M ina wurde von einem schrillen Geräusch geweckt. Zunächst konnte sie es nicht recht zuordnen, weil sie noch in einer Traumsequenz über Pferde, Fasern, Milda mit einem Skalpell in der Hand und überdimensionierten Schachfiguren festhing, die sie zu zermalmen drohten, während sie sich über ein gigantisches Schachbrett bewegten.

Verwirrt sah sie sich um. Im Fernsehen lief das sommerliche Unterhaltungsprogramm. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen. Das schrille Geräusch ertönte noch einmal, und nun begriff sie, dass es ihr Klingelton war. Das Handy lag auf dem Wohnzimmertisch und leuchtete.

»Hallo …«

Ihre Stimme klang belegt und brüchig. Nachdem sie sich geräuspert hatte, versuchte sie es noch einmal.

»Hallo?«

»Ich werde nicht länger warten, Mina.«

Der Zeitpunkt für diesen Anruf war geradezu beängstigend passend gewählt. Wie immer, wenn sie seine Stimme hörte, überkam sie ein leichtes Angstgefühl. Im Nachhinein konnte sie sich kaum noch an eine Zeit erinnern, in der das einmal anders gewesen war. Er hatte ihr von Anfang an das Gefühl gegeben, unterlegen zu sein. Als ob sie die mit dem Defekt und er der Perfekte gewesen wäre. Er hatte immer gern Sachen repariert. Dinge in Ordnung gebracht. Vielleicht war es bei ihr genauso gewesen. In der Funktion, die er mittlerweile ausübte, verkörperte er diese Rolle jedenfalls perfekt.

»Heute ist Dienstag. Es sind elf Tage vergangen«, sagte er. »Und ich habe nichts gehört. Verantwortungsvolle Eltern hätten sie längst abgeholt.«

Verantwortungsvolle Eltern. Sie wusste genau, auf wen er abzielte.

»Es bringt doch nichts, dorthin zu fahren und alle zu Tode zu erschrecken.« Sie sah auf die Uhr. »Ich werde morgen in meiner Dienstzeit hinfahren. Wenn ich da in Uniform ankomme, ist Ines bestimmt kooperativ. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie verraten würde, wer ich bin.«

»Warum morgen?«, fragte er ungeduldig. »Warum nicht jetzt?«

»Weil es Viertel nach elf Uhr abends ist«, sagte sie. »Und ich nicht glaube, dass etwas passiert ist. Ich habe vor ein paar Tagen mit Ines gesprochen, und da hat sie mir versichert, es sei alles okay.«

»Und seit wann vertraust du deiner Mutter? Fahr gleich morgen früh hin. Und ruf mich sofort an, wenn ihr zurück seid.«

Er legte auf, ohne ihre Antwort abzuwarten, und sie entspannte sich ein wenig.

Ihr knurrte der Magen. Sie hatte wohl das Abendessen vergessen.

Sie stand auf und ging zum Kühlschrank. Zog eins der Gefrierfächer heraus. Betrachtete die Auswahl eine Weile. Musste sich zwischen Pasta Alfredo und Nasi Goreng entscheiden. Die Wahl fiel auf die Pasta. Sorgfältig untersuchte sie die Verpackung. Sie hielt die Folie unter die Küchenlampe und hielt Ausschau nach winzigen Rissen. Dann zog sie die Folie vorsichtig ab und stellte die Schale in die Mikrowelle. Sie wählte die höchste Temperatur und erhitzte die Pasta etwas länger als nötig. Das machte sie zwar nicht gerade schmackhafter, aber das war ihr immer noch lieber als Keime im Essen.

Beim Herausnehmen verbrannte sie sich die Finger.

»Verdammt!«

Hastig stellte sie die Pasta auf die Arbeitsfläche und pustete Luft auf ihre Finger. Hauptsache, sie bekam keine Brandblasen. Sie sah die großen, mit Flüssigkeit gefüllten Blasen an den Fingerkuppen schon vor sich. Schon bei dem Gedanken musste sie sich beinahe übergeben. Dann lieber amputieren lassen. Eigentlich hätte sie sich das Abendessen auch schenken können. Es war schließlich schon fast Mitternacht. Aber ihr Magen sagte etwas anderes.

Als die Nudeln etwas abgekühlt waren, unternahm sie einen neuen Versuch. Diesmal ging es besser. Sie setzte sich mit ihrem Essen aufs Sofa. Vor den Fernseher. Wie immer. Gründlich wischte sie die Gabel mit einem Feuchttuch ab und holte tief Luft. Es gab eine Firma, die mit lebenden Bakterienkulturen in ihrer Dickmilch warb. Widerlich. Sie hingegen hoffte von Herzen, dass die Pasta vor ihr mausetot war. Im Fernsehen sang Benjamin Ingrosso über verlorene Liebe. Sie machte die Augen zu und schob sich einen Bissen in den Mund.