, um sich mit ihm zu treffen, es gab schließlich Grenzen. Sie musste auch an Ossian denken. Aber in Zukunft würde sie sich nicht mehr anhören müssen, sie sei eine Sozialphobikerin und eine alte Jungfer. Sie legte den Zeigefinger auf den Bildschirm und zögerte eine Sekunde. Dann wischte sie schnell nach rechts, bevor sie es sich anders überlegen konnte.