N athalie wusste nicht, wo sie hinfuhren. Ohne weitere Erklärungen abzugeben, hatte Großmutter sie zu einem Auto hinter der Pferdekoppel mitgenommen. Sie hatte geglaubt, der Ort, den Großmutter erwähnt hatte, wäre in der Nähe, aber nun waren sie schon mindestens eine halbe Stunde unterwegs. Der Mann am Steuer hieß Karl. Er war groß und blond, hatte ein makelloses Lächeln und strahlte die gleiche Ruhe aus wie alle anderen Menschen, die sie bei Epicura gesehen hatte. Diese Ruhe machte sie neidisch.
Sie wäre auch gerne so zufrieden gewesen. Ohne den überbehütenden Vater, die Großmutter, von der sie nichts gewusst hatte, und die Freundinnen, die immer nur darüber nachdachten, was andere wohl über sie dachten.
Das Leben von diesem Karl konnte doch auch nicht völlig frei von Sorgen und Ärgernissen sein. Aber anmerken ließ er es sich jedenfalls nicht. Und sie musste zugeben, dass die Stimmung bei Epicura trotz des Hungers auf sie abgefärbt hatte. In den vergangenen Tagen war sie so entspannt und gut gelaunt wie schon lange nicht mehr gewesen.
»Was ist denn das für ein innerer Kreis?«, fragte sie ihre Großmutter, die auf dem Beifahrersitz saß.
Bevor Großmutter etwas sagen konnte, antwortete die Frau neben Nathalie auf der Rückbank.
»Was Nova bei Epicura lehrt, ist nur der erste Schritt«, sagte sie. »Denjenigen, die ihre Seminare besuchen, genügt das auch. Aber wenn man John Wennhagens Vermächtnis wirklich verstehen will, darf man sich nicht damit zufriedengeben. Aus Liebe macht Ines dir das große Geschenk, dich jetzt schon einzuweihen. Normalerweise dauert es viele Jahre, bis man zum innersten Kreis vordringt. Ich heiß übrigens Monica.«
»John Wennhagen?«, fragte Nathalie. »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, Novas Großvater hieß Baltzar.«
Ines drehte sich zu Nathalie um. Ihr Blick war voller Geheimnisse, aber auch voller Versprechen.
»John war Novas Vater«, sagte sie. »Der Einzige, der es wirklich verstanden hat. Wir haben seine Nachfolge angetreten.«
Sie bogen in einen Waldweg ein. Bäume sausten vorbei, und zwischen den Baumstämmen tanzten zittrige Sonnenstrahlen. Ein Stück weiter erblickte Nathalie ein größeres Gebäude. Plötzlich wurde ihr klar, dass niemand wusste, wo sie war. Sie selbst nicht. Und nicht einmal ihr Vater.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, rezitierte ihre Großmutter auf dem Beifahrersitz und ließ das Gummiband schnalzen.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, murmelten Karl und Monica im Chor.