V incent stand auf der Bühne. Er hatte sowohl an diesem Abend als auch am morgigen Freitag und am Samstag Vorstellung. Dann war er endlich fertig. Die Show näherte sich dem Teil, in dem er sich selbst mit dem Gürtel würgte. Zum Glück würde er diese Nummer nur noch drei Mal vorführen müssen, dann reichte es wirklich. Nach der vorigen Show hatte er die Abdrücke am Hals mit Make-up abdecken müssen. Bei der Nummer ging es jetzt nicht mehr um übernatürliche Kräfte oder den Kontakt zu Verstorbenen. Die Vorführung hatte sich nicht verändert, aber der Rahmen. Vielleicht war das seine Art, mit all dem Unheimlichen umzugehen, das momentan um ihn herum passierte. Doch was immer der Grund sein mochte, die Nummer erzielte jetzt eine noch stärkere Wirkung. Sein neues Thema, das mit Sekten zu tun hatte, war ein voller Erfolg.
Er war drei Stunden vor Vorstellungsbeginn im Oscarsteatern in Stockholm angekommen, um sich gründlich vorzubereiten. Bei den letzten drei Shows wollte er noch mal alles geben. Das Publikum war im Foyer auf seine Assistenten getroffen, die an alle Interessierten kostenlose Kappen verteilt hatten. Das dekorative Muster der Kappen bestand aus schwarzen Punkten auf weißem Stoff.
Nun saßen mindestens fünfzig Personen mit diesen Kappen im Saal. Und als Vincent für den zweiten Akt auf die Bühne zurückkehrte, hatte er sein Hemd gegen ein T-Shirt mit dem gleichen Muster getauscht.
»Es freut mich, dass so viele von Ihnen es gewagt haben, eine Kappe aufzusetzen, deren Bedeutung Sie nicht kennen.« Er breitete die Arme aus und präsentierte sein T-Shirt.
»Ich habe den Beweis, dass Sie alle, und zwar sämtliche 857 Personen im Saal, zum intelligentesten Teil der Bevölkerung gehören. Das lässt sich ganz leicht beweisen: Sie sind hier.«
Der Scherz war ein wenig albern, aber die kleine Schmeichelei schuf im Publikum ein Gemeinschaftsgefühl. Und tatsächlich lächelten die meisten zufrieden. Doch nun würde er das Gemeinschaftsgefühl zerstören.
»Gleichzeitig sind einige von Ihnen schon weiter als die anderen«, sagte er. »Diejenigen, die eine Kappe genommen haben, sind offensichtlich neugieriger als diejenigen, die es nicht getan haben. Ich sage das ohne Wertung, aber es ist so. Ich nehme an, dass die meisten von denen, die sich eine Kappe aufgesetzt haben, interessiert daran sind, sich in die beste Version ihrer selbst zu verwandeln. Sie haben wahrscheinlich Bücher über Persönlichkeitsentwicklung im Regal und möglicherweise sogar einen Kurs zu diesem Thema besucht. Alle, die eine Kappe tragen, haben ein einzigartiges Mindset und sind somit allen anderen um einiges voraus.«
Einige der Kappenträger nickten eifrig, während mehrere Personen ohne Kappen enttäuscht die Arme verschränkten. So einfach war es, eine Gruppe zu spalten. Zu diesem Zweck hatte er sich wieder einmal der Barnum-Aussagen bedient, Formulierungen, die zwar persönlich klangen, aber so allgemein gehalten waren, dass sie auf die allermeisten Menschen zutrafen. Außerdem wählte er einen milderen Tonfall und lächelte öfter, wenn er mit den Kappenträgern sprach. Der Effekt ließ nicht lange auf sich warten.
»Wenn man so aufgeschlossen ist wie Sie«, sagte er, »kann man auch auf einem einzigartigen Niveau kommunizieren. Sie und ich bewegen uns in derselben mentalen Sphäre.«
Noch mehr Schmeichelei. Und kompletter Unsinn. Hätte er mit »mentalen Sphären« angefangen, wäre ihm niemand auf den Leim gegangen. Aber die Sätze, die er direkt davor gesagt hatte, waren psychologisch darauf zugeschnitten, das Publikum darauf vorzubereiten, ihm praktisch alles abzukaufen. Erschreckend war nur, wie schnell es immer wieder ging.
»Ich weiß, es klingt merkwürdig.« Er lächelte entschuldigend. »Aber man kann diese Eigenschaft trainieren. Man muss nur den Körper vom Gehirn entkoppeln. Ich zeige es Ihnen.«
Er wappnete sich innerlich. Jetzt kam der Gürtel. Ein Assistent half einem der Kappenträger auf die Bühne und führte ihn zu einem Stuhl neben Vincent. Vincent legte sich den Gürtel um den Hals und zog ihn straff. Wie immer ging ein Raunen durchs Publikum.
»Ich tue das, um meinen Kopf nicht nur symbolisch, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes vom Körper abzukoppeln«, sagte er mühevoll.
Er streckte die Hand nach dem erschrockenen Mann mit der Kappe aus.
»Seien Sie so nett, meinen Puls zu messen. Und geben Sie ein Zeichen, wenn er sinkt. Ich werde jetzt versuchen, in unser gemeinsames Bewusstsein abzutauchen.«
Der verdammte Gürtel tat genauso weh wie immer. Oder besser gesagt, wie bei den letzten Malen. Der Rest des Ablaufs war ähnlich wie sonst auch. Vincent unterbrach den Puls im Arm und tat, als würde er das Bewusstsein verlieren. Innerhalb von wenigen Minuten gab er dann Kindheitserinnerungen des Mannes, einige Erinnerungen aus dessen späterem Leben und ein oder zwei Geheimnisse wieder, die der Mann noch niemandem erzählt hatte. Es wirkte zweifellos, als ob Vincent und der Mann das Gleiche dächten.
In Wirklichkeit hatte sich Vincent wieder einiger Barnum-Aussagen bedient, teilweise geraten und Rückschlüsse aus der Kleidung, der Ausdrucksweise und der Körpersprache des Mannes gezogen. Seine Behauptungen waren so vage, dass der Mann ihm helfen musste, sie zu »interpretieren«.
Wenn eine von Vincents Aussagen nicht zutraf, behauptete er, sie von einem anderen Mitglied der einzigartigen Gruppe empfangen zu haben. Und jedes Mal schnappte einer der Kappenträger nach Luft und murmelte, er oder sie müsste gemeint sein.
Als Vincent fertig war, lockerte er vorsichtig den Gürtel und aktivierte den Pulsschlag im Arm wieder.
»Danke für Ihre Aufmerksamkeit.« Er wandte sich ausschließlich an die Kappenträger. »Diese Fähigkeit besitzen Sie alle. Auf meinem Seminarhof können Sie lernen, mit unserem gemeinsamen Bewusstsein in Kontakt zu kommen. Wenn Sie zwei Wochen lang bei mir wohnen, trainiere ich Sie. Ich muss Sie allerdings warnen, die Seminare sind sehr teuer. Und es gibt nur zehn Plätze. Wer hat Interesse?«
Fünfundzwanzig Hände gingen sofort in die Luft. Vincent nickte nachdenklich. Er zählte stumm bis zehn, um die Pause so lange wie möglich auszudehnen.
»Und so baut man eine Sekte auf«, sagte er langsam.
Im Saal herrschte Totenstille.
Eine Welle von Emotionen wogte durchs Publikum. Diejenigen, die keine Kappen aufgesetzt hatten, fühlten sich jetzt nicht mehr ausgeschlossen, sondern empfanden Schadenfreude und Genugtuung. Die Kappenträger hingegen fühlten sich nicht mehr auserwählt, sondern verraten. Sie hatten ihm vertraut. Und er hatte ihnen die Hosen heruntergezogen. Er hatte fünf Sekunden Zeit, um das rationale Denken des Publikums zu aktivieren, bevor die Gefühle überhandnahmen. Das Kunststück bestand darin, ihnen die bittere Medizin zu verabreichen, ohne ihren Hass auf sich zu ziehen.
»Verzeihen Sie mir.« Er machte ein beschämtes Gesicht.
Das natürlich auch gespielt war.
»Bevor ich Ihnen erkläre, was gerade passiert ist, möchte ich eins betonen. Ich halte Sie wirklich für intelligente Menschen, jeden Einzelnen von Ihnen. Es gibt jedoch nicht den geringsten Unterschied zwischen denen, die eine Kappe tragen, und denen, die es nicht tun. Keine der beiden Gruppen ist klüger oder dümmer als die andere. Der einzige Unterschied ist, dass einige von Ihnen von einem meiner Assistenten ein Kleidungsstück in die Hand gedrückt bekommen haben. Diese Kappen schufen sofort ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Trägern. Dieses Gefühl habe ich anschließend verstärkt. Außerdem haben die Kappen Ihre Individualität reduziert, und das ist für Sekten enorm wichtig. Man muss ein Kollektiv erzeugen. Und der Terminus ›geteiltes Bewusstsein‹? Bullshit. Aber jede Sekte braucht ihre eigenen Ausdrücke, denn auch diese stärken das Gemeinschaftsgefühl.«
Die meisten Kappen wurden jetzt abgenommen. Die früheren Träger rutschten beklommen auf ihren Sitzen hin und her.
»Ich wiederhole es«, sagte Vincent. »Jeder hätte eine Kappe bekommen können. Es gibt keinen Unterschied zwischen Ihnen und anderen. Ganz egal, was ich vorhin behauptet habe. Und natürlich gibt es auch keinen Unterschied zwischen Ihnen und mir. Obwohl ich nur psychologische Tricks angewendet habe, konnte ich Sie überzeugen, für viel Geld zu mir zu kommen. Und die Pointe lautet vermutlich: Nehmen Sie sich vor falschen Propheten in Acht.«
Er hatte nicht die Absicht gehabt, eine Vorlesung aus der abendlichen Unterhaltungsshow zu machen. Aber manchmal ließ es sich eben nicht vermeiden. Die nächste Nummer würde dafür besonders heiter werden.
»Hat die Symbolik etwas zu bedeuten?«, rief jemand und wedelte mit seiner Kappe. »Die schwarzen Punkte, meine ich?«
»Oh, die Punkte.« Vincent zwinkerte schelmisch mit einem Auge. »Das ist Brailleschrift. Auf Ihren Köpfen steht ICH GEHORCHE .«
Das gesamte Publikum brach in befreiendes Gelächter aus. Lächelnd schaute Vincent über die vielen Köpfe hinweg. Sollten die Leute ruhig denken, dass er zu weit gegangen war. Aber immerhin gab es nun 857 Personen mehr, die sich nicht so leicht manipulieren ließen.
Beim Lichtwechsel entdeckte er plötzlich ein bekanntes Gesicht. Während der Vorstellung hatte er sie gar nicht bemerkt. Nova saß auf dem Balkon in der ersten Reihe. Sie lachte nicht. Und applaudierte nicht. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn einfach an.
Dann stand sie auf und ging.