W enn Milda ihren Großvater besuchte, verspürte sie jedes Mal ein glückliches Flattern im Herz. Das rote Haus in Enskede stand für so vieles, was in ihrer Kindheit gut gewesen war. Das rote Haus stand für Großvater Mykolas.
Noch bevor sie angeklopft hatte, öffnete er die Tür.
»Guten Morgen«, rief er. »Ich habe Kaffee aufgesetzt!«
Sie durchquerte die Veranda voller prächtiger Geranien und Hortensien und zog sich die Schuhe aus. Während sie ihm in die Küche folgte, verzog sie ein wenig das Gesicht. Seine laute Stimme war Ausdruck seines im letzten Jahr viel schlechter gewordenen Gehörs und führte ihr unerbittlich sein Alter vor Augen. Sie hätte sich so gern die Illusion bewahrt, Großvater würde ewig leben.
»Setz dich, du siehst müde aus.« Großvater stellte einen Becher heißen Kaffee auf den Tisch.
»Du brüllst, Großvater«, sagte sie laut.
Er lachte so herzlich, dass sich die Grübchen in seinen wettergegerbten Wangen abzeichneten.
»Oje. Tja, du weißt ja, mein Gehör ist nicht mehr so toll. Aber es hätte schlimmer kommen können! Es hätten auch die Augen sein können!«
»Ich habe Brötchen mitgebracht.« Sie nahm kleine runde Brötchen aus einer Papiertüte. Ohne Drum und Dran. So mochte Großvater sie am liebsten. Sie schnitt die Brötchen auf und holte Butter und Käse aus dem mittleren Kühlschrankfach. Dann setzte sie sich zu ihm an den Küchentisch.
Großvater verzichtete auf die Butter und biss mit geschlossenen Augen in eine Brötchenhälfte.
»Hm«, machte er genüsslich. »Frisch gebacken. Herrlich.« Dann wurde er ernst. »So. Was ist los? Ich sehe dir doch an, dass du was auf dem Herzen hast.«
»Ach, nichts.« Sie winkte ab, obwohl sie eigentlich wusste, dass es zwecklos war. Er würde nicht lockerlassen.
»Ist es wegen Adi?«
Sie seufzte. Wie immer hatte er mühelos den wunden Punkt getroffen. Sie schmierte sich ein Brot und gab in Kurzform wieder, was Adi von ihr verlangte. Großvater verdrehte die Augen und legte seine runzlige Hand auf ihre.
»Einen faulen Apfel gibt es in jedem Korb«, sagte er. »Aber du bist wunderbar geraten. Wenn du ein Apfel wärst, wärst du ein Mio. Süß und saftig mit einem Hauch Erdbeere. Der Mio ist eine Züchtung mit sowohl englischer als auch schwedischer Herkunft und verbindet das Beste aus zwei Welten. Seine Schönheit hat er von der Muttersorte Worcester Parmäne und den delikaten Geschmack von der väterlichen Sorte Oranie.«
»Ich dachte, der Name hätte mit dem Buch von Astrid Lindgren zu tun.«
Milda lächelte. Mit einem schönen Apfel verglichen zu werden, gefiel ihr.
»Ja, genau!«
Großvaters Augen leuchteten.
»Der goldene Apfel. Ja. Das nimmt man jedenfalls an.«
»Und was für eine Apfelsorte ist Adi?«
Er schnaubte.
»Adi ist kein Apfel. Er ist ein Apfelwickler. Die Larven bohren sich bis ins Kerngehäuse.«
»Aber Großvater, er ist doch auch dein Enkel.«
Wieder rümpfte Großvater Mykolas die Nase.
»Genau. Und so geht man mit seiner Familie nicht um«, brummte er und zog die Augenbrauen zusammen. »Ich werde wohl mal ein ernstes Wort mit diesem Apfelwickler reden müssen.«
Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Verärgert hatte sie ihn noch nicht oft erlebt. Aber wenn sie seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, würde Adi einiges zu hören bekommen.
Dann lächelte er wieder.
»Aber ich nehme nicht an, dass du deswegen hier bist. Du kommst doch nicht nur, um mit mir über Adi zu sprechen.«
Sie senkte den Blick und schwor sich, ihren Großvater eines Tages auch ohne ein bestimmtes Anliegen zu besuchen. Bald sogar. Und dann würde sie nicht nur Brötchen, sondern auch Vera und Conrad mitbringen. Aber heute war ein anderer Tag.
»Ist schon okay«, sagte Großvater. »Ich bin doch froh, wenn mein Wissen auch außerhalb meines Gewächshauses von Nutzen ist. Hauptsache, du bringst mir nicht wieder einen Beutel Haare vorbei. Die waren ein wenig … speziell.«
Milda schüttelte belustigt den Kopf. Großvater machte es ihr immer leicht. Mit ihm zusammen war nichts schwer. Sie wagte kaum, daran zu denken, wie es ohne ihn sein würde.
Sie schob ihren Teller zur Seite und holte die Fotos und den Beutel von Mina hervor. Die Bilder hatte sie stark vergrößert ausgedruckt, damit er die Details besser erkennen konnte.
»Keine Haare«, sagte sie. »Aber Grashalme. Diese Blätter und die Halme sind aus dem Fatbursparken auf Södermalm. Wie du auf den Fotos siehst, wächst an einer Stelle dunkleres Gras. Die dunkleren Blätter stammen auch von dieser Stelle. Das übrige Gras im Park und die anderen Bäume sind sehr viel heller. Worauf beruht dieser farbliche Unterschied deiner Meinung nach? Könnte es daran liegen, dass die Stelle immer im Schatten liegt?«
Großvater Mykolas fegte die Krümel vom Tisch und breitete die Blätter darauf aus. Er hielt zwei davon ins Licht und betrachtete sie genau. Dann rieb er sie zwischen Daumen und Zeigefinger und roch daran.
»Sonne ist natürlich für alles, was wächst, ein wichtiger Faktor«, sagte er. »Aber noch stärker als von der Sonne werden Pflanzen von dem beeinflusst, was sich unter ihnen befindet. In der Erde. Der Boden ist überall anders. Er enthält unterschiedlich viele Mineralien und Nährstoffe. Mehr oder weniger Feuchtigkeit. Diese Grashalme und Blätter sind dunkler, weil sie mehr Chlorophyll produziert haben. Und das bedeutet, dass sich dort, wo sie wachsen, mehr Stickstoff im Boden befindet. Angesichts des vielen Unkrauts auf den Fotos scheinen insgesamt mehr Nährstoffe vorhanden zu sein.«
»Wir sprechen also von einer lokal begrenzten Veränderung der chemischen Zusammensetzung des Erdreichs«, sagte Milda. »Wodurch könnte der hohe Stickstoffgehalt an der einen Stelle denn verursacht sein? Durch Stromleitungen in der Nähe? Oder Kupferrohre? Temperaturunterschiede?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, sagte Großvater. »Um das zu wissen, bräuchte ich eine Bodenprobe.«
Er steckte die Blätter und Grashalme wieder in den Beutel und verschloss ihn sorgfältig.
»Erzähl mir doch erst mal, wieso du dich plötzlich für Fotosynthese interessierst«, sagte er. »Hat Vera ein Schulprojekt?«
Doch Milda hörte ihm gar nicht mehr zu. Ihr war ein schrecklicher Gedanke gekommen. Menschliche Körper enthielten ungefähr zwei Kilo Stickstoff. Der wurde zwar im Laufe des Verwesungsprozesses größtenteils in Ammoniak umgewandelt, was sie bei ihrer Arbeit mit älteren Leichen immer im Hinterkopf haben musste. Denn Ammoniak atmete man lieber nicht ein. Trotzdem enthielt eine menschliche Leiche auch nach diesem Umwandlungsprozess noch so viel Stickstoff, dass der Stickstoffgehalt des Erdreichs, in dem sie vergraben war, etwa fünfzigmal so hoch war wie der Normalwert. Damit ließ sich die erhöhte Chlorophyllproduktion an dieser Stelle problemlos erklären.
Sie starrte auf das stark vergrößerte Bild des grünen Flecks zwischen den Bäumen. Die Stelle war höchstens zwei Quadratmeter groß. Gerade groß genug für ein Kind.