DIE ZWEITE WOCHE

M ina starrte auf den Computerbildschirm und versuchte, sich zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie hatte am Abend zuvor nicht gut einschlafen können, weil die Begegnung mit Nathalies Vater sie den ganzen Tag nicht losgelassen hatte. Am Morgen hatte sie sich wie gerädert gefühlt.

Im Fahrstuhl des Präsidiums hatte jemand einen Zettel aufgehängt:

It’s Monday! Time to SHAKE IT UP !

Dieser Zettel lag nun zusammengeknüllt in Minas Papierkorb.

Sie blickte auf ihre leicht zitternden Hände. Unendlich viel Zeit und Energie hatte sie investiert, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Unendlich viele Erinnerungen hatte sie in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verbannt und gehofft, sie würden nie wieder zurückkommen. Doch irgendwie rettete das Leben die Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart hinüber. Eine einzige Begegnung mit Nathalies Vater hatte ausgereicht, um die letzten zehn Jahre, sogar mehr als zehn Jahre, korrigierte sie sich selbst, auszulöschen. Im Geiste war sie wieder mittendrin in allem, was damals passiert war. Obwohl sie sich bombensicher gewesen war, mit alldem abgeschlossen zu haben. Sie hatten doch eine Abmachung. Und sie hatte einen hohen Preis dafür gezahlt.

Am Vortag hatte sie mehrmals versucht, ihre Mutter zu erreichen, aber es war immer nur der Anrufbeantworter angesprungen. Im Grunde kreisten ihre Gedanken nur um die Frage, was ihre Mutter Nathalie alles erzählt hatte. Und was sie verschwiegen hatte.

Sie griff zum Handy und aktivierte die Tracking-App, um ihre Tochter wenigstens aus der Ferne zu sehen, aber die App hatte Schwierigkeiten, den GPS -Sender zu lokalisieren. Das war in letzter Zeit öfter passiert. Vielleicht ging die Batterie im Sender zur Neige. Er lag ja auch schon ziemlich lange in ihrem Rucksack.

Plötzlich gab das Handy in ihrer Hand ein Ping von sich. Der Empfang meldete Besuch für sie. Hatte ihre Mutter etwa doch getan, worum sie sie gebeten hatte, und war hergekommen?

Als sie den unbekannten Namen der Besucherin sah, stutzte sie. Das war nicht ihre Mutter. Trotz allem war sie erleichtert. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich schon bereit war für ein Treffen.

Sie wischte das Telefon mit einem Desinfektionstuch ab. Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl hinunter zum Empfang.

Dort erwartete sie eine elegant gekleidete Frau. Mina konnte gerade noch den Gedanken fassen, dass sie die Frau noch nie gesehen hatte, bevor diese die Arme ausbreitete und sie an sich drückte.

»Mina!«, rief sie. »Wie schön, dich endlich kennenzulernen!«

Die Synapsen in Minas Gehirn veranstalteten ein Feuerwerk. Tausend Gedanken gleichzeitig gingen ihr durch den Kopf. Hatte die Frau sich gewaschen? Wo war sie gewesen, wen hatte sie angefasst …? Sie spürte eine Million Bakterien über ihren Körper kriechen, und die Frau, die sie umschlungen hielt, kam ihr vor wie ein Wirtstier, das nun all seine Parasiten auf sie übertrug. Mina wollte sich losreißen, war aber gleichzeitig wie gelähmt. Sie konnte sich weder bewegen noch einen Ton herausbekommen.

Schließlich wich die Frau einen Schritt zurück. Mina unterdrückte den Impuls, sich die kontaminierte Kleidung vom Leib zu reißen und kreischend zur nächsten Dusche zu rasen.

»Ich glaube nicht, dass wir uns …«, begann sie.

»Deine Mutter hat mir schon viel von dir erzählt!«, fiel die Frau ihr ins Wort und strahlte übers ganze Gesicht, als wäre sie es gewohnt, für Fotos zu posieren.

Mitten im blanken Entsetzen wurde Mina bewusst, wie schön die Frau war. Volles dunkles Haar fiel ihr wogend über die weiße Seidenbluse. Ein passender weißer Seidenrock schmiegte sich eng an die langen schlanken Beine. Große blaue Augen kontrastierten effektvoll mit dem olivfarbenen Teint. Das kaum vorhandene Make-up war so gut wie unsichtbar, aber perfekt. Sie war eine auffällige Erscheinung. Und ganz offensichtlich eine Person, die andere gerne umarmte.

Mina wurde noch etwas klar. Sie hatte sich geirrt. Dieses Lächeln kannte sie. Sie wusste ganz genau, wer die Frau war.

»Meine Mutter?« Mina sah sich diskret um. »Wir gehen besser nach oben.«

Sie ließ die Frau durch die Sicherheitssperre und ging mit ihr zum Fahrstuhl.

»Entschuldige, ich dachte, sie hätte dir vielleicht erzählt, dass ich komme«, sagte die Frau, während sie hinauffuhren. »Ich heiße Nova. Ich arbeite mit deiner Mutter zusammen. Oder, besser gesagt, sie arbeitet mit mir zusammen. Wir zwei sind uns jedenfalls noch nie begegnet.«

»Stimmt, daran hätte ich mich erinnert«, sagte Mina. »Aber ich weiß, wer du bist. Vor ein paar Jahren hast du in meiner ehemaligen Abteilung einen Vortrag gehalten. Du hast von deinem Verein und diesem Philosophen erzählt, wie hieß er noch mal? Epson?«

»Epikur.«

»Ah. Komm mit, wir gehen in den Besprechungsraum.«

Eilig durchquerte sie den Gang, um Nova so schnell wie möglich außer Sichtweite ihrer Kollegen zu bringen.

»Du fragst dich zu Recht, warum ich gekommen bin«, sagte Nova. »Und nicht deine Mutter.«

Hinter sich hörte Mina Novas Absätze klackern.

»Ja. Schließlich habe ich sie angerufen«, sagte Mina trocken und öffnete die Glastür.

Nova setzte sich und griff nach der Packung Feuchttücher auf dem Tisch.

»Darf ich? Es ist so unfassbar heiß draußen.«

Mina nickte. Und nahm sich vor, die Packung später wegzuwerfen, weil Nova sie angefasst hatte. Nicht, dass das noch viel gebracht hätte, sie war bereits mit allem besiedelt, was Nova angeschleppt hatte. Menschen, die andere umarmten, hasste sie wirklich von ganzem Herzen.

Nova zog ein Tuch heraus und fuhr sich damit den Hals entlang, um sich abzukühlen. Dann wischte sie sich die Hände ab, bevor sie das Tuch zusammenknüllte und geschickt in den nächsten Papierkorb warf.

»So, worum geht’s?«, sagte Mina kühl. »Wo ist meine Mutter? Und wo ist Nathalie?«

Sie hatte eigentlich keine Zeit für dieses Gespräch, und dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als gründlich zu duschen oder sich am besten gleich sandstrahlen zu lassen, machte die Situation fast unerträglich.

»Sie hat mir alles erzählt.« Nova lächelte wieder auf ihre typische Art. »Über dich. Über euch. Über Nathalie. Du kannst auch mit mir reden. Deine Mutter steckt mitten in einem Entwicklungsprozess. Sie hat gerade ein Enkelkind bekommen. Sie ist noch nicht bereit, mit dir zu sprechen.«

Mina spürte Wut, altbekannte Wut, in sich aufsteigen. Das Gefühl war so stark und so intensiv, dass ihr die Tränen kamen.

»Ihr sogenannter Entwicklungsprozess interessiert mich nicht. Mich interessiert Nathalie. Und das gilt auch für ihren Vater. Ich nehme an, du weißt, wer das ist?«

Nova nickte.

»Ja, ich weiß, wer Nathalies Vater ist. Richte ihm aus, dass kein Grund zur Sorge besteht. Aber Heilungsprozesse sind fragil. Es wäre nicht gut für Nathalie, wenn sich jetzt jemand von euch einmischen und diesen Prozess unterbrechen würde. Wie gesagt, die beiden haben gerade erst angefangen.«

»Soll das eine Drohung sein? Ernsthaft? Du weißt schon, dass ich Polizistin bin, oder?«

Nova schüttelte seufzend den Kopf. Dann lächelte sie wieder.

»Was auch immer du davon hältst, deine Mutter hat sich auf eine ganz persönliche Reise begeben«, sagte sie langsam. »Sie hat ihr Leben zwar schon vor langer Zeit geändert, aber vieles aus früheren Zeiten ist noch immer nicht bearbeitet. Alles ist Leiden, Schmerz reinigt, wie mein Vater zu sagen pflegte. Nathalie ist ein Teil dieser Reise. Genau wie du.«

»Nathalie ist noch nicht volljährig«, sagte Mina. »Hältst du es wirklich für legitim, dass meine Mutter sich ihr ohne elterliches Einverständnis nähert? Ich bin kurz davor, euch wegen Kindesentführung anzuzeigen.«

Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Sich aufzuregen konnte sie sich nicht leisten. Es hätte Türen geöffnet, die sie nicht öffnen wollte. Ruhig. Und kontrolliert. So blieb eine wichtige Tür verschlossen.

»Kindesentführung«, wiederholte Nova. »Aha. Ich verstehe ja, dass dir der Fall mit dem verschwundenen Kind an die Nieren gegangen ist. Da ist es nachvollziehbar, wenn du die Welt noch eine Weile durch diesen Filter wahrnimmst. Und vielleicht hast du recht und es hätte tatsächlich ein Elternteil kontaktiert werden müssen. Aber deine Mutter trifft ihre eigenen Entscheidungen. Darüber habe ich nicht zu bestimmen. Auch wenn ich möglicherweise anderer Meinung bin. Aber sie ist und bleibt nun mal Nathalies Großmutter. Und es wurde kein Zwang ausgeübt. Die beiden lernen sich nur kennen. Nathalie kann jederzeit gehen, aber sie möchte eben noch ein paar Tage bleiben. Ich bin hier, um dich zu bitten, nicht zu intervenieren. Die beiden brauchen einander. Du bist die Einzige, die Nathalies Vater davon abbringen kann, ihr diese Chance zu verwehren. Ich kann ihn nicht anrufen. Das kannst nur du. Ich bin persönlich gekommen, weil ich dir in die Augen sehen wollte, wenn ich dir sage, dass ihr diesen Prozess zulassen müsst. Glaubst du, das wäre möglich?«

Mina sah Nova zweifelnd an. Sie war wütend und enttäuscht, weil ihre Mutter zu feige gewesen war, selbst zu kommen. Und sie empfand nichts als Abscheu vor dieser eleganten Frau, der die Hitze nicht das Geringste auszumachen schien. Mina hatte den Verdacht, dass sie die Geste mit dem Feuchttuch bewusst eingesetzt hatte. Nova saß da und war … unantastbar. Sie ging Mina auf die Nerven.

Andererseits musste sie zumindest die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass sich zwischen ihrer Mutter und ihrer Tochter vielleicht etwas Positives entwickelte. Auch wenn es wehtat, davon ausgeschlossen zu sein. Aber vielleicht würde sich das ja irgendwann ändern. Und außerdem hatte sie immer noch den GPS -Sender. Sie seufzte.

»Ich möchte eins klarstellen«, sagte sie. »Von den Dingen, mit denen du dich beschäftigst, halte ich überhaupt nichts. Persönlichkeitsentwicklung. Selbsthilfe. Heilung, Voodoo und der ganze Quatsch. Das sind alles nur Schmusedecken für Leute, die nicht mit ihrem Leben klarkommen. Wenn du mich fragst, seid ihr keinen Deut besser als eine Sekte.«

Zufrieden registrierte sie, dass das Lächeln aus Novas Gesicht verschwand.

»Du ahnst nicht, wie falsch du liegst«, sagte Nova. »Sektenentwöhnung ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit. Ich habe angefangen, mich für das Thema zu interessieren, als einer unserer Seminarteilnehmer von seiner Zeit in Knutby erzählte. Er war einer der ersten Aussteiger. Das war noch, bevor dort die Hölle los war. Mir wurde damals klar, dass wir eine wichtige Funktion erfüllen könnten. Unsere Philosophie eignet sich sehr gut, um Sektenaussteigern den Wiedereinstieg in ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen.«

»Oder nur einen Anbieterwechsel.«

»Ich meine es ernst. Wir neigen dazu, auf Sektenmitglieder hinabzuschauen. Wir halten diese Menschen für schwach. Und manipulierbar. Aber damit vereinfacht man die Sache zu sehr. Meistens geht es um Zugehörigkeit. Wer mit destruktiven Eltern aufgewachsen ist, hat später ein schiefes Bild von Beziehungen. Dann erwartet man geradezu, dass man unterdrückt wird. Genau das machen sich Sekten zunutze. Es kann aber auch umgekehrt sein. Manchmal glauben Menschen, die sicher und geborgen aufgewachsen sind, alle anderen wären nett. Ihnen fehlen die Schutzmechanismen. Das gilt ja nicht nur für Sekten. Ihr habt wahrscheinlich täglich mit solchen Phänomenen zu tun.«

»In Schweden gibt es doch gar keine Sekten«, sagte Mina. »Abgesehen von Knutby, aber das ist ja keine …«

»Es gibt etwa dreihundert bis vierhundert sektenähnliche Vereine in Schweden«, fiel Nova ihr ins Wort. »Dreißig bis vierzig davon werden als destruktiv beurteilt. Die Polizei sollte das wirklich besser im Auge haben.«

Mina wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie streckte die Hand nach den Feuchttüchern aus, ließ sie aber wieder sinken, als ihr einfiel, dass Nova die Packung angefasst hatte. Stattdessen zog sie ein Fläschchen Desinfektionsgel aus der Tasche.

Nova lächelte sie an. Schon wieder.

»Und was Selbsthilfe betrifft, du gehst doch selbst zu den AA «, sagte sie. »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du die zwölf Schritte absolviert hast. Glaubst du, das Programm hätte dir nicht geholfen? Und du wärst alleine besser zurechtgekommen?«

Mina runzelte die Stirn. Punkt für Nova. Die Meetings hätten Mina zwar beinahe das Leben gekostet, aber die Anonymen Alkoholiker konnten nichts dafür, dass Kenneth und Jane sie zufällig dort ausfindig gemacht hatten. Die AA waren ihre Rettung gewesen. Regelmäßig zu den Meetings zu gehen und dort auf andere zu treffen, die mit den gleichen Herausforderungen zu kämpfen hatten, war eine Hilfe gewesen. Allein hätte sie es nicht geschafft.

»Du hast mich überzeugt«, sagte Mina. »Ich werde mit Nathalies Vater reden. Unter einer Bedingung. Ines hat nicht meine Erlaubnis, Nathalie alles zu erzählen. Bestimmte Geheimnisse lässt sie ruhen.«

Nova nickte kurz.

»Ich werde sehen, was ich tun kann. Und ich entschuldige mich für die Umarmung. Mir war nicht klar, wie unangemessen diese Geste in Anbetracht deiner … persönlichen Vorlieben war.«

Nova warf einen vielsagenden Blick auf die Feuchttücher und das Gel. Mina seufzte. Warum konnte sie nicht etwas normaler sein? Und ein gewisses Maß an Schmutz tolerieren, so wie andere Leute auch. Andererseits waren die vermutlich ständig krank.

»Ich finde allein raus, du hast sicher viel zu tun.« Nova stand auf. »Ich rede mit deiner Mutter und du mit Nathalies Vater?«

Auf dieses Gespräch freute sich Mina nicht im Geringsten.

»Ich muss mit runtergehen und dich rauslassen«, sagte sie. »Allein kommst du nicht durch die Sperre.«

Das stimmte zwar, aber sie kaufte sich damit auch einige Minuten Galgenfrist bis zu dem Anruf bei Nathalies Vater. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter.

»Eine Sache noch«, sagte Mina, nachdem Nova durch die Sicherheitssperre gegangen war. »Nächstes Mal will ich mit meiner Mutter sprechen. Und nicht mit dir.«

Als Mina wieder oben im Besprechungsraum war, zog sie sich ihren Ärmel über die Handfläche und warf die Packung mit den Feuchttüchern in den Papierkorb. Dann griff sie zum Telefon. Aber sie rief nicht Nathalies Vater an, sondern wählte eine andere Nummer. Auf diese Gelegenheit hatte sie seit zwei Jahren gewartet.