D ie Gruppe war größer geworden, seit Vincent zuletzt dabei gewesen war. Er gab Adam die Hand.
»Hallo, ich bin Vincent.«
Adam schüttelte sie so fest, dass der Kaffeebecher in Vincents linker Hand beinahe überschwappte, hielt Augenkontakt und beugte den Oberkörper leicht nach vorn.
»Adam. Ich habe schon von dir gehört.«
Dann sah Vincent zu den anderen hinüber. Christer und Peder nickten ihm erfreut zu, während Ruben ihn mit einem genervten Blick und verschränkten Armen begrüßte.
»Ruben, ich habe mich noch nicht für das bedankt, was du mir geschickt hast«, sagte er. »Es bedeutet mir viel. Entschuldige, könntest du kurz meinen Kaffeebecher halten?«
Er drückte ihn dem verblüfften Ruben einfach in die Hand. Vincent hatte damit gerechnet, dass Ruben reflexartig reagieren würde, bevor er sich überlegen konnte, ob er Vincents Becher wirklich halten wollte. Doch nun war es zu spät, um Nein zu sagen.
Eigentlich war es ihm nur darum gegangen, Ruben zu einer offeneren Körperhaltung zu bewegen, damit er aufnahmefähiger für das wurde, was Vincent und Mina zu sagen hatten.
Vincent hatte jedoch einen triftigen Grund, sich bei Ruben zu bedanken. Kurz nachdem sie sich zuletzt gesehen hatten, im Oktober vor fast zwei Jahren, war mit der Post ein Umschlag von Ruben gekommen. Er enthielt einen Zeitungsartikel über den Tod von Vincents Mutter. Es war der Artikel, den Ruben den anderen zum Beweis präsentiert hatte, dass Vincent tatsächlich in ihren damals aktuellen Mordfall verwickelt gewesen war.
Ich weiß immer noch nicht, wer mir den geschickt hat, hatte Ruben auf einen Zettel geschrieben, den er mit einer Büroklammer am Artikel befestigt hatte. Aber ich brauche ihn nicht. Ich glaube, niemand braucht ihn jemals wieder zu Gesicht zu bekommen. Verbrenn ihn oder mach damit, was du willst .
Vincent war geradezu gerührt gewesen. Doch der Ruben, der ihm den Artikel geschickt hatte, schien beim heutigen Meeting nicht anwesend zu sein. Er zuckte nur mit den Schultern und gab ihm den Kaffeebecher zurück. Vincent würde diesmal vermutlich keine große Rolle bei den Ermittlungen spielen, sie hatten ja schließlich auch Nova engagiert. Da konnte er über das Verhalten einiger in der Gruppe wohl hinwegsehen.
»Schön, dich wiederzusehen, Vincent«, sagte Julia. »Ich habe gehört, dass Mina und du euch schon ein bisschen über den Fall ausgetauscht habt. Natürlich hätte ich es auch gerne gesehen, wenn ihr die üblichen Kanäle genutzt hättet, um mich zumindest zu informieren.«
»Ich wusste ja nicht mal, wo das hinführt«, wandte Mina entschuldigend ein. »Ich wollte mir zuerst sicher sein. Und das bin ich mir noch immer nicht. Aber wir wollen uns den Fall William Carlsson noch genauer anschauen und mit dem Fundort der Leiche anfangen.«
»Der Junge, der letzten Winter von seinem Vater umgebracht worden ist?« Ruben drückte den Rücken durch. »Was hat der damit zu tun?«
»Ich darf vielleicht einflechten«, sagte Adam, »dass der Vater, Jörgen Carlsson, zwar nach einem außerordentlich kurzen Gerichtsverfahren wegen Mordes verurteilt wurde, den Mord aber nie gestanden hat, was ein wenig merkwürdig war, nachdem er alle anderen Körperverletzungen ausnahmslos zugegeben hatte. Ich weiß nicht, ob er sich davon ein milderes Urteil erhofft hat. Und außerdem gab es, wenn ich mich recht entsinne, eine etwas ältere Zeugin, die in einer Wohnung mit Blick auf den Spielplatz im Innenhof wohnte, und die behauptete, sie hätte William mit einem anderen Mann als Jörgen davongehen sehen. Aber da Jörgen für diesen Zeitpunkt kein Alibi hatte und das Sehvermögen der älteren Dame einiges zu wünschen übrig ließ, wurde dieser Spur nicht weiter nachgegangen.«
»Angesichts von Ossian und Lilly war das vielleicht ein Fehler«, sagte Julia. »Vielleicht ist Jörgen doch nicht der Täter. Möglicherweise ist er unschuldig.«
Ruben verschränkte die Arme wieder vor der Brust und verzog missmutig das Gesicht.
»Jörgen Carlsson ist ein Dreckschwein sondergleichen und sitzt genau da, wo er hingehört«, schnaubte er.
»Da stimme ich dir zu«, sagte Peder. »Ich weiß noch, der Junge hatte verheilte Verletzungen verschiedenster Schweregrade an praktisch jedem Körperteil. Er muss im Laufe seiner kurzen Kindheit so viel Prügel bekommen haben, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht schon eher gestorben ist. Und seine Mutter hat, wenn ich das richtig im Kopf habe, genauso viele Schläge kassiert.«
Bosse winselte und schleckte Peders Hand ab, als könnte das Tier nachempfinden, wie sehr es Peder schmerzte, an Kindesmisshandlung auch nur zu denken.
»In meiner Version herrscht kein Zweifel daran, dass der Alte sein Kind umgebracht hat«, sagte Ruben. »Ich bin selbst bei einigen Einsätzen in der Familie dabei gewesen, einmal sogar an Heiligabend. Heilige Scheiße. Es war ein Blutbad, als wir ankamen. Jörgen hatte seine Frau Lovis mit dem Gesicht auf den Herd geknallt, und die ganze Küche war voller Blut. Hinter dem Weihnachtsbaum mit Kugeln, Lametta und Geschenken drunter entdeckten wir William. Er muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein, glaube ich. Nein, verdammt noch mal. Jörgen ist nicht unschuldig. Er ist einer von denen, die man am besten für immer einsperrt. Und den Schlüssel gleich wegwirft.«
Es wurde still. Vincent richtete den Blick auf das einzige Bild im Raum, eine große Karte von Stockholm an der Wand gegenüber, und versuchte, sich nicht auszumalen, was Ruben eben beschrieben hatte. Aber es war zu spät. Er starrte auf Gamla stan, bis ihm die Augen tränten, um die blauen Flecken aus dem Kopf zu bekommen, die er auf den Fotos von Williams Körper gesehen hatte. Ein Körper, der ihn an Aston vor ein paar Jahren erinnerte.
Christer räusperte sich.
»Ich stimme Ruben zu«, brummte er. »Jörgen Carlsson ist ein Schwein. Zum Glück reicht das, was er gestanden hat, um ihn noch eine Weile hinter Gittern zu behalten. Aber Adam hat genauso recht. Es ist nicht gesagt, dass Jörgen seinen Sohn getötet hat.«
»Adam und Ruben, ihr unterhaltet euch am besten gleich mal mit Lovis, der Mutter von William«, sagte Julia. »Versucht bitte, auch mit der Nachbarin zu sprechen, die William angeblich mit jemandem hat weggehen sehen, und findet heraus, wie schlecht sie wirklich sieht. Es wäre gut, wenn ihr heute beides schaffen würdet. Und am Montag stattet ihr Jörgen einen Besuch in Hall ab. Ich kündige euch in der JVA schon mal an.«
Ruben wandte sich an Adam.
»Diesmal wird keiner von uns den good Cop spielen«, sagte er.
Adam nickte finster. Er schien der gleichen Meinung zu sein. Julia sah Mina und Vincent an.
»Ich weiß zwar nicht, was ihr glaubt, dort finden zu können«, sagte sie. »Aber fahrt ruhig hin und schaut euch um. Peder und seinen Bart nehmt ihr bitte auch mit. Solltet ihr an einem Barbier vorbeikommen, trägt die Polizeibehörde die Kosten. Und jetzt zu dir, Vincent, wenn du schon hier bist. Wir haben eine Frau in der Arrestzelle, mit der du als Erster sprechen solltest. Sie heißt Lenore Silver.«