R uben nahm die Armbanduhr ab und legte sie zusammen mit dem Handy in die graue Kunststoffbox. Nachdem er eine Weile in der Hosentasche gewühlt hatte, bekam er sein Schlüsselbund zu fassen und platzierte es ebenfalls in der Box. Dann gähnte er hinter vorgehaltener Hand. Montags brauchte er immer etwas länger, um in Gang zu kommen. Andererseits hatte er es am Wochenende kaum erwarten können, diesen Besuch hinter sich zu bringen.
»Ja, Magnus hat euch angekündigt«, sagte der Justizbeamte, der die Aufgabe hatte, sie durch die Schleusen der JVA Hall zu lotsen.
»Magnus.«
»Svensson. Der hiesige Kriminalkommissar. Eure Chefin Julia hat am Freitag mit ihm telefoniert. Dienstwaffe? Die müsstest du einschließen.«
Er zeigte auf einen Metallschrank mit großem Vorhängeschloss.
Ruben schüttelte den Kopf. Keine Waffen.
Sie hatten überlegt, in Uniform nach Hall zu fahren, waren aber zu dem Schluss gekommen, dass sich ein Besuch in ziviler Kleidung eher dazu eignete, Jörgen Carlsson dazu zu bringen, sich zu öffnen. Wenn Ruben sich recht erinnerte, war er kein großer Fan des Polizeiapparats.
Ruben und Adam standen zusammen mit dem Justizbeamten in der Schleuse. Auf einem Schrank war aufgelistet, welche Dinge man hier zurücklassen musste. Hall war ein Hochsicherheitsgefängnis, was bedeutete, dass nichts dem Zufall überlassen wurde.
»Mir ist keine technische Ausrüstung gemeldet worden«, sagte der Justizbeamte. »Es muss alles von mir genehmigt werden.«
»Keine Waffen, keine Ausrüstung«, sagte Adam. »Wir wollen nur mit ihm reden.«
Der Justizbeamte nickte und deutete auf den Metalldetektor am anderen Ende des Raumes. Ruben war zuletzt vor einem Flug nach Palma durch einen hindurchgegangen.
»Jeder einzeln«, wurden sie angewiesen. »Carlsson erwartet euch im zweiten Besucherraum rechts.«
»Die schaurigste Pauschalreise des Jahres«, murmelte Adam, während er durch den Detektor schritt.
Ruben folgte ihm, und dann gelangten sie in einen Gang.
»Warum sitzt Jörgen eigentlich ausgerechnet hier ein?«, fragte er, als er zu Adam aufgeschlossen hatte. »Ist Hall nicht speziell auf Häftlinge ausgerichtet, bei denen eine hohe Fluchtgefahr zu befürchten ist? Gangmitglieder und Täter aus der organisierten Kriminalität? Jörgen Carlsson ist die unorganisierteste Person, die mir je begegnet ist.«
Adam zuckte mit den Schultern.
»Jörgen hat mal versucht, aus der U-Haft zu fliehen«, sagte er. »Und nach allem, was ihm vorgeworfen wird, hat wohl niemand Lust, ihm eine weitere Gelegenheit zu geben.«
Sie erreichten den Besucherraum und öffneten die Tür. Jörgen Carlsson saß am Tisch. Er hatte zurückgekämmtes halblanges Haar und den schmalsten Oberlippenbart, den Ruben je gesehen hatte. Seine Arme waren ebenfalls schmal, fast sehnig, und voller Tätowierungen. Ruben konnte sich nur schwer vorstellen, wie eine derart schmächtige Gestalt seine Familie auf die Weise terrorisieren konnte, wie Jörgen es getan hatte. Aber Gewalt hatte anscheinend nicht nur mit Muskeln zu tun.
»Worum geht es?« Jörgen verschränkte die Arme.
»Ich heiße Adam, und das hier ist Ruben.« Adam setzte sich. »Wie Sie wissen, sind wir von der Polizei. Wir wollen mit Ihnen über das Verschwinden Ihres Sohnes sprechen.«
Jörgen setzte sich gerade hin und legte die Hände auf den Tisch.
»Verschwinden?« Er grinste schief. »Das ist aber eine interessante Wortwahl, wenn man mal bedenkt, dass ich ihn angeblich umgebracht haben soll. Nicht dass ich mich beklagen könnte, das Essen hier ist viel besser als der Fraß, den Lovis mir vorgesetzt hat. Ficken konnte sie natürlich. Aber dabei ist eben das Kind rausgekommen.«
Jörgen war noch ekelhafter, als Ruben ihn in Erinnerung hatte. Im Geiste stand er auf und rammte ihm seine Faust in die grinsende Visage. Er musste tief Luft holen, um sich zu beherrschen. Jörgen wusste vermutlich genau, was er tat. Er suchte gezielt nach Triggerpunkten. Dabei ist ja das Kind rausgekommen . Ruben hatte nicht die Absicht, Jörgen zu verraten, dass er soeben einen Volltreffer gelandet hatte.
»Die Beweise gegen Sie reichen nicht aus«, sagte Adam. »Daher ermitteln wir in mehrere Richtungen, und wir brauchen Ihre Hilfe.«
Diesmal hatte offensichtlich Adam einen Knopf gedrückt. Jörgen beugte sich mit funkelnden Augen vor.
»Okay, und wenn ich euch helfe, wird mein Urteil revidiert?«, fragte er. »Und ich komme aus diesem Loch hier raus?«
»Hatten Sie nicht gerade gesagt, Sie würden sich hier wohlfühlen?«, gab Ruben eisig zurück.
»Ich habe nur gesagt, dass das Essen nicht schlecht ist, aber ich würde gerne mal wieder scheißen gehen, ohne dass mir jemand zuguckt, wenn ich mir den Hintern abwische.«
Adam nickte und beugte sich ebenfalls vor. Er sprach in fast verschwörerischem Ton, als hätten Jörgen und er ein Geheimnis.
»Wenn Sie kooperieren, fällt die Verurteilung wegen Mordes in sich zusammen«, sagte er leise. »Ich kann Ihnen zwar nichts versprechen, aber Sie werden wahrscheinlich nicht nur auf freien Fuß gesetzt werden, sondern auch ein ordentliches Schmerzensgeld bekommen.«
Ruben grinste innerlich. Adams leise Stimme erzeugte einen unwiderstehlichen Sog. Und das, was er sagte, war nicht gelogen. Jedenfalls nicht direkt. Doch auch wenn das Urteil gegen Jörgen aufgehoben werden würde, hatte er sich so oft nachweislich der schweren Körperverletzung von Frau und Kind schuldig gemacht, dass er noch sehr lange mit Begleitung auf die Toilette gehen würde.
»Dann helfen Sie uns, Ihre Verurteilung wegen Mordes für unrechtmäßig zu erklären.« Adam lehnte sich zurück. »Erzählen Sie uns, wer, wenn nicht Sie, William vom Spielplatz abgeholt hat.«
Jörgen ließ die Arme hängen und lehnte sich genau wie Adam zurück.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte er.
»Das reicht nicht«, sagte Ruben. »Aus unserer Sicht könnte auch ein Kumpel von Ihnen William nach Beckholmen gebracht haben, wo Sie ihn dann gemeinsam umgebracht haben. Ich habe Sie für schlauer gehalten.«
Auf Jörgens Oberlippe bildete sich ein Schweißtropfen. Er strich sich mit Zeigefinger und Daumen über den schmalen Schnurrbart. Die Klimaanlage funktionierte auch nicht besser als die im Präsidium. Wenigstens eine Sache auf der Welt ging gerecht zu.
»Ich habe den Kleinen immer nur zu Hause geschlagen, okay?«, erklärte Jörgen. »Ich bin ja nicht vollkommen bescheuert. Aber als William verschwand, war ich nicht dabei, und ich weiß auch nicht, wer ihn mitgenommen hat. Das habe ich alles schon in der Vernehmung gesagt.«
Ruben musste sich an der Tischplatte festhalten. Wie konnte er nur so kaltblütig über die Gewalt sprechen, die er einem kleinen Jungen angetan hatte? Einem Jungen, der seinen Vater vermutlich geliebt hatte. Und er hielt sich offenbar für besonders clever, weil er sein Kind nur in den eigenen vier Wänden misshandelt hatte.
»Das stimmt, und Sie haben auch gesagt … Sie hätten ›auf dem Marktplatz abgehangen‹.« Adam warf Ruben einen Blick zu. »Leider kann das niemand bestätigen. Sonst wären Sie jetzt nicht hier.«
Jörgen sah sich nach beiden Seiten um und fuhr sich durchs Haar. »Okay«, sagte er leise. »Ihr habt gewonnen. Ich wollte ihr zuliebe nichts sagen, aber ein halbes Jahr hier reicht mir. Ich war bei Sussi. Ich war bei Sussi zu Hause, und wir haben gerammelt wie die Karnickel. Ich wollte sie da aber nicht mit reinziehen, weil Sussi eine Freundin von Lovis ist. Oder, verdammt, mehr als das. Sie ist Lovis’ beste Freundin. Aber Sussi würde der Polizei nie was sagen, weil sie weiß, was dann los wäre. Wie auch immer. Dann bin ich wieder nach Hause, ich habe gestunken wie ein Ziegenbock, und William war weg.«
Ruben seufzte. Sogar im Gefängnis war Jörgen noch überzeugt, Macht über andere zu haben. Adam holte seinen Block aus der Tasche und notierte sich Sussis Adresse, aber Ruben hörte gar nicht mehr richtig zu, sondern starrte nur noch auf Jörgens schmalen und mittlerweile nass geschwitzten Oberlippenbart. Am liebsten hätte er ihn ihm aus dem Gesicht gerissen. Adam sagte noch etwas und erhob sich. Ruben stand auch auf.
»Ich glaube, wir haben alles, was wir brauchen«, hörte er Adam sagen, der mit seinem Notizblock winkte.
Ruben wusste bereits, dass Sussi ihnen nicht weiterhelfen würde. Jörgen hatte die Wahrheit gesagt. Er hatte keine Ahnung, wer seinen Sohn mitgenommen hatte.
»Wir melden uns.«
Ruben ging zur Tür. Je eher er aus diesem Raum herauskam, desto besser.
»Eins will ich Ihnen sagen«, rief Jörgen ihnen plötzlich hinterher. »Ich habe William geliebt. Der Kleine war alles für mich.«
Ruben hielt mit der Klinke in der Hand inne. Er hielt es nicht mehr aus. Irgendetwas in ihm explodierte.
Er sah die Fotos von Williams Leiche vor sich.
Blaue Flecke an allen von Kleidung bedeckten Stellen.
Jörgens sehnige, tätowierte Arme, permanent mit Schlägen drohend.
Der Kleine war alles für mich .
Das Gesicht von Lovis, angstverzerrt. Vielleicht versuchte sie, den Jungen zu beschützen, doch das war wenig wahrscheinlich.
Und dann plötzlich: Astrid. Seine Astrid.
Nur wenige Jahre älter als William.
Ich würde gerne mal wieder scheißen gehen, ohne dass mir jemand zuguckt, wenn ich mir den Hintern abwische.
William.
Die Schläge.
Astrid.
Ruben drehte sich um, ging mit schnellen Schritten auf Jörgen zu und packte ihn am Schopf.
Jörgen schrie auf. »Was zum Teufel soll …«
Der Satz brach ab, weil Ruben Jörgens Gesicht auf den Tisch knallte. Jörgen schrie wie am Spieß. Ruben wischte sich das Haarwachs an der Hose ab und ging zurück zu Adam, der ihn entsetzt ansah.
Wortlos schritt Adam neben ihm durch den Gang. Sie passierten den Metalldetektor und erhielten ihre persönlichen Gegenstände zurück. Adam schwieg noch immer. Ruben nahm Schlüsselbund und Handy an sich.
»Übrigens«, sagte Ruben zu dem Justizbeamten. »Ich nehme an, dass der Besucherraum per Kamera überwacht wird. Wenn Sie sich den Film ansehen, werden Sie bemerken, dass Jörgen Carlsson gestolpert ist und sich die Stirn aufgeschlagen hat, als wir gehen wollten. Falls Sie auch den Ton einschalten, werden Sie verstehen, warum. Möglicherweise braucht er medizinische Versorgung. Aber das eilt wahrscheinlich nicht.«