N athalie durchwühlte ihren Rucksack, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Sie hatte meistens genug Wechselwäsche dabei, um spontan ein- oder auch zweimal bei Freundinnen übernachten zu können, aber nun waren alle sauberen Sachen längst getragen. Karl hatte ihr genauso ein weißes T-Shirt und eine weiße Leinenhose gegeben, wie sie auch Ines und Monica trugen, und das war bei der Hitze ganz angenehm, aber sie hätte auch gerne etwas Eigenes gehabt. Von der Unterwäsche gar nicht zu reden. Sie zog ein Ramones-Shirt aus dem Rucksack und roch daran. Tigerkäfig.

Wieder knurrte ihr der Magen. Es war nett, dass sie kostenlos verpflegt wurde, aber die Portionen waren viel zu klein. Ihr Magen hatte schon am Samstag protestiert, und nun war sie nahezu ausgehungert. Sie konnte kaum noch denken.

Ines und die anderen waren superlieb, und Nathalie war wirklich froh, ihre Großmutter kennengelernt zu haben, aber jetzt wurde es auch allmählich Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Mit ihrem Vater hatte sie seit ihrer letzten SMS keinen Kontakt gehabt, irgendwann war ihr Akku leer gewesen, und hier gab es natürlich weit und breit kein Ladegerät. Ihr Vater fand jedoch immer Mittel und Wege, das wusste sie. Vermutlich würde jeden Augenblick eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben um die Ecke kommen und sie abholen.

»Bist du auf dem Sprung?«

Sie blickte vom Rucksack auf. Karl stand in der Tür.

»Ja, ich muss nach Hause«, sagte sie. »Bevor mein Vater durchdreht. Hast du meine Großmutter gesehen? Ich möchte mich gerne noch von ihr verabschieden.«

»Ines hat noch etwas zu erledigen«, sagte Karl. »Sie kommt frühestens in einer Stunde wieder.«

Er drückte den Rücken durch und trat in den Schlafsaal, den sie mit den anderen teilte. Er war ausgesprochen groß. Und sah nicht schlecht aus, stellte Nathalie fest. Es war merkwürdig, aber da sie alle gleich angezogen waren, hatte sie fast das Gefühl, sie wären eine große Familie.

»Würdest du mir vielleicht bis dahin zur Hand gehen?«, sagte er. »Wir bauen um, und ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen.«

»Aber … ich verstehe gar nichts davon …«, begann sie.

Sie wollte gerade sagen, dass sie seit dem Werkunterricht in der Mittelstufe nichts mehr gebaut, und dass sie auch dort nur bescheidene Ergebnisse erzielt hatte, aber Karl brachte sie lachend zum Schweigen. Sein lautes Lachen klang nett, und wenn sie nicht so einen Hunger gehabt hätte, wäre ihr geradezu warm ums Herz geworden.

»Allerdings muss ich wirklich nach Hause«, wiederholte sie.

»Ich nehme an, du hast zumindest mal ein Foto von jemandem gesehen, der einen Hammer in der Hand hält«, sagte Karl und überging ihren Einwand. »Das reicht. Dein Vater kann noch ein bisschen warten.«

Er hatte natürlich recht. Sich für die Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen, war das Mindeste. Sie waren schließlich fast so etwas wie eine Familie. Sie legte sich eine Hand auf den Bauch, damit Karl das Knurren nicht hörte, und ging mit ihm nach draußen.