H allo?«, sagte Mina fragend.
Der Anrufer unterdrückte seine Nummer. Mina war in der Hoffnung ans Telefon gegangen, es wäre doch nicht die Person in der Leitung, mit der sie gerechnet hatte.
»Ich bin es«, sagte eine männliche Stimme.
Seufzte. Natürlich war er es. Wer sonst rief sie am Abend an?
»Hast du sie erreicht?«, fragte Nathalies Vater. »Und was brummt da so?«
»Das ist die Klimaanlage. Und ich habe sie angerufen, aber noch nicht mit ihr gesprochen.«
»Dann ist die Sache entschieden. Es ist jetzt Montagabend. Sie ist immer noch nicht zu Hause. Ich schicke jemanden hin, der sie abholt. So geht das einfach nicht.«
Mina zwang sich, ruhig durchzuatmen, bevor sie antwortete.
»Tu das bitte nicht.« Sie bemühte sich, gelassener zu klingen, als sie in Wirklichkeit war.
Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, er wäre bei ihr, in ihrer Wohnung. Als würde er in die saubere Oase eindringen, die sie geschaffen hatte. Die Wohnung war ihr Schutzschild, ihr sicherer Rückzugsort, ihre Festung, aber er kam überall rein, wenn er wollte. So war es immer gewesen.
Er schwieg. Wartete auf eine Begründung.
Was sollte sie sagen? Dass Nathalie ihr mehr als alles andere auf der Welt bedeutete? Dass der Gedanke an Nathalie sie selbst in den schlimmsten Zeiten ihrer Krankheit aufrecht gehalten hatte? Dass die Abmachung, die Familie Nathalie zuliebe zu verlassen, sie beinahe umgebracht hätte? Worte nützten nichts, das wusste sie. Sie war erwachsen und selbst für ihre Handlungen verantwortlich. Aber sie war krank gewesen, verdammt. Wenn er wenigstens das verstanden hätte.
»Ich kann dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast.« Sie senkte die Stimme. »Oder wie du mit der Situation umgehst. Ich weiß, dass ich dazu kein Recht mehr habe. Aber diesmal bist du zu mir gekommen. Du hast mich um Hilfe gebeten. Also gib mir ein bisschen Zeit. Ich glaube, es könnte großen Schaden anrichten, jetzt einfach dazwischenzugehen. Außerdem hat Nathalie das Recht, Fragen zu stellen. Es ist verständlich, dass sie mehr wissen will. Sie braucht Zeit. Wir sind diejenigen, die ihr die Wahrheit vorenthalten haben. Es war nicht ihre Entscheidung, mit einer Lüge zu leben. Also handle bitte nicht voreilig. Gib mir die Chance, die Sache in Ordnung zu bringen. Mag sein, dass du mir nicht vertraust, aber vielleicht vertraust du Nathalie.«
Er atmete schwer. Das tat er immer, wenn er intensiv nachdachte. Sie wusste, dass er im Kopf zwei Listen aufstellte. Eine pro. Und eine kontra. An den schweren Atemzügen war zu erkennen, wie sorgfältig er sie gegeneinander abwog. Sie war selbst erstaunt, wie gut sie ihn immer noch kannte. Und wie vertraut ihr auch die ungesagten Dinge waren.
»Du bekommst deinen Willen«, sagte er schließlich. »Ich warte ab.«
»Danke.«
Erleichtert lehnte Mina sich an die Sofakissen.
Er schwieg. Sie überlegte, ob sie noch etwas sagen sollte. Ihre Schuldgefühle drängten sie dazu, irgendetwas zu sagen, das um Verständnis geworben hätte. Auch wenn es zu spät war. Doch der Augenblick verstrich. Er legte auf.
Stirnrunzelnd heftete sie ihren Blick auf den Fernseher und versuchte, sich wieder auf die Sendung zu konzentrieren, die sie verfolgt hatte, bevor das Telefon geklingelt hatte. Nicht, dass sie bei dem Lärm, den ihre zwei neuen Klimaanlagen verursachten, den Ton verstanden hätte. Eine stand im Wohnzimmer und eine im Schlafzimmer. Die Geräte bliesen kalte Luft in die Räume und leiteten warme Luft durch Schläuche, die sie durch die Fensterspalte gesteckt hatte, nach draußen. Ihre Wohnung war nun der einzige Ort, an dem sie nicht schwitzte. Sie fand es herrlich. Allerdings verstand sie ihr eigenes Wort nicht mehr.
Die Teilnehmer, die paarweise herumrannten und nervös in die Kamera grinsten, interessierten sie nicht die Bohne. Sie waren von Experten zusammengebracht worden und hatten sich vor dem Traualtar kennengelernt.
Die Gesellschaft hatte offenbar das zwanghafte Bedürfnis, aus Menschen Paare zu machen. Als ob das Dasein als Einzelwesen um jeden Preis ausgerottet werden müsste. War die Bibel verantwortlich dafür, dass Zweisamkeit die Norm war? Hatte das Ganze mit Adam und Eva angefangen, oder als immer zwei Tiere jeder Art auf Noahs Arche Schutz gesucht hatten? Die Arche der Menschen von heute hieß Tinder. Menschen klammerten sich verzweifelt an Apps, die ihnen die Hoffnung vermittelten, nicht in ihrer eigenen Einsamkeit zu ertrinken. Als ob Einsamkeit gefährlich wäre.
Schon die Geschichte von Adam und Eva hatte natürlich auch die Schattenseiten der Zweisamkeit gezeigt. Im Paradies gab es immer eine Schlange. Sie fragte sich, wie viele Paare in der Sendung wohl bis zum Ende der Dreharbeiten zusammengeblieben waren. Kein einziges, der eisigen Stimmung zwischen den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu urteilen. Es gab keinen mathematischen Liebescode. Das war eins der wenigen Dinge, die sie über die Liebe wusste.
Sie fragte sich, was Vincent dazu sagen würde. Vermutlich so einiges, garniert mit dem einen oder anderen Diagramm. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn die Gruppe ihn als externen Berater mit ins Boot geholt hätte und nicht Nova. Vor allem in Anbetracht der Sache mit Nathalie. Es konnte kompliziert werden. Und außerdem spielte Nova für Minas Geschmack schon eine viel zu große Rolle in ihrem Leben.
Sie hätten Vincent nehmen sollen.
Sie schaltete um zu einem Wissensquiz mit Prominenten, die gegeneinander antraten. Schon besser.
Vincent.
Auch er war in ihre Festung eingedrungen. Aber das war anders gewesen. Sie hatte ihn hereingelassen. Es war ihre Entscheidung gewesen. Und er hatte Verständnis gehabt. Bei ihm konnte sie so sein, wie sie war. Es hatte sich … gut angefühlt, als Vincent da gewesen war. Und der Spaziergang im Park hatte sich auch gut angefühlt. Vielleicht etwas zu gut. Sie wusste ja, was passieren konnte. Da war die Einsamkeit besser. In ihrer Festung.
Einsamkeit war Stärke.