S ie spazierten durch den Rålambshovsparken. Als sie das letzte Mal zusammen hier gewesen waren, hatte Schnee gelegen, und Vincent hatte ihr erklärt, was Bullet catch war. Jetzt knallte die Sonne vom Himmel. Im Schatten der Bäume picknickten Leute.

Unten an den Bootsstegen, die damals leer gewesen waren, lagen die Boote nun dicht an dicht. Mina fragte sich, ob Vincent auch eins hatte. Wenn, dann war es sicher ein Motorboot. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er geduldig gegen den Wind kreuzte und die Segel einholte. Ihr wurde bewusst, dass er immer noch nicht nach Nathalie gefragt hatte. Offensichtlich wartete er ab, bis sie so weit war. Es gab so viele Fragen, die sie ihm gerne gestellt hätte. Über Dinge, die gar nichts mit Nathalie zu tun hatten. Warum er sich nicht gemeldet hatte zum Beispiel. Wie es ihm ergangen war. Sie wollte ihm auch erzählen, wie es ihr ergangen war. Aber sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Daher holte sie tief Luft und begann, von Nathalie zu berichten, bevor sie der Mut ganz verließ.

»Gestern Morgen hat sich Nathalies Vater bei mir gemeldet«, sagte sie. »Sie lebt bei ihm. Weder ich noch meine Mutter haben Kontakt zu den beiden. Aber am Samstag hat meine Mutter Nathalie angesprochen, und seitdem ist sie bei ihrer Großmutter.«

»Und das erzählst du mir, weil …?«

»Ich nehme an, du weißt, wer Nova ist?«, fragte sie.

Vincent zog die Augenbrauen hoch und nickte.

»Sehr gut sogar«, sagte er. »Sie war nämlich …«

»Ich habe heute Morgen mit ihr gesprochen«, fiel Mina ihm ins Wort. »Meine Mutter lebt in einem Seminarhaus, das Nova betreibt, anscheinend arbeiten die beiden zusammen. Dort ist Nathalie jetzt. Ihr Vater war außer sich, als sie plötzlich weg war, und ich sollte ihn beruhigen. Allerdings weiß ich nicht, ob ich mir nicht auch Sorgen machen müsste.«

Vincent lachte auf. Sie runzelte die Stirn. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Gleichzeitig tat Lachen immer gut. Und war ihr viel lieber als das Gegenteil.

»Nova war letzten Freitag im Fernsehen«, sagte er. »Im Taxi habe ich vorhin was über Epicura gelesen. Und jetzt sprichst du auch noch über diese Leute. Das ist doch ein unglaublicher Zufall.«

»Wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür war, kannst du als Meistermentalist sicher am besten selbst ausrechnen«, sagte sie. »Möglicherweise liegt es aber auch nur daran, dass diese Nova gerade überall aufkreuzt. Ganz egal, ob sie willkommen ist oder nicht.«

»Nathalies Großmutter also«, fuhr Vincent fort. »Dann habe ich mich letzten Freitag ja doch nicht getäuscht. Ich hatte gleich das Gefühl, dass sie dir ähnlich sieht, aber ich dachte, meine Fantasie würde mir einen Streich spielen. Deine Mutter heißt also Ines? Sie war auch im Fernsehen.«

Mina wurde warm ums Herz. Warum auch immer er sich nicht gemeldet hatte, vergessen hatte er sie jedenfalls nicht. Und erst vor wenigen Tagen hatte er an sie gedacht.

»Du denkst also beim Fernsehen an mich?«, fragte sie.

Vincent musste husten.

»Äh, also …«, stammelte er. »Das klingt ja sehr … ich meine, wenn du es so sagst … ich wollte wirklich nicht …«

Da war er. Der Vincent, den sie in Erinnerung hatte. Immer in Sorge, er könnte einen Fauxpas begehen, weil zwischenmenschliche Beziehungen im Grunde ein Buch mit sieben Siegeln für ihn waren.

»Beruhige dich«, sagte sie. »Ich habe nur einen Witz gemacht.«

Vincent sah sie perplex an.

»Bevor die Überwachungskamera in deiner Wohnung kaputtging, habe ich dich noch viel öfter auf meinem Fernsehbildschirm gehabt.«

»Igitt, Vincent. Das ist creepy.«

Der Mentalist sah höchst zufrieden aus.

»Wie auch immer«, sagte sie. »Meine Mutter. Ich persönlich bekomme von solchen Institutionen ja Ausschlag. Persönlichkeitsentwicklung auf einem einsamen Gutshof … für mich klingt das nach Sekte. Das habe ich Nova auch gesagt.«

»Und was hat sie geantwortet?«

»Sie hat natürlich behauptet, sie seien keine Sekte. Aber mich interessiert viel mehr, wie du darüber denkst. Denn ich nehme mal an, du kennst sie. Zumindest als Kollegin. Ihr haltet doch über ähnliche Themen Vorträge. Muss ich mir Sorgen um Nathalie machen?«

Vincent schien eine Weile nachzudenken, bevor er antwortete. Der Spazierweg machte eine scharfe Kurve, und sie gelangten zum großen Amphitheater im Park.

»Wie du sagst, ist mir Nova bei verschiedenen Vortragsevents über den Weg gelaufen«, sagte er. »Sie hat einen interessanten und ganz persönlichen Ansatz, finde ich. Es werden ja heutzutage nicht mehr viele Vorträge über Philosophie gehalten. Ich würde aber nicht behaupten, dass wir uns gut kennen. Und über Epicura weiß ich noch weniger.«

»Okay, aber du verstehst etwas von der menschlichen Psyche. Und zwar mehr als jeder andere, den ich kenne. Wird Nathalie das alles guttun?«

»Soweit ich weiß, veranstaltet Epicura vor allem Seminare für Führungskräfte. Und abgesehen davon, dass die Gründerin Charakterzüge eines Gurus hat, treffen die klassischen Kriterien für eine Sekte hier nicht zu. Zunächst einmal bieten sie sogar Sektenentwöhnung an. Und Selbsthilfe ist manchmal einfach nur Selbsthilfe. Nathalie hat noch Kontakt zu anderen Leuten, hoffe ich? Kann sie jederzeit nach Hause fahren? Musste sie ihre Sachen abgeben? Verweist sie immer auf Novas Standpunkte, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt wird? Wirkt sie gestresst und erschöpft? Müde und labil?«

»Woher soll ich das wissen? Hast du überhaupt zugehört, als ich dir erzählt habe, dass sie bei ihrem Vater lebt? Ich habe nicht die geringste Ahnung, weil wir keinen Kontakt haben. Aber grundsätzlich sprechen wir hier von einem Teenager, und bei denen ist gestresst und erschöpft der Normalzustand, nehme ich an.«

Im Amphitheater setzte sich Vincent auf eine der Steinbänke. Dann nahm er zwei Wasserflaschen aus seiner Tasche. Sie bekam die eine. Eine Zeit lang starrte sie auf die Flasche. Sie versuchte, nicht an die vielen Hände zu denken, die die Flasche berührt hatten, bevor sie in Vincents Tasche gelandet war. Die Öffnung an die Lippen zu setzen, war vermutlich so, als würde man zwanzig verschiedenen Menschen die Handflächen ablecken.

Vincent wühlte in seiner Tasche und holte eine Packung Trinkhalme heraus. Sie atmete erleichtert auf. Er erinnerte sich noch.

Dankbar schraubte sie die Flasche auf, steckte den Trinkhalm hinein und trank das kühle Wasser. Am liebsten hätte sie es sich über das Gesicht laufen lassen, um sich zumindest vorübergehend ein wenig abzukühlen.

»Wie alle Selbsthilfebewegungen ist sicherlich auch Epicura etwas extrem«, sagte Vincent, nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte. »Aber wenn Nathalie eine Suchende ist, dann hätte sie es auch schlechter treffen können. Entweder der Epikureismus ist was für sie, oder sie hat bald genug davon. Ich kann jedenfalls nichts Schädliches an den Ideen erkennen. Allerdings ist sie meiner Meinung nach ein bisschen zu jung für so eine Bewegung. Deine Mutter meint es bestimmt nur gut. Aber vielleicht wäre es keine schlechte Idee, mal mit ihr zu reden. Fahr einfach hin. Und sieh es dir an.«

»Das geht nicht.« Mina blickte in ihre Wasserflasche. »Bis zum Wochenende wusste Nathalie nicht mal, dass sie eine Großmutter hat. Und dass sie eine Mutter hat, weiß sie immer noch nicht.«

Sie fühlte sich auf einmal so schwach, dass sie am liebsten den Kopf an Vincents Schulter gelehnt hätte. Sie sehnte sich rein physisch nach Halt, aber so weit waren sie und Vincent noch nicht. Möglicherweise würde sich das entwickeln, sie wusste es nicht. Und außerdem hatte sie keine Ahnung, wie er das, was sie ihm eben erzählt hatte, aufgenommen hatte.

Vincent stand auf und sah sich um.

»Übrigens, eine Sache sollte man über Nova wissen. Sie ist eine von denen, die gerne ihre Mitmenschen umarmen. Nur dass du vorgewarnt bist.«

»Herzlichen Dank. Die Information hätte ich vor einigen Stunden gebrauchen können.«

Sie fragte sich manchmal, ob sie sich »Nicht anfassen!« auf ein T-Shirt drucken lassen sollte. Warum war es für manche Menschen so schwer zu begreifen, dass es nicht okay war, andere Leute ungefragt zu umarmen. Oder sich zu dicht neben sie zu stellen.

»Ich glaube, ich rieche immer noch nach ihrem Parfum«, sagte sie.

Vincent beugte sich vor, als wollte er an ihr schnuppern, schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen und wich stattdessen einen Schritt zurück.

»Ich mag diesen Park wirklich«, sagte er plötzlich. »Wusstest du, dass er einer der ersten funktionalistischen Parks in Stockholm war? Er wurde von Anfang an im Hinblick auf die Nutzung konzipiert und nicht vorrangig nach ästhetischen Kriterien. Nach und nach wurden dann alle Parks so gestaltet, und in Architekturkreisen entwickelte sich sogar der Begriff Stockholmstil. Erik Glemme und Holger Blom legten in den Dreißigerjahren diesen Park an, sie waren die Ersten. Ein Freilichttheater aus Beton. Spazierwege genau dort, wo sie sich auch von selbst gebildet hätten. Und vollkommen eben. Schau mal da.«

»Und was hat das alles mit Epikur zu tun?«, fragte sie, während sie in die Richtung sah, in die er zeigte.

Ein Stück von ihnen entfernt spielten Jugendliche mit nackten Oberkörpern Fußball.

»Das da drüben wäre nicht möglich gewesen, wenn hier lauter Bäume, Büsche und Hügel rumgestanden hätten«, sagte Vincent zufrieden.

Das Thema Epicura war offensichtlich vorübergehend vergessen. Wie schon so oft, hatte sich der Mentalist in einer eigenen Gedankenschleife verfangen. Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Auch an diesen Vincent erinnerte sie sich gut. Den Mann, der manchmal nicht merkte, dass es auch zu viele Informationen sein konnten. Sie sah ihn ohne die geringste Absicht an, ihn zu unterbrechen.

»Wer hat behauptet, dass Parks nicht praktisch sein dürfen?«, fuhr Vincent fort. »Außerdem gibt es hier einige verrückte Statuen.«

»Jetzt bist du innerhalb von zehn Sekunden von Nova zu Parkarchitektur und dann zu Statuen gesprungen«, sagte sie. »Nur dass du es weißt. Das müsste auch für dich ein Rekord sein. Welche Statuen?«

»Komm.«

Vincent ging auf die Fußballspieler zu. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Auf der Rasenfläche stand tatsächlich eine große Bronzestatue. Sie war mindestens drei Meter hoch. Trotzdem war sie ihr noch nie aufgefallen. Mina kniff die Augen zusammen, um die Statue im Ganzen zu betrachten. Sie sah aus wie eine spitze Schere, die in der Erde steckte. Anstelle von Griffen befand sich am oberen Ende eine Axt. Oder vielleicht war es auch eine stark stilisierte Gestalt auf zwei Beinen mit einer Axt als Kopf.

»Es gibt mehrere in dieser Art, aber die hier mag ich am liebsten«, sagte Vincent. »Sie heißt ›Monument eines Axtmanns‹. Der Künstler, Eric Grate, scheint ziemlich eigen gewesen zu sein. Für das Karolinska-Universitätskrankenhaus hat er auch eine Skulptur gefertigt. Das Kunstwerk war so umstritten, dass sie es dort zunächst gar nicht aufstellen wollten, aber jetzt steht es am Haupteingang. Das hier ist immer noch ein Rätsel. Niemand weiß genau, was er dem Betrachter damit sagen will, aber gewissen Theorien zufolge handelt es sich um eine Anspielung auf heidnischen Lebensstil. Siehst du den Phallus in der Mitte? Manche glauben, die Statue wäre eine Art Anbetung der Fruchtbarkeitsgöttin.«

Vincent blickte zum Axtkopf hinauf und schien in der Betrachtung der Lichtreflexe zu versinken. Mina sah ihm an, dass er noch nicht fertig war. Doch allmählich wurde das Ganze auch für Vincents Verhältnisse zu wirr. Mina hatte den Verdacht, dass er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte. Etwas, wofür er noch nicht die richtigen Worte gefunden hatte. Sie wartete. Aber es kam nichts.

»Die Fruchtbarkeitsgöttin. Aha«, sagte sie schließlich.

Vincent nickte, ohne den Blick von der Statue abzuwenden.

»Ich glaube, Maria hat eine Affäre«, sagte er dann.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht.

»Mit Kevin«, fuhr er fort. »Ein Mann, der sie bei der Unternehmensgründung berät.«

Ein kurzes Lachen, das fast wie ein Bellen klang, entfuhr Mina, bevor sie es unterdrücken konnte.

»Entschuldige«, sagte sie. »Kevin? Das klingt nach Tennistrainer.«

Vincent lächelte nicht.

»Soll ich ihn mir mal ansehen?«, fragte sie. »Ich weiß nicht genau, was ich tun kann, aber …«

»Auf keinen Fall.« Vincent sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich will nichts wissen. Sind wir fertig mit der Statue?«

Mina nickte, und sie gingen langsam weiter.

»Warum willst du nichts über ihn wissen?« Sie saugte am Trinkhalm.

Vincent zuckte mit den Schultern. Trotz der sengenden Sonne fand sie es schön, mit ihm durch den Park zu schlendern. Sie konnten einfach so tun, als wären sie aus erfreulichen Gründen hier und nicht, weil ihr über zehn Jahre sorgfältig errichtetes Kartenhaus im Begriff war einzustürzen und Vincent seine Frau zu verlieren drohte.

»Wenn sie eine Affäre hat, könnte das zwei mögliche Konsequenzen haben«, sagte er. »Entweder ist die Affäre ein Sprungbrett, dann verlässt sie mich seinetwegen. Und dann werde ich noch früh genug von der Affäre erfahren. Ich werde natürlich enttäuscht sein und mich hintergangen fühlen, aber diese Gefühle würden noch viel länger andauern, wenn ich schon vorher davon wissen würde. Es gibt keinen Grund, einer Sache vorzugreifen, die sowieso passieren wird. Oder sie braucht diese Affäre im Moment einfach, aber sie wird letztendlich wieder zu mir zurückkommen. Dann ist es besser, wenn ich erst gar nicht davon weiß. Dann stärkt die Affäre aus ihrer Sicht vielleicht sogar die Beziehung. Wenn ich jedoch von der Affäre weiß, könnte es sein, dass sie mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Und dann besteht die Gefahr, dass ich unsere Beziehung zerstöre, obwohl sie eine echte Chance gehabt hätte.«

Schweigend gingen sie weiter. Sie war sich nicht sicher, ob das, was Vincent ihr gerade erläutert hatte, das Vernünftigste war, was sie seit Langem gehört hatte, oder ob er emotional noch zurückgebliebener war, als sie geahnt hatte. Dass sie selbst nur ungern Menschen an sich heranließ, war eine Sache. Aber Vincent klang, als ob ihn seine Frau emotional überhaupt nicht berührte. Konnte man wirklich so rational sein, wie er behauptete? Und was wurde dann aus der Liebe?

»Bitte verzeih, wenn ich mich in etwas einmische, das mich nichts angeht«, sagte sie. »Aber möchtest du nicht wenigstens wissen, ob sie zu den Menschen gehört, die Affären haben?«

Sie hatten die Lilla Västerbron fast erreicht. Der Skaterpark unter der Brücke war voll. Das Scharren der Rollen auf dem Beton vermischte sich mit dem Hip-Hop, der aus diversen scheppernden Lautsprechern schallte. Sie verzogen die Gesichter und gingen zurück in den Bereich des Parks, aus dem sie gekommen waren.

»Weißt du«, sagte Vincent. »Ich glaube, die meisten Menschen sind zu fast allem fähig. Es kommt nur auf den Zeitpunkt und die Umstände an. Wir sind keine statischen Wesen. Die meisten Zellen werden regelmäßig ausgetauscht. Noch vor drei Wochen war deine äußerste Hautschicht eine vollkommen andere, dein Gehirn bildet neue Nervenzellen. Physisch betrachtet, bist du nicht mehr dieselbe wie vor fünf Jahren. Das Gleiche gilt für deine Ansichten, Meinungen und Gedanken. Die Mina von heute kann Dinge tun, zu denen die Mina von vor fünf Jahren gar nicht in der Lage gewesen wäre.«

Wie zum Beispiel in einen Container voller Nerze zu springen, dachte sie bei sich. Nicht, dass sie vorgehabt hätte, diese Heldentat jemals zu wiederholen. Aber sie verstand, was er meinte.

»Wahrscheinlich ist mindestens eine der vielen Versionen von Maria, mit denen ich im Laufe meines Lebens verheiratet sein werde, in der Lage, mich zu betrügen«, fuhr er fort. »Ich habe aber nichts davon, wenn ich weiß, ob sie es im Moment ist. Denn die nächste Version von Maria ist es vielleicht nicht. Möglicherweise würde sie es jetzt nicht tun, aber die nächste Maria entscheidet sich für einen anderen. Verstehst du? Nur über die jetzige Maria kann ich etwas wissen, aber da ich für den Rest meines Lebens mit zukünftigen Versionen von ihr verheiratet sein werde, bringt mir das nichts.«

»Das ist … speziell«, sagte Mina. »Und du bist dir sicher, dass du dir das alles nicht nur einredest, weil du im Grunde ganz froh wärst, wenn sie dich mit diesem Kevin betrügt, weil du vor zwei Jahren im Gondolen das Gleiche mit deiner Ex-Frau Ulrika gemacht hast?«

Vincent wurde blass.

»Ich wünsche Maria wirklich, dass ihre eventuelle Affäre weniger hasserfüllt sein wird. Aber klar, ich bin im Minus.«

Sie hatten den Ausgang des Parks erreicht und schlugen die Richtung zum Präsidium ein. Mina hatte ihre Wasserflasche ausgetrunken und warf sie in einen Papierkorb. Wenn Vincent schon so ehrlich über Maria sprach, sollte sie ihm vielleicht von Amir erzählen. Sie wurde zwar schon bei dem Gedanken nervös, aber sie wollte, dass er von Amir wusste.

»Apropos Veränderung.« Sie räusperte sich. »Du wirst es nicht glauben. Ich habe ein Date.«

Sie spürte, wie er erstarrte. Nur für einen Moment.

»Wer ist denn der Glückliche?«, fragte er nach einer Pause.

»Er heißt Amir. Er ist Jurist. Mehr weiß ich eigentlich nicht. Wir haben gechattet und dann … keine Ahnung, wie es passiert ist, aber wir sind verabredet.«

Auf der Straße war es wärmer als im Park. Zwischen den Häuserwänden staute sich die Hitze, und über dem Asphalt vibrierte die Luft.

»Du kennst doch die Fovea centralis, den Bereich des schärfsten Sehens«, sagte Vincent. »Diese sogenannte Sehgrube nimmt nur ein begrenztes Gebiet wahr. Um zum Beispiel die Häuser auf der anderen Straßenseite scharf zu sehen, muss sich dein Fokus permanent verschieben. Als würdest du dir bei einem Puzzle jedes Teil einzeln ansehen. Im Gehirn wird das Puzzle dann zusammengesetzt. Dein Auge jedoch sieht nie alle Teile, und daher malt das Gehirn die Lücken selbstständig aus. Einen Teil dessen, was du siehst, hat sich dein Gehirn also aufgrund von Vorannahmen erschlossen.«

Wieder einmal hatte Vincents Geist einen völlig unerwarteten Sprung gemacht. In gewisser Weise hatte Mina Verständnis für Maria. Es war vermutlich viel unkomplizierter, mit diesem Kevin zu reden. Aber auch viel langweiliger.

»Hast du schon wieder das Thema gewechselt?«, fragte sie. »Clever, Vincent. Aber hatten wir nicht besprochen, dass du soziales Verhalten üben musst?«

»Wieso, ich spreche doch von deinem Date«, sagte er. »Wenn wir jemandem ins Gesicht schauen, ist es genauso. Unser Fokus wandert im Dreieck zwischen Augen und Nasenspitze hin und her. Aber wenn wir jemanden anziehend finden, dann interessieren wir uns auch für, äh, wie soll ich es sagen … geschwollene und feuchte Körperteile, du weißt schon …«

Verstohlen betrachtete sie den Mentalisten von der Seite, der sich plötzlich eingehend mit dem unsichtbaren Dreck unter seinen Fingernägeln beschäftigte.

»Bist du etwa rot geworden, Vincent?«

»Wie auch immer.« Er räusperte sich. »Lippen zum Beispiel. Vor allem, wenn sie so rot sind wie deine. Also … Amir fand dich doch wahrscheinlich attraktiv, oder? Du merkst es jedenfalls daran, dass sein Blick von den Augen bis hinunter zum Mund wandert und nicht nur bis zur Nase. Der Mund ist erotisch, weil er …«

»Keine weiteren Details, bitte!« In gespielter Entrüstung wich sie einen Schritt zurück. »Außerdem ist es gar kein richtiges Date. Wir treffen uns nur im Mittelmeermuseum. Tagsüber.«

Sie näherten sich dem Präsidium. Drinnen erwarteten sie die Fotos von Lilly und Ossian, doch mit den Ermittlungen würde sie keinen Schritt weiterkommen. Sie wünschte, sie hätte mit Vincent im Park bleiben und sich weiter über Statuen unterhalten können.

Vincent rief per App ein Taxi und wurde direkt vor dem Haupteingang abgeholt. Schweigend sah sie ihm zu, während er die hintere Tür öffnete. Sie hatten seit zwei Jahren keinen Kontakt gehabt, nicht einmal per SMS . Und nun war es, als wären all die Monate ohne ihn nie passiert und sie beide immer verbunden gewesen. Sie war froh, dass er wieder da war. Sehr, sehr froh sogar. Und trotzdem verabschiedete er sich schon wieder. Er hatte ihre Fragen beantwortet, und sie musste weiterarbeiten. Sie wollte aber nicht, dass es schon vorbei war. Noch nicht. Verzweifelt suchte sie nach einem Grund, ihn aufzuhalten, aber ihr fiel keiner ein.

»Ich kann mich ein wenig über Epicura schlaumachen, wenn du möchtest«, sagte er. »Das kann ja nicht schaden. Und du solltest wahrscheinlich mal mit Nathalie reden. Ich glaube nicht, dass diese Führungsseminare auf Jugendliche zugeschnitten sind. Aber eins noch, Mina.«

Er drehte sich zu ihr um und zog eine Augenbraue hoch.

»Fovea centralis«, sagte er. »Denk dran.«

»Musst du nicht nach Hause?« Sie verschränkte die Arme.

Vincent lachte, stieg ein und zog die Tür zu. Sie sah dem Taxi nach, bis es um die Ecke gebogen war. Ein Teil von ihr verschwand mit ihm. Sie hätte ihn bitten sollen zu bleiben. Ohne besonderen Grund.

Einfach nur zu bleiben.

Doch das hatte sie nicht getan. Was Nathalie betraf, hatte er natürlich recht. Wenn ihre Tochter bis zum Wochenende nicht aus diesem Tagungszentrum zurückkehrte, würde Mina hinfahren und sie abholen. Den Ärger von Nathalies Vater musste sie in Kauf nehmen. Und wenn er ein Problem damit hatte, sollte er eben vorher selbst hinfahren. Nathalie hatte schließlich Sommerferien, und Mina hatte genügend Vertrauen zu ihrer Mutter, um die beiden noch ein paar Tage in Ruhe zu lassen. Sie hatte andere Dinge zu tun.

»Fovea centralis .« Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

Dates. Was für eine widerliche Erfindung.