R ingsherum wurde fieberhaft gearbeitet. Mina wusste, dass sie sich guten Gewissens absentieren konnte. Auch die anderen wechselten sich ab, um ihre Kräfte zu schonen. Es war am besten so, da hatte Julia recht. Und Mina hatte nichts dagegen, den schwitzigen Dunstkreisen ihrer Kollegen für eine Weile zu entkommen. Doch obwohl sie das Präsidium innerhalb der nächsten fünf Minuten verlassen musste, wenn sie nicht zu spät bei Amir eintreffen wollte, fiel es ihr schwer, sich loszureißen.

Sie starrte die Materialien über Lilly und Ossian an, als könnte sie die beiden auf diese Weise zum Sprechen bringen. Mina hatte alles ausgedruckt, was vorhanden war, und auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet. Sie konnte besser denken, wenn sie die Dinge direkt vor sich liegen hatte und in den Unterlagen blättern und Passagen oder Einzelheiten unterstreichen oder ausschneiden konnte. Diese Arbeitsphase gehörte zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich selbst Unordnung gestattete. John Cleese hatte recht mit der Behauptung, dass man am Bildschirm nicht kreativ arbeiten konnte. Und Mina musste zumindest einen winzigen Anhaltspunkt finden. Denn irgendetwas stimmte nicht.

Bei allem Hin- und Herüberlegen kehrte sie doch immer wieder zu der Tatsache zurück, dass Lilly und Ossian zusammenhingen. Auch wenn sie mit ihren Vermutungen bezüglich des Wie nicht ganz so weit wie Nova gehen würde. Sie musste eine andere Verbindung finden. Eine, die sie bislang übersehen hatten.

Sie ging das Material noch einmal durch.

Auch Ossians My-Little-Pony-Rucksack lag auf ihrem Schreibtisch. Julia hatte ihren Zauberstab geschwungen und beim NFZ , dem Nationalen Forensischen Zentrum in Linköping, einen Aufschub erwirkt. Übers Wochenende durften sie den Rucksack behalten. Es war ein relativ neues Modell und völlig leer. Keine besonderen Merkmale.

Abgesehen davon, dass Christer gesagt hatte, der Rucksack gehöre gar nicht Ossian. Fredrik und Josefin, die Eltern von Ossian, hatten zu Protokoll gegeben, Ossian würde keinen derartigen besitzen. Christer hatte ihnen sicherheitshalber ein Foto geschickt, aber sie hatten diesen Rucksack wirklich noch nie gesehen. In der Kita hatte Ossian sich ihn auch nicht ausgeliehen. Ruben hatte extra angerufen, aber dort kannte niemand diesen Rucksack. Die Techniker hatten weder DNA noch Fingerabdrücke darauf sichern können. Und trotzdem war Mina überzeugt, dass jemand den Rucksack absichtlich neben der Leiche platziert hatte.

Aber warum?

In ihrem Hinterkopf regte sich etwas. Es war noch zu vage, um es als Gedanken zu bezeichnen. Doch der Rucksack erinnerte sie an etwas. Denn hatte es bei den Ermittlungen zu Lilly nicht auch Unregelmäßigkeiten gegeben? Vor einem Jahr hatte es sich um eine Bagatelle gehandelt, die angesichts der erbitterten Streitigkeiten zwischen den Eltern in den Hintergrund geraten war.

Mina breitete die Fotos aus Lillys Hefter vor sich aus und betrachtete sie zum wahrscheinlich hundertsten Mal. Las das Protokoll. Als Lilly aufgefunden worden war, hatte sie lauter Spielsachen, Haargummis und ein Poesiebild in den Hosentaschen gehabt. Die Eltern hatten alle Gegenstände Lilly zugeordnet.

Bis auf das Poesiebild.

Man war einfach davon ausgegangen, dass Lilly es von einer Freundin in der Kita geschenkt bekommen hatte. Aber welche Kinder sammelten heutzutage noch Poesiebilder? Mina bezweifelte stark, dass Fünfjährige überhaupt wussten, was das war. Sie selbst hatte seit einem Zahnarztbesuch in ihrer Kindheit keins mehr gesehen. Die Motive hatten bei den Poesiebildern keine Rolle gespielt, es war nur auf möglichst viel Glitzer angekommen. Das Problem war, dass die Glitzerpartikel an den Fingern kleben geblieben waren. Bei der Erinnerung daran lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hatte ihr Bildchen immer in einem kleinen Beutel mitbekommen. Und zu Hause hatte ihre Mutter es in ein Poesiealbum geklebt. Sie selbst hatte die Bilder darin nie berührt. Aus Angst, mit Glitzer bestäubt zu werden, hatte sie nicht einmal in dem Album geblättert. Trotzdem hatte sie immer Bilder mit Glitzer gewollt.

Sie nahm das Foto von den Gegenständen aus Lillys Taschen in die Hand. Der Gummitroll. Der Stein. Das Poesiebild. Alles lag ordentlich aufgereiht neben einem Zettel mit einer Nummer. Was Lillys Poesiebild darstellte, war nicht genau zu erkennen, aber es glitzerte jedenfalls nicht.

Irgendetwas an dem Bildchen war seltsam.

Auf dem Foto waren kaum Details zu erkennen, doch das Bildchen sah zu … glatt aus. Ein Stück Papier, das in der Hosentasche eines Kitakinds gewesen war, hätte zerknittert und leicht verdreckt sein müssen. Nicht sauber und intakt.

Es sah aus, als hätte jemand das Bildchen später dazugelegt.

Genau wie Ossians Rucksack.

Mina loggte sich ins System ein, suchte im digitalen Archiv nach den Dokumenten über Lilly und holte sich das Foto, das auf ihrem Schreibtisch lag, auch auf den Bildschirm. Dann zoomte sie das Sammelbildchen so nah wie möglich heran.

Sie schnappte nach Luft. Studierte Ossians Rucksack. Ließ ihren Blick wieder zu dem Bildchen auf dem Monitor wandern. Noch mal zurück. Nein. Das konnte nicht sein. Der Gedanke war absurd. Vermutlich ging ihre Fantasie mit ihr durch, weil sie so verzweifelt nach einem Zusammenhang gesucht hatte. Dieser hier war mehr als vage. Und außerdem völlig rätselhaft.

Doch was, wenn es nicht so war? Wenn der Zusammenhang doch nicht so vage war?

Allmählich begriff sie, wie Vincent sich fühlte.

Mit dem Foto in der Hand rannte Mina auf den Flur und hastete zu Christers Büro.