N athalie sammelte die Werkzeuge ein, die sie benutzt hatte, und ging damit langsam zum Schuppen hinüber. Sie war schrecklich müde. Der Hammer musste an seinen Platz gehängt werden, die Säge auch. Karl legte Wert auf Ordnung.
Einige andere Mitglieder des inneren Kreises waren dazugekommen, alle in der gleichen weißen Kleidung, und alle hatten hart gearbeitet. Bei den Renovierungsarbeiten war die weiße Kleidung eigentlich total unpraktisch. Sie war völlig eingestaubt, vor allem, wenn sie Schutt aus dem abgebrannten Gebäude ein Stück entfernt gekarrt hatten. Nathalie hatte gefragt, was für ein Gebäude das früher gewesen war, hatte aber nur Schweigen geerntet.
Sie streckte sich, um ihre schmerzenden Muskeln zu lockern. Die Befriedigung, die mit körperlicher Arbeit einherging, war neu für sie. Sie war solch harte Arbeit jedoch nicht gewohnt und verfügte weder über die erforderliche Kraft noch über die Ausdauer, die von ihr erwartet wurde. Daher schaffte sie es kaum noch, die Tür zum Schuppen zu schließen.
Monica und Karl ließen sie von morgens bis abends schuften. Sie war so erschöpft, dass sie im Stehen eingeschlafen wäre, wenn sie nicht so einen Hunger gehabt hätte. Gleichzeitig war die Stimmung in der Gruppe großartig, und sie wollte wirklich nicht diejenige sein, die sich als Erste beklagte. Aber es waren für sie natürlich völlig andere Sommerferien als sonst.
Sie folgte den anderen in das Gebäude, in dem sie inzwischen wohnte. Sie kannte die Namen der anderen immer noch nicht, obwohl es gar nicht so viele waren. Aber die weiße Kleidung und die ständig grinsenden Gesichter ließen alle täuschend ähnlich aussehen. Als sie auf den Schlafsaal zusteuerte, fielen ihr fast die Augen zu. Es würde herrlich sein, sich endlich auf ihr Feldbett zu legen. Und wahrscheinlich sollte sie sich endlich mal bei Papa melden. Er hatte schließlich schon länger nichts mehr von ihr gehört.
Sie hielt inne.
Wann hatte sie sich eigentlich zuletzt bei ihm gemeldet?
Sie versuchte, an den Fingern abzuzählen, wann sie und Ines sich in der U-Bahn kennengelernt hatten. Vor einer Woche? Oder zwei? Sie bekam Kopfschmerzen, als sie darüber nachdachte. Sie musste sich erst ausruhen. Aber dann. Dann würde sie sich bei ihm melden.
Sie musste nur vorher ihr Handy laden. Falls es hier irgendwo ein Ladegerät gab …
»Nathalie? Nathalie, wo willst du hin?«
Sie war so nah dran. Das Bett war nur noch einen Meter entfernt. Der Stimme ihrer Großmutter war jedoch anzuhören, dass es um etwas Wichtiges ging. Sie drehte sich um, sah ihre Großmutter und zuckte zusammen. Ines war genau wie Nathalie von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, hatte aber T-Shirt und Hose gegen ein langes Gewand ausgetauscht. Um die Schultern hatte sie sich eine grüne Schärpe gelegt.
»Was ist los?« Etwas anderes fiel Nathalie nicht ein.
»Es wird Zeit für dich, die Bedeutung von Johns Worten zu verstehen«, sagte Ines. »Komm.«
Großmutter nahm sie an der Hand und ging mit ihr zu dem Raum, in dem sie normalerweise aßen. Nathalie war zu müde, um Einspruch zu erheben. Die Tische, an denen sie sonst aßen, waren an die Wände gerückt worden, und mitten im Raum stand ein langes Brett auf Holzböcken. Die anderen aus der Gruppe standen Schulter an Schulter vor dem Brett und hatten die Hände daraufgelegt. Ines wies Nathalie wortlos an, sich zwischen die anderen zu stellen. Nathalie stellte sich neben Karl an das eine Kopfende, während Ines sich am gegenüberliegenden positionierte.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, sagte Ines.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, wiederholte die Gruppe.
»Ihr alle tragt verschiedene Arten von Schmerz in euch«, fuhr Ines fort. »Schmerz, der euch hilft, die Welt klarer zu sehen. Wir haben heute eine Neue unter uns, mein Enkelkind Nathalie. Ihr Schmerz ist eher seelischer als körperlicher Natur. Heute heißen wir Nathalie unter uns willkommen und rufen uns ins Gedächtnis, dass wir keine Angst vor Schmerz haben. Und dass er uns stattdessen Klarheit schenkt.«
Ines holte eine Reitgerte hervor und wandte sich dem Mann neben ihr zu. Er war um die sechzig mit silbergrauem Haar. Der Mann spannte den gesamten Körper an.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, sagte Großmutter.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, antwortete der Mann leise.
Die Reitgerte sauste zischend durch die Luft und landete mit scharfem Knall auf den Fingern des Mannes. Er zuckte zusammen, als ob er einen Stromstoß erhalten hätte, ließ die Hände aber auf dem Brett liegen. Quer über die Finger verlief ein blutroter Striemen, und die Augen des Mannes füllten sich mit Tränen. Nathalie versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Wurden die Leute bestraft? Nein, so kam es ihr nicht vor. Ihre Großmutter sah nicht verärgert aus, im Gegenteil. Die Atmosphäre war eher von einer fast religiösen Ehrfurcht erfüllt. Der Mann runzelte vor Anstrengung die Stirn. Dann huschte ein winziges Lächeln über seine Lippen. Er nickte Ines zu, und sie ging weiter zum Nächsten.
»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt.« Wieder hob sie die Reitgerte.
Nathalie konnte kaum denken vor Hunger, aber dass sie nicht von Großmutter geschlagen werden wollte, wusste sie. Es sah extrem schmerzhaft aus. Und Schmerzen wollte sie nicht haben.
»Hab keine Angst«, flüsterte Karl ihr zu. »Der Schmerz geht vorüber. Aber er veredelt deinen Scharfsinn … Ich schwöre dir, du wirst die Welt danach mit völlig anderen Augen sehen.«
Ines ging von einem zum Nächsten. Die fünf Personen, die sie mit der Reitgerte geschlagen hatte, fielen sich abwechselnd lachend und weinend in die Arme. Nathalie wusste nur, dass sie wahrscheinlich vor Müdigkeit umgefallen wäre, wenn sie das Brett losgelassen hätte. Und die anderen wirkten jetzt so glücklich. Sie wollte auch dazugehören.
Die Gerte sauste neben ihr durch die Luft, und kurz bevor sie mit der Lautstärke eines Pistolenschusses auf seine Hände traf, hörte sie ihn nach Luft schnappen. Dann wandte sich Ines ihr zu. Karl ließ den Kopf hängen und atmete schwer. Aus dem roten Streifen auf seinen Fingern sickerte ein Tropfen Blut.
»Hallo, mein Liebling.« Ines strich Nathalie eine Strähne aus dem Gesicht. »Willkommen in der Wahrheit.«
Als die Reitgerte auf ihre Finger traf, explodierte ein Teil ihres Gehirns. Sie schrie. Es fühlte sich an, als ob jemand ihre Hände angezündet oder in ein Wespennest gesteckt hätte. Ines hielt ihre Arme fest, damit sie die Hände auf dem Brett liegen ließ.
»Kämpf nicht dagegen an«, sagte Ines leise. »Erforsche den Schmerz. Umarme ihn. Sieh durch ihn hindurch.«
Nathalie bemühte sich zu tun, was Ines sagte, aber es war alles zu viel für sie. Sie wollte so weit weg wie möglich von dem Bösen.
»Du stehst unter Schock«, flüsterte Ines ihr ins Ohr. »Betrachte den Schmerz einfach als das, was er ist.«
Sie versuchte es noch einmal. Es tat so unglaublich weh. Aber was bedeutete es eigentlich, dass es wehtat? Das waren doch nur Signale in ihrem Gehirn. Sie versuchte, die einzelnen Bestandteile des Schmerzes zu unterscheiden, wie Erwachsene es bei Wein taten. Verschiedene Geschmacksnoten, Aromen und Empfindungen. Und plötzlich war der Schmerz etwas leichter zu ertragen. Es tat immer noch beängstigend weh, aber nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Sie sog die Luft durch die Zähne. Und irgendwo war da auch Klarheit, eine Deutlichkeit, die das Adrenalin in ihrem Gehirn erzeugt hatte. Sie konnte erkennen, was wichtig und was unwichtig war. Sie verstand, was Großmutter mit Johns Worten sagen wollte.
Dann hob Ines ihre Hände hoch und steckte sie in eine Wanne mit eiskaltem Wasser, die jemand auf das Brett gestellt hatte. Das kühlende Wasser war ein Sinneseindruck zu viel, und Nathalie begann, hemmungslos zu weinen. Großmutter hatte recht gehabt. Schmerz reinigt. Und Nathalie schleppte so viel Schmerz mit sich herum. Schmerz, von dem sie selbst nichts geahnt hatte. Großmutter drückte Nathalies Kopf an ihre Brust, und Nathalie heulte Rotz und Wasser.
»So ist gut, ja«, tröstete Großmutter sie. »Wir werden uns alle um dich kümmern. Das verspreche ich dir. Du bist jetzt eine von uns.«