I m Besprechungsraum stand die Luft vor Hitze. Mittags war es am schlimmsten. Mina stand in der Tür und konnte sich kaum überwinden einzutreten. Wenn Vincent nicht da gewesen wäre, hätte sie sich wohl vor dem Meeting gedrückt.

Der batteriebetriebene Ventilator in Christers Hand surrte wie ein Wespenschwarm. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Beutel mit einem Dutzend neuer Miniventilatoren. Da die Dinger so schnell kaputtgingen, wurde ständig Nachschub gebraucht. Immerhin brachten sie etwas. Christer drückte Vincent, der mit gequälter Miene den Raum betrat, ein Gerät in die Hand.

Die Schweißflecke unter Rubens Armen hatten gigantische Ausmaße angenommen, und sogar Julia schien zu ächzen.

»Danke, dass ihr im Fall William alle so zügig gearbeitet habt.« Julia wandte sich an Ruben und Adam. »Es war übrigens ein Glück, dass ihr gestern Morgen so früh zu Jörgen Carlsson in die JVA gefahren seid. Offenbar hatte er kurz danach einen kleinen Unfall. Er ist übel gestürzt und musste mit zwei Stichen genäht werden. Ich verstehe nicht ganz, wie das passieren konnte, aber Männer, die Frau und Kinder schlagen, entwickeln im Gefängnis häufig Gleichgewichtsprobleme. Wisst ihr Genaueres dazu?«

Sie sah Ruben und Adam prüfend an. Ruben musste husten, und Adam sah an die Decke.

Mina begriff, dass ihr Moment gekommen war. Ihrer und Vincents.

»Wir haben noch etwas zu berichten«, sagte sie schließlich und sah Vincent von der Seite an. »Mir ist bewusst, dass einiges für Mauro als Täter spricht. Wir haben allerdings nur Indizien. Vincent hat mich darauf hingewiesen, dass das Erkennen von vorhandenen Mustern immer eine Gratwanderung ist, denn möglicherweise erzeugt man sie durch das eigene Wunschdenken selbst. Es ist zwar nicht ganz auszuschließen, dass das, was wir zu sagen haben, Zufall ist, allerdings ist die Wahrscheinlichkeit eher gering.«

»Du sagst immer wir«, warf Ruben ein, »aber meinst du nicht eigentlich Vincent? Das alles hört sich jedenfalls jetzt schon verdammt nach Vincent an, und außerdem hast du uns noch gar nicht erzählt, worum es geht.«

»Wir haben beide das Muster gesehen«, entgegnete Mina. »Aber Vincent hat noch mehr entdeckt. Vincent?«

»Ja.« Der Mentalist räusperte sich. »Ich habe gehört, dass ihr Nova zurate gezogen habt. Sie hat anscheinend die rituellen Aspekte der Morde hervorgehoben, die dreitägigen Intervalle und die verschiedenen Akteure bei den Entführungen, die es wahrscheinlicher machen, dass eine Gruppe hinter den Taten steht und nicht ein einzelner Serientäter. Was wiederum darauf hindeuten könnte, dass das Ganze in irgendeiner Weise organisiert war. Und wir können bei den drei Leichen ein Muster erkennen.«

»Du sprichst von drei Leichen«, sagte Ruben. »Es sind aber zwei. Darf ich dich daran erinnern, dass William noch nicht zu eurem Muster gehört, auch wenn wir noch nicht wissen, wer ihn umgebracht hat? Außerdem wissen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Mauro Ossian und Lilly getötet hat. Zu William hingegen hat er keine Verbindung.«

»Falls das zutrifft, wird das, was ich zu sagen habe, euch entweder bei Mauro weiterhelfen«, sagte Vincent, »oder in eine andere Richtung führen. Je mehr Opfer es werden, desto sicherer können wir uns sein, dass sie zusammengehören. Mina und ich haben noch etwas entdeckt, das nicht nur Ossian und Lilly nicht nur miteinander verbindet, sondern auch mit William. Wir haben es bereits bei Ossian und Lilly gesehen, wagten aber noch nicht, auf unsere Vermutung zu vertrauen. Seit wir am Mittwoch im Trockendock waren, bin ich mir ganz sicher. Peder hat es auch gesehen.«

»Jetzt spuck’s schon aus«, sagte Ruben. »Wovon redest du, Mentalist?«

»Pferde.«

Allen in der Gruppe blieb der Mund offen stehen. Dann lachte Ruben aus vollem Hals, Peder kicherte in sich hinein, und Mina seufzte.

»Allerdings keine echten Pferde.« Vincent räusperte sich erneut. »Lilly hatte ein Poesiebild bei sich, das vermutlich später hinzugefügt worden war, und darauf war ein arabisches Vollblut abgebildet. Ossian hatte einen Rucksack von My Little Pony bei sich, der nicht seiner war. Und dort, wo William aufgefunden wurde, hatte jemand das griechische Wort für Pferd, also hippo an die Wand geschrieben. Das ist einfach zu merkwürdig, um nur ein Zufall zu sein.«

»Damit will uns jemand sagen, dass die Kinder Pferde sind, oder was?« Ruben schüttete sich aus vor Lachen.

»Oder suchen wir jemanden, der zu sehr auf Pferdebilder steht?«, fragte Peder.

»Tja«, gluckste Christer. »Dann brauchen wir nur jedes zehnjährige Mädchen in der ganzen Stadt zu vernehmen, und schon haben wir unsere Mörderin!«

Ruben hörte plötzlich auf zu lachen.

»Was ist denn das für eine ätzende Generalisierung«, zischte er. »Es sind nicht alle zehnjährigen Mädchen verrückt nach Pferden.«

Christer starrte Ruben verwundert an und merkte nicht einmal, dass der Ventilator in seiner Hand den Geist aufgab. Mina hatte keine Ahnung, wovon Ruben redete. Er war so komisch in letzter Zeit.

»So einfach ist es nicht«, fuhr Vincent fort.

Er nahm einen Stift und schrieb Stichworte auf das Whiteboard.

»Falls Nova mit dem Hinweis auf die rituellen Züge der Morde richtigliegt, können die Pferde für die Täter ein wichtiges Symbol sein. Sekten, die Pferde verehren, gibt es seit der Steinzeit. Das Pferd wurde als göttliches Wesen, König oder Krieger betrachtet. Auch in der griechischen Mythologie kommt die Verehrung von Pferden vor. Der Gott Poseidon soll das erste Pferd erschaffen haben, und wir dürfen auch Loke aus der nordischen Mythologie nicht vergessen, der sich in eine Stute verwandelte und Sleipnir gebar, das vornehmste Pferd von allen. Wie auch immer, irgendetwas daran …«

Vincent verstummte mitten im Satz und fixierte die Karte von Stockholm, die gegenüber von ihm an der Wand hing. Die zentralen Stadtteile passten genau in ein Quadrat. Dann kehrte er wieder zurück ins Hier und Jetzt.

»Pferde werden bis heute angebetet«, sagte er. »Unter anderem im südlichen Asien. Das ist vielleicht auch kein Wunder, denn das Pferd stellt ein universelles Symbol für grenzenlose Freiheit dar.«

Er machte eine Pause und blickte wieder auf die Karte. Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn. Vincent benahm sich so anders als sonst. Mina wollte ihm helfen, aber irgendetwas war merkwürdig.

»Aha … Wenn wir also auf dich und Nova hören würden, müssten wir eine Pferde verehrende Wassersekte jagen, die kleine Kinder umbringt«, warf Ruben sarkastisch ein. »Das klingt wirklich viel wahrscheinlicher als Mauro Meyer. Brauchst du vielleicht eine Rolle Alufolie, um diesen Hut da zu verstärken, Vincent? Meine Güte. Wenn du gerne mal auf einen Kaffee vorbeikommen oder mit Mina quatschen willst, dann sag das doch einfach. Anstatt uns was vom Pferd zu erzählen.«

Mina wurde rot. Aber so leicht würde sie sich von Ruben nicht aus dem Konzept bringen lassen.

Sie hob den Kopf, begegnete Adams prüfendem Blick und wurde noch roter.

»Was, nein«, sagte Vincent zerstreut. »Ich glaube nicht, dass es darum geht …«

Wieder verstummte er und sah auf die Karte von Stockholm. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger ein imaginäres Kreuz nach.

»Da hast du ausnahmsweise recht«, sagte Ruben. »Darum geht es hier nicht. Wir müssen uns nämlich mit Mauro Meyer beschäftigen, der von seiner Ex-Frau beschuldigt wird, die eigene Tochter getötet zu haben, und nun auch noch in den Mord an Ossian verwickelt zu sein scheint. Die Verbindung zu William existiert nur in deiner Fantasie.«

»Warum habt ihr so lange damit gewartet, uns davon zu erzählen, Mina?«, fragte Julia. »Ihr wart letzten Mittwoch im Trockendock, und heute ist Dienstag. Hast du dir nicht gedacht, dass die Information wichtig sein könnte?«

»Doch, aber ich habe mit dieser Reaktion hier gerechnet«, sagte Mina. »Deshalb wollte ich zuerst mit Milda über Williams Obduktion sprechen. Und dabei ist tatsächlich etwas herausgekommen. Ossian, Lilly und William hatten alle die gleichen Wollfasern im Hals. Und ähnliche Abdrücke auf der Lunge. Noch gibt es weder einen Anhaltspunkt für die Herkunft der Fasern noch eine Erklärung für das Zustandekommen dieser Abdrücke, aber alles in allem sind das so viele Übereinstimmungen, dass die Fälle zusammengehören müssen

Es wurde still im Raum.

»Scheiße«, sagte Ruben schließlich. »Vielleicht ist William ja doch einer von ihnen. Mauro ist ein Serienmörder.«

»The Psychology of the Pawn«, murmelte Vincent vor der Karte. »Wartet mal kurz.«

Der Mentalist ging zurück zum Whiteboard, nahm sich einen Stift und ein langes Lineal. Dann stellte er einen Stuhl an die Wand mit der Karte und stieg hinauf. Mithilfe des Lineals zog er zuerst sieben senkrechte Linien und dann sieben waagerechte auf der Karte.

»Stimmt was nicht mit der Karte?«, fragte Ruben.

Vincent antwortete nicht. Stattdessen stieg er vom Stuhl, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete das Gitternetz.

Mina hoffte, dass Vincent keinen Hitzschlag hatte. Es sah tatsächlich so aus, als hätte Vincent den Verstand komplett verloren.

»Wie wäre es mit einer Erklärung, Vincent?«, schlug Julia vor.

Vincent drehte sich um und sah die anderen Gruppenmitglieder so verwirrt an, als hätte er ganz vergessen, dass er nicht allein im Raum war.

»Neulich hat mir ein … guter Freund etwas erzählt. Also, Pferde sind ja Spielfiguren. Genau wie die Mitglieder einer Sekte. Also habe ich mich gefragt, in welchen Spielen es Pferde gibt.«

Ruben verdrehte seufzend die Augen.

»Beim Schach.« Christers Interesse schien plötzlich geweckt zu sein. »Kein ganz so teures Hobby wie Pferderennen, aber noch demütigender.«

Mina begriff plötzlich, was Vincent gemacht hatte. Er hatte Stockholms Innenstadt in achtmal acht gleich große Quadrate unterteilt. Wie ein Schachbrett.

»Ich habe überlegt, ob die Kinder vielleicht Spielfiguren symbolisieren.« Schnell nummerierte er die waagerechten Reihen von unten nach oben mit den Ziffern Eins bis Acht, und schrieb dann die Buchstaben a, b, c, d, e, f, g und h unter die Spalten.

»Warum gibt es dann nicht noch andere Figuren wie zum Beispiel Bauern oder Türme?«, fragte Christer. »Schach spielt man doch nicht nur mit Pferden. Springern, meine ich.«

»Normalerweise hättest du recht, aber …«

Vincent trat an die Karte und suchte den Ort, an dem Lilly gefunden worden war. Er lag unten rechts im Quadrat h1 . Er schrieb »Lilly« in das Quadrat. Dann schrieb er »William« auf die Insel Beckholmen im Quadrat g3 , dem vorletzten Quadrat in der dritten Reihe von unten. Und schließlich »Ossian« auf die Insel Skeppsholmen, die im Quadrat f4 lag, dem sechsten Quadrat in der vierten Reihe.

»Es gibt ein klassisches Schachproblem, das man heutzutage ›Knight’s tour‹ nennt«, sagte er. »Die frühesten Erwähnungen dieses Problems wurden auf Sanskrit verfasst. Da hieß es Turagapadabandha. Was wörtlich übersetzt ›Anordnung in den Schritten des Pferdes‹ bedeutet.«

Mina hüstelte diskret. Als Vincent sie fragend ansah, schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Jetzt, wo ihm endlich alle zuhörten, durfte er die allgemeine Aufmerksamkeit nicht aufs Spiel setzen.

»Ich wollte nur die Verbindung zu Pferden verdeutlichen.« Er sah die anderen entschuldigend an. »Aber ihr findet das vielleicht gar nicht … Wie auch immer. Das Problem läuft jedenfalls darauf hinaus, dass man das Pferd beziehungsweise den Springer so bewegen muss, dass es jedes Feld genau einmal besucht. Es darf also nie ein zweites Mal auf ein Feld springen. Fangen wir doch mal mit dem Fundort von Lilly an. Das ist da unten in der rechten Ecke. Von dort aus hat der Springer nur zwei Möglichkeiten.«

Er tippte mit dem Stift auf zwei Quadrate.

»Eine Möglichkeit wäre g3 , wo William ein halbes Jahr später aufgefunden wurde. Von dort aus kommen fünf verschiedene Züge infrage.«

Er malte auf alle fünf möglichen Quadrate einen Punkt.

»Ossian wurde aber in keinem davon gefunden«, sagte Adam.

»Völlig richtig. Aber ihr seht es doch auch, oder?«

Der Mentalist deutete wieder auf die Karte. Als nach einigen Sekunden noch immer keine Reaktion gekommen war, tippte er seufzend auf den Punkt in Quadrat e2 . Darin lag der Fatbursparken.

»Das hier ist eins der Felder, das man von William aus erreicht. Und von hier aus kann man direkt zu Ossian in f4 springen. Der Fatbursparken ist im Grunde sogar der einzig sinnvolle Zug von William aus, wenn der Springer sich nicht in eine Sackgasse manövrieren will.«

»Okay, aber deine kleine Theorie ist nicht stichhaltig«, meinte Ruben. »Denn in dem Park ist kein Kind gestorben. Das wäre nämlich sofort aufgefallen, weil der Park stark frequentiert wird. Goldige Idee von dir, die Kinder könnten Spielfiguren auf einem riesigen Schachbrett sein. Und das Poesiebild, den Rucksack und dieses Graffiti mit dem … wie hieß das noch – Knight’s day? – zu assoziieren, finde ich ganz schön ambitioniert, aber …«

»Knight’s tour .«

»Aber ich weiß nicht, wie oft ich es dir noch sagen muss. Wir haben es diesmal nicht mit einem Puzzle zu tun. Wir haben es mit Mauro Meyer zu tun. Und der ist zu so was gar nicht fähig, glaub mir. Der hat alle Hände voll mit Windeln wechseln zu tun«, sagte Ruben genervt.

»An sich gibt es im Fatbursparken ja eine Fontäne«, murmelte Peder. »Apropos Wasser.«

»Ich werde noch verrückt«, brummte Ruben.

»Habt ihr darunter nachgesehen?«, fragte Vincent.

»Nein, wieso hätten wir das tun sollen?«, fragte Ruben. »Denkst du, wir hatten während Mauros Verhaftung nichts Besseres zu tun?«

Bosse, der zu Christers Füßen lag, ließ hechelnd die Zunge heraushängen. Bis jetzt war er so still gewesen, dass Mina seine Anwesenheit gar nicht bemerkt hatte.

»Ich mache mal einen Vorschlag«, sagte Vincent. »Untersucht den Park. Wenn ihr nichts findet, lasse ich euch in Ruhe. Ihr glaubt mir vielleicht nicht, aber ich wäre wirklich erleichtert, wenn Ruben richtigläge und ihr euren Täter schon gefunden hättet und Nova und ich auf dem Holzweg wären. Vielleicht sehen wir Muster, die es nicht gibt. Nichts wäre mir lieber. Aber wenn ihr doch etwas findet, dann stimmt meine Theorie.«

Julia fächelte sich mit einem Hefter Luft zu. Alle sahen in ihre Richtung.

»Das kostet einiges«, sagte sie. »Den Park aufbuddeln, die Fontäne abmontieren. Das macht man nicht mal eben so, nur weil dich dein Bauchgefühl veranlasst hat, ein Gitternetz auf den Stadtplan zu zeichnen. Vor allem dann nicht, wenn man bereits einen Verdächtigen verhaftet hat. Ich zumindest möchte gerne, dass diese Gruppe noch ein Weilchen weiterbesteht. Du musst uns noch mehr Argumente nennen. Und außerdem …«

Sie zögerte kurz.

»… habe ich unmissverständliche Anweisungen von oben. Die Leitung hält die Sektentheorie für haltlos und bevorzugt weitere Ermittlungen zu Mauro. Wenn wir uns nicht an die Direktive halten, ist der Fortbestand dieser Gruppe gefährdet. Und um ehrlich zu sein, glaube ich ausnahmsweise selbst, dass die Leitung diesmal recht hat. Diese Theorien sind mir einfach zu weit hergeholt.«

Vincent steckte die Kappe auf den Stift. Dann klopfte er damit auf die leeren Quadrate.

»Ich habe gehört, was du gesagt hast. Aber nehmen wir mal an, die Leitung irrt sich. Spielen wir nur mal mit dem Gedanken, Mauro Meyer würde nicht hinter der Sache stecken. Dann ist die schuldige Person noch auf freiem Fuß. Falls Ossian, Lilly und William wirklich der Beginn einer Knight’s tour sind, stehen noch viele Züge aus. Und jeder Zug könnte ein totes Kind bedeuten. Nach diesen drei Quadraten bleiben noch sechzehn weitere Felder auf dem Schachbrett. Könnt ihr es euch wirklich erlauben, so ein hohes Risiko einzugehen?«

 

Vincent wartete, bis die anderen den Besprechungsraum verlassen hatten. Peder war im Vorbeigehen etwas aus der Tasche gefallen. Eine flache rote Schachtel. Vincent hob sie auf. Die Pappschachtel erkannte er auf Anhieb. Es war ein Kartenspiel drin, aber nicht irgendeins, sondern ein Bicycle von der United States Playing Card Company. Mit roter Rückseite und im Pokerformat, also etwas breiter als die klassischen schwedischen Bridgekarten.

Vincent kannte nur zwei Arten von Menschen, die diese Art von Kartenspiel verwendeten. Pokerspieler und Zauberer. Peder schien keiner der beiden Kategorien anzugehören.

»Warte mal«, rief er Peder hinterher. »Du hast was verloren.«

Peder blieb stehen, drehte sich um und riss die Augen auf, als er sah, was Vincent in der Hand hielt.

»Oh, danke!«

»Pokerspieler laufen normalerweise nicht mit ihren Spielkarten herum.« Vincent ging auf Peder zu. »Warum dann du?«

Peder sah sich im Flur um. Dann winkte er Vincent in einen angrenzenden Raum und machte die Tür hinter ihnen zu.

»Die anderen sollen es nicht hören«, sagte er leise. »Die Drillinge haben einen Cousin. Er heißt Casper. Seine Mutter ist die Schwester meiner Frau Anette. Casper hat in drei Wochen Geburtstag, und nun haben Anette und ihre Schwester beschlossen, dass ich auf der Feier zaubern soll. Casper war außer sich vor Glück. Deshalb versuche ich verzweifelt, mir ein paar Kartentricks beizubringen.«

»Wie alt wird Casper denn?«, fragte Vincent.

»Fünf.«

Vincent legte das Kartenspiel aus der Hand und forderte Peder schweigend auf, sich hinzusetzen. Er selbst setzte sich ebenfalls.

»Da fängst du leider am falschen Ende an«, sagte er. »Für Kinder zu zaubern, ist nämlich am schwierigsten.«

Peder machte ein noch unglücklicheres Gesicht.

»Wieso sind bloß so viele Leute von der Zauberei fasziniert?«, fragte Vincent. »Weil sie die üblichen Gesetze außer Kraft setzt. Wir wissen, dass Menschen nicht fliegen können. Daher fordert es unsere Fantasie und unsere Weltsicht heraus, jemanden über eine Bühne in Las Vegas schweben zu sehen. Kinder haben sich jedoch noch nicht an die Gesetze gewöhnt. Die Welt ist ein unerforschter Ort für sie. Folglich gibt es für sie keinen Grund, nicht an Magie zu glauben.«

»Wie zum Beispiel die Feen im Winx Club«, sagte Peder finster. »In den Augen meiner Drillinge sind deren Abenteuer vollkommen echt.«

»Ich habe zwar keine Ahnung, wovon du redest, aber du hast mit Sicherheit recht. Worauf ich hinauswill: Kinder beeindruckt es nicht, wenn eine Spielkarte den Platz mit einer anderen tauscht. Sie haben gar keinen Grund zu der Annahme, dass es unmöglich ist.«

Peder rieb sich seufzend das Gesicht.

»Soll das heißen, dass man für Kinder gar nicht zaubern kann?«, fragte er. »Na toll. Anettes Schwester wird mich hassen. Darf ich ihr deine Nummer geben?«

»Du hast das missverstanden«, sagte Vincent. »Natürlich kann man für Kinder zaubern. Man kann sie überraschen. Begeistern. Ihnen Gegenstände zum Festhalten geben. Sie zum Lachen bringen. Wenn du das schaffst, wird dein Auftritt ein Erfolg.«

»Überraschen und begeistern. Ich bin am Arsch.«

Vincent hielt das Kartenspiel über den Papierkorb.

»Die kannst du vergessen.« Dann ließ er die Karten los.