W ir haben einen Hinweis!«
Mina kam gerade von ihrem Abstecher bei Milda zurück und bekleckerte sich beinahe mit ihrem Cappuccino, als Ruben aus dem Haupteingang des Präsidiums rannte. Sie rettete mit Müh und Not ihren Kaffee, was ein Glück war, weil sie einen ziemlich langen Fußweg zurückgelegt hatte, um ihn bei der einzigen Person zu kaufen, der sie den korrekten Umgang mit Einwegbechern zutraute. Sie trank einen Schluck.
Der Kaffee selbst schmeckte gleich dem um die Ecke, wo Julia einen Rabatt für alle Gruppenmitglieder organisiert hatte, oder sogar noch besser, doch was nützte das, wenn Mina sich schon bei dem Gedanken schüttelte, den Becher in die Hand zu nehmen. Im Espresso House dagegen arbeitete Wille. Er kannte sich mit ihren speziellen Wünschen aus und öffnete jedes Mal, wenn sie kam, eine frische Packung Pappbecher. Wenn er nicht da war, machte sie unverrichteter Dinge kehrt. Bei Einwegbechern durfte man keine Risiken eingehen. Heute jedoch war Wille da gewesen, und deswegen hielt sie jetzt einen dampfenden Cappuccino in der Hand, der beinahe auf ihrer Kleidung gelandet wäre.
»Was schreist du denn so?« Sie eilte ihm hinterher. »Bist du nicht eigentlich mit Adam in Hall?«
Vor dem Eingang stand ein Streifenwagen, und Ruben hatte den Autoschlüssel in der Hand. »Adam schreibt gerade den Bericht. Aber das hier ist wichtiger. Steig ein. Ich erzähle dir alles im Auto.«
Mina zögerte, bevor sie die Beifahrertür öffnete. Da sie sich den Luxus, die Sitze mit Plastikfolie abzudecken, nur in ihrem eigenen Wagen leisten konnte, stellten sie solche Situationen immer auf die Probe. Andererseits war das eben der Preis eines normalen Lebens. Oder zumindest eines einigermaßen normalen Lebens. Hätte sie ihrer Phobie freien Lauf gelassen, wäre Arbeit für sie nicht möglich gewesen. Und sie liebte ihren Beruf.
Sie liebte es auch, ein Gehalt zu bekommen und ihre Miete bezahlen zu können und nicht unter einer Brücke schlafen zu müssen. Doch der Gedanke, dass es auch noch schlimmer hätte kommen können, machte es ihr zumindest leichter, ins Auto einzusteigen.
»Wie gesagt, wir haben einen Hinweis bekommen.« Ruben fuhr los. »Ein Gast von Mauro Meyers Restaurant im Sveavägen hat auf der Toilette Kinderkleidung entdeckt.«
»Kinderkleidung?«
»In Ossians Größe.«
»Klingt abwegig.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Könnte es nicht eher sein, dass jemand sein Kind auf der Toilette umgezogen hat, weil es sich, was weiß ich, bekleckert oder in die Hose gemacht hat?«
Ruben schüttelte den Kopf und schnitt die Kurve. Nach sekundenlangem Überlegen umfasste Mina den Haltegriff über der Tür. Sie zwang sich, tief und langsam zu atmen.
»Wir haben Ossians Eltern ein Foto von den Sachen geschickt«, sagte er. »Sie haben sie wiedererkannt. Außerdem sind einige Kleidungsstücke mit seinem Namen versehen.«
Mina biss die Zähne zusammen. Die Information passte irgendwie nicht zu Ossians Eltern. Allerdings hatte sie in all den Jahren als Polizistin genug gesehen, um zu wissen, dass man von außen nie beurteilen konnte, was im Innern eines Menschen vorging.
Eine Wahrheit, die sich bei jedem Blick in den Spiegel bestätigte.
»Aber wie können es denn die Sachen von Ossian sein?« Sie runzelte die Stirn. »Ossian war doch angezogen, als er aufgefunden wurde.«
»Na ja, ich habe zwar keine Kinder, aber in dem Alter nehmen sie oft Wechselwäsche mit in den Kindergarten«, sagte Ruben in belehrendem Ton. »Josefin und Fredrik wissen nicht mehr, was er am Tag seines Verschwindens dabeihatte, glauben aber, es könnte die Wechselkleidung sein. Und außerdem wurde, wie gesagt, sein Name eingenäht. Das macht man, damit die Kinder sie nicht verwechseln.«
Mina starrte ihn an. Seit wann war Ruben Experte für Kindergartenkinder? Sie biss sich auf die Lippe, um ihm nicht auf die Nase zu binden, dass sie mehr Erfahrung mit Kindern hatte, als er jemals haben würde.
Direkt vor dem Restaurant parkten sie hinter einem anderen Streifenwagen. Alle Gäste waren nach Hause geschickt und die Räumlichkeiten abgesperrt worden. Eine italienische Flagge neben der Tür markierte die kulinarische Ausrichtung, und falls an dieser auch nur der geringste Zweifel bestanden hätte, offenbarte der Duft von Tomaten und Basilikum diesen, sobald man über die Schwelle getreten war. Mina schluckte. Sie wusste genau, wie viele Stockholmer Restaurants jährlich durch die Hygienekontrollen fielen. Es waren viel zu viele, als dass sie sich in Restaurants hätte wohlfühlen können, über deren Hygienestandards sie sich nicht im Vorfeld erkundigte. Zum Glück war sie nicht gekommen, um zu essen.
»Hier entlang«, sagte eine Polizistin in Uniform, die ihnen im Lokal entgegenkam.
Mina und Ruben folgten ihr zu zwei Türen im hinteren Teil. Der Fund war auf der Damentoilette gemacht worden, und sie warfen einen Blick hinein. Ein Techniker war dabei, Fingerabdrücke einzupinseln, und Mina stellte fest, dass der Deckel des Spülkastens entfernt worden war.
»Also dort …?« Sie zeigte auf die Toilette.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, hat ein Gast sie in einer Plastiktüte im Spülkasten gefunden«, sagte Ruben.
Mina unterdrückte ein Würgen.
»Wieso um alles in der Welt schaut jemand auf einer Restauranttoilette in den Spülkasten?«, wunderte sie sich. »Um Drogen zu deponieren?«
Allein bei dem Gedanken, irgendeinen Bestandteil der Toilette zu berühren, drehte sich ihr der Magen um. Ruben schüttelte den Kopf.
»Nein, diesmal nicht«, sagte er. »Es war eine etwa siebzigjährige Großmutter, die mit ihrem Enkelkind aufs Klo ging. Ihr fiel auf, dass der Deckel nicht richtig aufgesetzt war, und das wollte sie in Ordnung bringen. Dabei hat sie im Wasser etwas gesehen. Ganz offensichtlich wusste sie auch aus der Zeitung über Mauro und den Mord an Lilly und über Ossian Bescheid und hat deshalb augenblicklich die Polizei gerufen.«
»Eine waschechte Miss Marple sozusagen.« Mina zog eine Augenbraue hoch.
»Nein, ich glaube, sie war Schwedin«, sagte Ruben.
»Miss Marple ist eine Figur, die … ach, vergiss es.«
Mit dem Namen der Autorin hätte er wahrscheinlich sowieso nichts anfangen können.
»Was sagt denn Mauro?«, fragte sie stattdessen und bedeutete Ruben mit einer Kopfbewegung, in den Gastraum zurückzukehren.
»Laut Personal sind er und seine Frau vor einer Stunde zur Entbindung ins Södersjukhuset gefahren. Wir können ihn jederzeit mit einem Wagen abholen.«
»Warten wir lieber noch ein wenig«, sagte Mina. »Aus dem Kreißsaal wird er schon nicht abhauen.«
Sie ging zu einer jungen Frau, die ein Hemd mit dem Logo des Restaurants trug. Sie saß an einem Tisch und verfolgte mit großen Augen das Geschehen.
»Hallo. Mein Name ist Mina Dabiri. Darf ich mich setzen?«
Aus den Augenwinkeln sah sie Ruben zu zwei anderen Mitarbeitern gehen, die vor dem Kücheneingang standen.
»Klar.« Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Was ist hier eigentlich los?«
Sie war hübsch, aber ihre Lippen wirkten so geschwollen, dass Mina sich fragte, ob sie nicht im Weg waren. Und ob man sie schließen konnte, wusste sie auch nicht. Vielleicht musste die junge Frau immer mit leicht geöffneten Lippen herumlaufen und ein erstauntes Gesicht machen.
»Entschuldigen Sie, darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
»Paulina. Paulina Josefsson.«
»Danke. Leider darf ich keine Informationen weitergeben. Aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Geht das?«
»Klar.«
Wieder zuckte Paulina mit den Schultern.
»Wann war Ihr Chef zuletzt hier?«, fragte Mina.
»Mauro? Der war heute Morgen hier. Er ist immer als Erster da. Und er ist ein verdammt guter Chef. Wollte ich nur sagen. Der beste Chef, den ich je hatte. Also, er ist tierisch nett.«
»Das glaube ich gern.« Mina nickte. »Wann ist er gegangen?«
»Ungefähr vor einer Stunde. Seine Frau hat angerufen, weil die Wehen eingesetzt hatten, und er ist nach Hause gefahren. Oder ins Krankenhaus, das weiß ich nicht genau.«
»Die Frage klingt vielleicht abgedroschen, aber ist Ihnen in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches an Mauro aufgefallen? Oder war er so wie immer?«
»Na ja … seit über den verschwundenen Jungen berichtet wird, ist er ein bisschen komisch. Aber das ist ja kein Wunder. Wegen Lilly, meine ich. Das ist schließlich erst ein Jahr her.«
»Und als die Meldung durch die Presse ging, dass der Junge tot aufgefunden wurde? Wie hat er da reagiert?«
»Ich glaube, an dem Tag war er krank. Das ist Mauro sonst nie. Aber auch das ist nachvollziehbar. Er kann einem wegen der Sache mit Lilly unheimlich leidtun. Und seine Ex ist wirklich gestört. Sie kommt in regelmäßigen Abständen her und schreit rum, obwohl Gäste da sind. Vollkommen verrückt ist die.«
Mina nickte. So ähnlich hatten Julia und Peder Jenny auch beschrieben. Andererseits wusste sie, dass Leute, die rumschrien, nicht automatisch im Unrecht waren.
»Wie oft werden die Toiletten geputzt?«, fragte sie, obwohl sie nicht wusste, ob sie die Antwort wissen wollte.
»Jeden Tag. Mauro hat eine Putzfrau, die jeden Tag kommt. Mit Sauberkeit nimmt er es genau.«
Jeden Tag. Das musste jedoch nichts heißen. Nicht einmal die pingeligste Putzfrau machte den Spülkasten von innen sauber. Es konnte jedoch für die Analyse der Fingerabdrücke von Bedeutung sein. Auch wenn Fingerabdrücke öffentlicher Orte, an denen sich viele Menschen aufhielten, meistens ein Albtraum waren.
Ruben gesellte sich zu ihnen und kündigte den Aufbruch an.
»Ich habe mit Julia telefoniert«, sagte er. »Wir nehmen ihn fest.«
»Wen nehmen Sie fest?«, fragte Paulina und wirkte zum ersten Mal beunruhigt. »Doch nicht Mauro, oder?«
»Wie gesagt, ich darf leider keine internen Informationen weitergeben.« Mina stand auf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Vor dem Restaurant hatten sich Schaulustige versammelt. Die menschliche Natur war sich immer gleich. Allerdings standen Polizisten mittlerweile auch immer einer Reihe von filmenden Handykameras gegenüber. Während ihr Blick über die Menge schweifte, erkannte sie plötzlich ein Gesicht. Was zum Teufel machte der Expressen hier? Sie registrierte, dass Ruben dieselbe Person aufgefallen war, und hastete im Laufschritt zum Auto. Irgendetwas sagte ihr, dass in Kürze Chaos ausbrechen würde. Das hier war nur die Ruhe vor dem Sturm.