E ine neue Woche hatte begonnen. Den Donnerstag und den Freitag hatten sie damit zugebracht, die neuen Informationen zu dokumentieren. Obwohl es, ehrlich gesagt, nicht viele waren. Mina hatte sich das Wochenende frei gehalten und versucht, ein wenig auszuspannen. Sie wusste, dass sie dringend Ruhe brauchte, war aber fast die Wände hochgegangen. Sie sehnte sich nach Bewegung und nach Arbeit, damit ihre Gedanken nicht woandershin wanderten. Daher genoss sie es am Montagmorgen in vollen Zügen, wieder bei Milda Hjort in der Rechtsmedizin zu sein, auch wenn Milda sie gebeten hatte, noch abzuwarten, bis sie mit ihrer Arbeit fertig war.
Neugierig beugte sich Mina vor, um besser sehen zu können, was Milda machte. Assistent Loke reichte Milda ein Instrument. Die Leiche auf dem Obduktionstisch war eine Frau um die dreißig. Zart, blond und mit zahlreichen Narben am ganzen Körper. Loke hielt ein Skalpell in der Hand und setzte nun zu einem geraden und tiefen Schnitt vom Hals bis zum Schambein an. Anschließend griff er zur Rippenschere und öffnete den Brustkorb. Nichts an diesem Prozess machte Mina etwas aus. Und sie wusste auch, warum Milda vorgeschlagen hatte, sich hier zu treffen und nicht in ihrem Büro. Nirgendwo fühlte sich Mina so wohl wie in ihrem sterilen Obduktionssaal.
»Woran ist sie gestorben?«, fragte Mina. »Weißt du das schon?«
Milda legte den Kopf schief, eine Antwort, die ja und nein bedeutete. Der Brustkorb war nun offen, und die Organe lagen sichtbar da.
»Als sie ins Krankenhaus kam, behauptete ihr Mann, sie wäre die Treppe runtergefallen«, sagte Milda. »Sie verstarb einige Stunden später, und es deutet einiges darauf hin, dass der Mann nicht die Wahrheit gesagt hat. Unter anderem hatte sie blaue Flecken am Hals. Also werde ich die Halsorgane nun im Ganzen entnehmen.«
Loke war einen Schritt zurückgetreten und ließ Milda an den Tisch. Mina wusste, dass auch das Entnehmen der Halsorgane üblicherweise zu den Aufgaben des Assistenten gehörte, aber vermutlich wollte Milda es heute selbst machen.
»Ich verstehe nicht, wieso du dann zuerst im Brustkorb wühlst?«, fragte Mina. »Wenn du eigentlich den Hals untersuchen willst.«
Milda in Aktion zu sehen, war so, als würde man einem Künstler bei der Arbeit zuschauen. Oder besser gesagt einer Künstlerin, die, wie Mina wusste, bei der Arbeit laute Schlagermusik hörte und aus vollem Hals mitschmetterte, wenn sie allein war.
»Das wirst du gleich sehen.« Milda hantierte mit einem Messer. »Nun löse ich die Muskeln und Bänder, die die Organe an ihren Plätzen halten.«
Milda legte die Hände an den Kopf der Frau.
»Jetzt kommt der schwerste Teil.«
Unendlich vorsichtig führte Milda die Schnitte aus.
»Nun entferne ich die Haut von den Halsmuskeln. Unter anderen. Und versuche dabei natürlich tunlichst zu vermeiden, die Haut zu durchlöchern.«
»Wie kannst du denn überhaupt sehen, was du da machst?«, fragte Mina fasziniert.
»Gar nicht. Ich muss mich einfach auf meine Erfahrung und mein Gefühl verlassen.«
Milda richtete sich auf und streckte sich. Dann legte sie das Messer weg und positionierte ihre rechte Hand unter den Kiefer der Frau. Als sie ihn behutsam hochzog, glitten Zunge und Hals in den Brustkorb, wo sie mit dem Rest der Organe als komplettes Paket entnommen werden konnten.
»Voilà!«
Milda zog mit einem lauten Schnalzer die Gummihandschuhe aus und zeigte auf das intakte Organpaket, das nun neben der Leiche auf der stählernen Oberfläche lag.
»In fünf Minuten mache ich weiter«, sagte sie zu Loke. »Du kannst dir kurz die Beine vertreten, wenn du willst. Ich muss ein paar Dinge mit Mina besprechen.«
Der Assistent verließ den Raum. Milda sah ihm lächelnd hinterher und schüttelte den Kopf.
»Also, ich verstehe ihn nicht«, sagte sie. »Weißt du, dass Loke finanziell unabhängig ist? Obwohl er noch so jung ist? Ich glaube, er hat geerbt oder so. Er könnte den Rest seines Lebens mit Computerspielen verbringen, wenn er Lust hätte. Trotzdem ist er morgens als Erster hier und geht abends als Letzter. Und er ist unglaublich gut. Das nenne ich mal Berufung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es an seiner Stelle genauso gemacht hätte.«
»Wenn du nicht arbeiten würdest, würdest du wahrscheinlich von Obduktionen träumen.« Mina lächelte sie an. »Du bist die Beste, das weißt du.«
»Danke.« Milda deutete auf die Organe. »Was siehst du?«
Mina schaute genau hin.
»Quetschungen?«
»Gutes Auge. Ja, deutliche Quetschungen, und zwar nicht nur am Kehlkopf, sondern auch am Zungenbein und am Schildknorpel. In Kombination mit allen früheren Verletzungen kann ich jetzt schon sagen, dass es für den Ehemann nicht gut aussieht.«
»Furchtbar. Das ist jedoch eine gute Überleitung zu William. Sein Vater sitzt, wie du weißt, wegen Mordes.«
»Ja, unserem Kenntnisstand zufolge wundert mich das nicht.« Milda füllte einen Pappbecher mit Wasser. »Wir müssen auf der Basis der Fakten entscheiden, die uns vorliegen.«
»Niemand macht irgendjemandem einen Vorwurf. Genau wie du sagst, liegen uns jetzt Informationen vor, die ein anderes Licht auf Williams Tod werfen. Hattest du schon Zeit, seinen Obduktionsbericht noch mal durchzugehen?«
Milda trank von dem Wasser und nickte dann.
»Mit Lupe und Läusekamm. Und ich erkenne einige Ähnlichkeiten zwischen den Todesfällen von William, Lilly und Ossian.«
»Welche denn?«, fragte Mina.
»William hat natürlich weitaus mehr äußere Verletzungen als die beiden anderen. Bei einem langjährigen Opfer von körperlichen Misshandlungen sind Quetschungen an der Lunge und eingedrückte Rippen keine Seltenheit. Interessant ist, dass sowohl Lilly als auch Ossian Quetschungen an der Lunge hatten. Leider kann ich mir noch immer nicht erklären, wie sie zustande gekommen sind.«
»Warte mal, was sagst du da? Hatte Ossian etwa auch Quetschungen an der Lunge? Warum hast du das nicht früher gesagt?«
Milda sah sie verwundert an.
»Das steht doch im Obduktionsbericht.«
Mina fluchte innerlich. Obwohl es ein äußerst bedeutsames Detail war, war es ihnen entgangen. Ihr war es entgangen. Denn sie hatte den Bericht über Ossian nicht gelesen. Derjenige ihrer Kollegen, der ihn gelesen hatte, hätte sie darauf aufmerksam machen müssen. Aber so war es nun mal. Die Information war von unschätzbarem Wert, auch wenn sie sie früher hätten gebrauchen können.
»Du willst damit also sagen, dass die drei Todesfälle definitiv zusammenhängen?«, fragte Mina.
»Nur auf der Grundlage der inneren Quetschungen hätte ich nicht gewagt, diese Schlussfolgerung zu ziehen«, sagte Milda. »Wie gesagt, bei William waren sie nicht verwunderlich. Aber …« Schweigend sah sie Mina an.
»Die Fasern«, sagte sie. »William hatte Fasern im Hals. Genau wie Lilly und Ossian. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, du ahnst ja gar nicht, wie viele mikroskopisch kleine Fragmente im Laufe des Lebens in unseren Hälsen landen, aber die drei hatten genau die gleichen Wollfasern im Hals. Das in Kombination mit den Flecken auf den Lungen …«
Zunächst war das lediglich eine Hypothese. Welche Details tatsächlich Bedeutung hatten, und welche auf purem Zufall beruhten, war schwer zu sagen. Doch Mina spürte es mit jeder Faser ihres Körpers. Milda hatte genau das entdeckt, wonach sie suchten: ein Muster.
Endlich hatten sie etwas in der Hand.
»Wir müssen diese Fasern genauer untersuchen«, sagte Mina und versuchte, ihre Aufregung zu überspielen.
»Ich befürchte, das übersteigt meine Kompetenzen«, sagte Milda. »Aber das NFZ müsste dir weiterhelfen können.«
Loke kam wieder zurück, er roch leicht nach Zigarettenrauch.
»Undo my sad, undo what hurts so bad«, summte er beim Händewaschen.
Mina kannte den Song von Sanna Nielsen.
»Das passiert automatisch, wenn man hier arbeitet«, entschuldigte er sich.
Die Pause war vorbei.
»Eine Sache noch, bevor ich gehe«, sagte Mina. »Fällt dir zu William noch etwas ein?«
»Nur, dass manche Leute in dieser Gesellschaft nicht frei herumlaufen dürften«, erwiderte Milda trocken. »Jörgen Carlsson kann meinetwegen in seiner Zelle verschimmeln.«
Sie nahm ein neues Paar Handschuhe aus einem Karton.
»Danke, dann lasse ich euch jetzt in Ruhe weiterarbeiten.« Mina nickte Loke zu, bevor sie ging.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, vibrierte es in ihrer Tasche, und sie zog ihr Handy heraus. Nathalies Vater versuchte schon wieder, sie zu erreichen. Der GPS -Sender war immer noch unberechenbar, aber sie ging davon aus, dass Nathalie noch nicht nach Hause gekommen war. Es war vermutlich nur noch eine Frage von Sekunden, wann Nathalies Vater sie mit einem Helikopter abholen würde.