D ie Klimaanlage im Eingangsbereich des Präsidiums funktionierte normalerweise besser als die im Rest des Gebäudes, aber nun konnte nicht einmal mehr sie etwas gegen die sommerliche Hitze ausrichten. Dafür waren die Fenster einfach zu groß. In der Eingangshalle stand man wie unter einem Vergrößerungsglas. Mina bildete sich ein, die Scheiben würden allmählich schmelzen. Feuchttücher hatte sie auch nicht mehr. Sie wischte sich die Stirn mit einem gewöhnlichen Papiertaschentuch ab und warf es angewidert in den nächsten Papierkorb. Eine Minute gab sie ihm noch. Höchstens.

Eine Sekunde, nachdem ihr dieser Gedanke gekommen war, tauchte hinter der Scheibe ein blonder Schopf auf.

Vincent kam herein und meldete sich an der Pforte an.

»Entschuldige bitte die Verspätung«, sagte er, als sie sich an der Sperre trafen. »Maria und ich haben uns gestritten und … den Rest willst du nicht wissen.«

»Wie du meinst.« Sie ließ ihn durch.

Da es viel zu heiß war, um die Treppen hochzusteigen, gingen sie direkt zu den Aufzügen. Beim letzten Mal hatte es ja gut geklappt.

»Wie ist es mit der Sache gelaufen, über die wir gesprochen haben?«, fragte er.

»Nathalies Großmutter ist auf einmal ihre beste Freundin«, sagte sie. »Ihrem Vater gefällt es zwar nicht, dass sie so lange von zu Hause weg ist, aber das ist sein Problem. Er ist nur auf sein Image bedacht. Ich habe vor allem Angst, dass Nathalie enttäuscht werden könnte.«

So viel hatte sie noch nie über Nathalies Vater erzählt. Vincent sah aus, als hätte er gerne noch mehr Fragen gestellt, aber er hielt sich zurück. Ein wenig Fingerspitzengefühl hatte er also mittlerweile.

»Bin ich diesmal offiziell hier oder nicht?«, fragte er stattdessen.

Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber er klang beinahe ein bisschen gekränkt.

»Zunächst einmal war das nicht meine Idee«, sagte sie. »Ich war von Anfang an der Meinung, wir sollten dich ins Boot holen.«

»Was war nicht deine Idee?«

»Die anderen haben … äh, sie haben sich entschieden, Nova als eine Art Beraterin zu engagieren. Als ob ich nicht schon genug mit ihr zu tun hätte.«

Vincent zog die Augenbrauen hoch.

»Ich habe sofort bezweifelt, dass sie uns viel nützt«, sagte sie. »Und ihr Besuch hat mich nicht eines Besseren belehrt. Allerdings hat sie in einem Punkt wahrscheinlich recht: Die beiden Morde weisen bestimmte Muster auf. Wir scheinen es mit einem Mörder zu tun zu haben, der gewisse Regeln befolgt. Auch wenn Nova sie lieber als Rituale bezeichnen würde. Wir brauchen aber keinen Selbsthilfeguru, der uns was über Gruppenverhalten erzählt. Wir brauchen jemanden, der was von der menschlichen Psyche versteht und die Handlungen des Mörders deuten kann. Wir brauchen einen Vincent.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Ansonsten ist Nova allerdings durchaus sehr kompetent, jedenfalls auf ihrem Gebiet. Und schön ist sie auch. Sie könnte die Ermittlungen gut in der Öffentlichkeit repräsentieren.«

Sie musste sich zusammenreißen, um nicht abrupt stehen zu bleiben. Den letzten Satz hätte er ruhig für sich behalten können. Wobei es ihr natürlich egal war, was er über Novas Aussehen dachte. Vollkommen egal.

»Nova ist übrigens hier«, sagte sie, während sie in den Fahrstuhl trat. »Schon wieder. Sie hat heute ein Gespräch mit Julia.«

»Ich würde mich freuen, kurz Hallo zu sagen.« Vincent überließ es Mina, den richtigen Knopf zu drücken.

»Mal sehen, ob wir dafür Zeit haben«, entgegnete sie.

Sie hatte plötzlich keine Lust mehr, sich zu unterhalten. Schweigend fuhren sie hinauf.

»Du«, sagte er, kurz bevor die Fahrstuhltür aufging. »Es ist schön, dich wiederzusehen.«

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. Er hatte das Gefühl, sie könnte in sein Inneres schauen. Doch sie sah nicht den Meistermentalisten. Sie sah stattdessen das, was ihn ausmachte. All das, was er sonst niemandem zeigte, aber ihr und nur ihr offenbart hatte. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht.

»Das geht mir auch so, Vincent«, sagte sie leise.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und sie traten in den Flur. Sie zeigte auf eine Tür.

»Ich weiß noch, wo dein Büro ist«, sagte er.

»Natürlich tust du das«, sagte sie. »Aber jetzt bitte keine numerologische Deutung der Quadratmeterzahl. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen.«

»Wie könnte ich?«, sagte er mit scherzhaft beleidigter Miene.

Mina öffnete ihre Bürotür. Auf dem Fußboden standen zwei Ventilatoren, die sich mit höchster Geschwindigkeit drehten, ohne das geringste bisschen Abkühlung zu bewirken. Sie wirbelten lediglich den Staub auf, den sie mittlerweile vermutlich größtenteils eingeatmet hatte. Aber es nützte nichts. Wenn sie das Fenster öffnete, kamen Schmutz und Abgase herein, was noch viel schlimmer war. Vincent trug diesmal ein kurzärmliges Hemd und keinen Anzug, aber sie sah, dass er genauso stark schwitzte wie sie.

»Du hast gefragt, ob du offiziell hier bist.« Sie zeigte auf den Schreibtisch. »Um die Wahrheit zu sagen, mal sehen. Genau deshalb bist du hier. Damit wir mal sehen.«

Sie klang viel autoritärer und schroffer als beabsichtigt.

»Hilf mir, Vincent«, sagte sie in freundlicherem Ton. »Hilf mir, klar zu sehen. Oder mach mir klar, ob ich mir nur etwas einbilde. Ich brauche dich.«

Auf der einen Hälfte des Schreibtisches lagen Ossians Rucksack, die Fotos, die sie von Josefin und Fredrik bekommen hatten, und ein Protokoll der laufenden Ermittlungen. Auf der anderen Hälfte lagen die vergrößerten Bilder der Gegenstände aus Lillys Hosentasche sowie der entsprechende Bericht und weitere Fotos. Mina hatte die Dinge bewusst so platziert, dass keins exponierter wirkte als das andere. Sicher waren auf dem Tisch Hunderte von Informationen zu finden, die sich auf Tausende Arten kombinieren ließen. Es wäre verheerend gewesen, Vincent gleich in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie wollte schließlich wissen, worauf er von sich aus kam.

»Das hier ist alles, was mir über die beiden Fälle vorliegt, von denen ich dir letztes Mal erzählt habe«, sagte sie. »Was siehst du?«

Vincent trat an den Schreibtisch und rieb sich das Kinn. Vielleicht täuschte sie sich, aber es klang, als hätte er einen wohligen Seufzer ausgestoßen.

»Ich nehme an, du willst von mir wissen, ob es einen Zusammenhang gibt. Darf ich?«

»Das ist natürlich alles vertraulich. Aber anfassen darfst du die Sachen schon.«

Als Erstes studierte er die Porträtfotos von Ossian und Lilly. Sie vermutete, dass er nach Ähnlichkeiten suchte. Er blätterte im Bericht und blickte dann wieder auf die Fotos. Diesmal schien er die Kleidung zu fokussieren.

»Ähnliches Vorgehen, aber andere Entführer …«, murmelte er. »Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Hm.«

Er deutete auf die Gegenstände.

»Und das hier hatten Ossian und Lilly bei sich, als sie aufgefunden wurden?«

Sie nickte.

»Dieses Poesiebild.« Er zeigte auf das Sammelbildchen. »Das ist ganz neu. Angesichts des Zustands der anderen Gegenstände aus Lillys Hosentaschen gehörte es wahrscheinlich nicht ihr. Und dieser Rucksack gehört laut Aussage der Eltern nicht Ossian, ist also nachträglich dazugelegt worden.«

Es war ihm sofort aufgefallen. Vincent nahm den Rucksack in die Hand. Mina hielt den Atem an.

Rings um den Schriftzug »My little Pony« waren sieben Ponys mit großen Augen abgebildet. Sie waren alle bunt und lachten fröhlich. Das Pony ganz hinten hatte sogar Flügel.

Lillys Poesiebild war zwar auch gemalt, wirkte aber realistischer. Es war eine stürmische See darauf zu sehen, und genau dort, wo sich die Wellen brachen, bäumte sich ein Vollblutaraber auf.

»Pferde«, sagte er. »Zweimal Pferde.«

Sie atmete auf. Er hätte so viele andere Zusammenhänge nennen können, aber ihm war genau das Gleiche aufgefallen wie ihr. Der Polizei jedoch hatten die Beweisstücke aus dem Fall Lilly ein ganzes Jahr vorgelegen. Vincent hatte knapp neunzig Sekunden gebraucht.

»Das war auch mein Gedanke«, sagte sie. »Aber ist das ein Muster?«

»Das lässt sich so nicht sagen.« Er öffnete den Rucksack. »Wahrscheinlich eher Zufall. Abgesehen davon, dass beide Gegenstände später hinzugefügt wurden. Was sagt denn Nova?«

»Über die Pferde? Nichts. Die habe nur ich gesehen. Und du. Nova hat die bescheuerte Theorie, für den Mörder hätte Wasser eine symbolische Bedeutung. Und die Zahl Drei. Sie glaubt, die Morde wurden von einer Gruppe mit einem im Hintergrund agierenden Anführer verübt.«

»Die Morde sollen also geplant gewesen sein?« Vincent runzelte die Stirn. »Seht ihr das auch so?«

Er war auf ihrer Seite. Sie hätte ihn küssen können. Im übertragenen Sinne, natürlich. Sie hatte es sich nur vorgestellt. Nicht bildlich vielleicht, aber … eigentlich doch. Wenn sie ehrlich war, sah sie es sogar ziemlich klar vor sich. Was war bloß los mit ihr? Sie musste sich am Riemen reißen, bevor Vincent etwas merkte.

»Konzentrieren wir uns lieber auf das, was wir beide hier entdeckt haben«, schlug Vincent vor. »Um das Vorliegen eines Musters mit Sicherheit festzustellen, brauchen wir drei vergleichbare Informationsträger. Das gilt für unsere Pferde genauso wie für Novas Wassertheorie. Wir haben erst zwei Elemente. Das dritte würde das Ganze stabilisieren. So ähnlich, wie wenn du Punkt A und Punkt C verbindest. Um ganz sicher zu sein, dass die Linie gerade ist, brauchst du noch einen Punkt B zwischen den beiden.«

»Wovon redest du?«

Er legte den Rucksack wieder auf den Tisch und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. Er wischte sich damit über das Gesicht, um seinen Schweiß zu trocknen, und steckte es anschließend wieder ein.

»Sei unbesorgt«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. »Ich weiche sie zu Hause in Chlor ein. Falls du das nicht lieber selbst …?«

Er zog das Taschentuch ein Stück heraus und sah sie dabei bedeutungsvoll an.

»Möglicherweise ist deine Mitarbeit bei der Polizei gleich beendet«, sagte sie.

Er schob das Taschentuch wieder hinein und rieb sich zu ihrer Erleichterung die Hände mit dem Desinfektionsgel ein, das auf dem Tisch stand.

»Nun zu Lilly und Ossian«, sagte er. »Muster oder nicht? Die Frage ist scheußlich, aber … gibt es nur die zwei? Keine weiteren toten Kinder in diesem Zeitraum?«

»Ich finde zwei schon viel zu viel.« Sie schüttelte den Kopf. »Hätte es noch einen Fall gegeben, wüssten wir davon.«

Sie setzte sich an den Rechner und loggte sich ein.

»Ich kann natürlich sicherheitshalber checken, ob es nicht doch noch andere Kindsmorde gibt, aber wie gesagt, wir hätten davon …«

Sie starrte auf den Monitor.

»Verdammt.«

Sie drehte den Bildschirm in Vincents Richtung. Er zeigte einen sechs Monate alten Fall.

»Letzten Winter gab es tatsächlich einen toten Vierjährigen«, sagte sie. »Wir waren nicht für die Ermittlungen zuständig. Aber die Umstände waren völlig andere. Es war keine Entführung. Das Kind, ein William Carlsson, wurde auf Beckholmen aufgefunden, der kleinen Insel vor Gröna Lund. Du weißt schon, da ist doch eine alte Werft. Er lag im Trockendock, als ob er hinuntergefallen und beim Sturz zu Tode gekommen wäre. In der Familie war es immer wieder zu Gewalt gekommen. Die Nachbarn hatten den Vater vorsorglich angezeigt, und die Leiche wies eindeutige Spuren von früheren Misshandlungen auf. Die ermittelnden Kollegen von der Kriminalpolizei waren überzeugt, dass der Sturz nur herbeigeführt worden war, um die Verletzungen zu vertuschen. Der Vater wurde wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft genommen. Ein ziemlich eindeutiger Fall, bei dem keine Fragen offenblieben. Er hat nichts mit Lilly und Ossian zu tun, aber ein weiteres totes Kind ist es trotzdem.«

Vincent verzog das Gesicht und beugte sich über ihre Schulter, um näher am Bildschirm zu sein. Er roch leicht nach Gewürzen. Sie konnte nicht anders, als sich instinktiv einen Millimeter zurückzulehnen, um ihm näher zu sein.

»Wie sicher ist sich das Ermittlungsteam, dass der Vater das Kind getötet hat?«, fragte er.

»Sehr sicher.« Sie zeigte auf eine Passage im Bericht. »Der Fall wurde in Rekordgeschwindigkeit vor Gericht verhandelt. Der Vater sitzt jetzt in der JVA Hall und hat, wie du siehst, die Misshandlungen größtenteils gestanden. Das Einzige, was er nicht gestanden hat, ist der Totschlag. Er hat aber zumindest einmal nachweislich Drogen konsumiert. Es stellt sich also die Frage, ob er nüchtern war, als es passierte. Das Ganze ist wirklich furchtbar.«

Gemeinsam lasen sie den Bericht über William Carlsson, der bei klirrender Kälte bekleidet mit einem grauen T-Shirt und einer langen Unterhose aufgefunden worden war. Er hatte keinen Rucksack und keine seltsamen kleinen Gegenstände mit oder ohne Pferdeabbildung bei sich gehabt. Nur große blaue Flecken und sein tragisches Schicksal.

»Aber wissen könnt ihr es nicht«, sagte Vincent. »Der Vater hat kein Geständnis abgelegt. Und außerdem …«

Er zeigte auf ein Foto vom Fundort der Leiche. Auf der kleinen Insel gab es drei Trockendocks, aber nur eins davon war in Gebrauch. William war zwischen zwei Booten aufgefunden worden. Nur das polizeiliche Absperrband ließ erkennen, was sich in dem Dock Schreckliches ereignet hatte.

»Wasser ist in der Nähe«, sagte Mina. »Das spricht für Novas Theorie.«

Vincent nickte, sah aber nicht sonderlich zufrieden aus.

»Möglich«, sagte Vincent. »Zum Glück war kein Wasser im Dock, sonst hättet ihr den Jungen nie gefunden. Aber ich finde, wir sollten hinfahren. Dass die Polizei dort nicht mehr entdeckt hat, muss ja nicht unbedingt heißen, dass es nicht mehr zu finden gibt.«

»Willst du damit sagen, dass wir nicht ordentlich arbeiten?« Sie stieß ihm scherzhaft den Ellbogen in die Rippen.

»Auf keinen Fall. Aber die Kriminaltechniker, die den Fundort untersucht haben, hatten keinen Grund, nach seltsamen Details zu suchen. Die Chance, dort noch etwas zu finden, falls es jemals etwas zu finden gab, ist winzig. Deine Kollegen sind höchstwahrscheinlich zum richtigen Schluss gekommen und William ist wirklich von seinem Vater getötet worden. Dieser Strohhalm, an den ich mich klammere, fliegt bestimmt beim ersten Windhauch davon. Trotzdem müssen wir ganz sichergehen, dass dieser Fall nichts mit Ossian und Lilly zu tun hat. Denn wenn doch  …«

Anstatt den Satz zu beenden, zog er erneut sein Taschentuch aus der Hosentasche. Nach einem kurzen Blick in ihre Richtung steckte er es wieder ein.

Mina heftete ihren Blick auf den Bildschirm und fror plötzlich trotz der Hitze.

»Wir müssen das mit der Gruppe und Julia besprechen«, sagte sie. »Vielleicht kann ich jetzt gleich ein Meeting einberufen. Eigentlich müssten alle im Haus sein.«

»Wir?« Verwundert sah er sie an.

»Willkommen zurück, Vincent.«