A ls Vincent in die Garderobe kam, saß schon jemand auf dem Sofa. Vincent zuckte vor Schreck zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden anzutreffen. Denn eigentlich durfte niemand hier sein.

»Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Nova. »Aber der Wachmann hat gesagt, ich dürfte hier auf dich warten.«

Er brauchte eine Weile, um seine Fassung wiederzuerlangen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er geglaubt, Anna wäre zurückgekehrt, Anna mit den Tätowierungen, Anna, die ihn gestalkt hatte. Dabei sahen sich Anna und Nova überhaupt nicht ähnlich. Sein Blick wanderte automatisch zum Tisch. Während der Vorstellung hatte jemand ein Schälchen Süßigkeiten und drei Flaschen Mineralwasser daraufgestellt. Die Leute hier schienen ihn absichtlich in den Wahnsinn treiben zu wollen.

»Kein Problem«, sagte er schließlich. »Aber auf meiner vorigen Tournee wurde ich von einer Stalkerin verfolgt, die ständig versucht hat, hinter die Bühne zu gelangen. Irgendwann bin ich ihr wirklich begegnet, und das war … nicht so toll. Sie hatte ein ganzes Zimmer mit Bildern von mir zugepflastert. Und eine Art Altar errichtet. Seitdem bin ich ein wenig nervös. Außerdem bin ich normalerweise allein hier hinten.«

Er warf einen Blick auf den Fußboden. Sein Plan war gewesen, die Tür abzuschließen und sich hinzulegen. Aber Nova würde sich wahrscheinlich wundern, wenn er sich in ihrer Anwesenheit auf den Boden legte. Daher setzte er sich ihr gegenüber auf das Sofa und machte sich auf eine harsche Kritik an seiner Sektennummer gefasst. Er hatte Epicura zwar nicht namentlich erwähnt, aber fast.

»Es war nicht meine Absicht, mich aufzudrängen«, begann sie. »Eigentlich wollte ich nur mal Hallo sagen. Und mich für die interessante Vorstellung bedanken. Sie war wirklich spannend.«

»Findest du? Ich dachte schon, du ärgerst dich vielleicht über das, was ich am Ende gesagt habe. Über Gurus und Sekten. Wasser?«

Nova schüttelte den Kopf. Verdammter Mist. Er hatte gehofft, eine Flasche loszuwerden.

»Wieso sollte ich mich ärgern?«, fragte sie. »Du hast ja recht. Und es ist auch wichtig, auf diese Dinge hinzuweisen. Es ist ja nur gut, wenn die Leute lernen, den Unterschied zwischen konstruktiven und wahrhaftigen Bewegungen wie zum Beispiel meiner und schädlichen, manipulativen Sekten zu erkennen.«

Vincent war sich nicht sicher, ob er auf diesen Unterschied hatte hinweisen wollen, sagte aber nichts.

»Übrigens, falls du Interesse hast …« Sie öffnete ihre Handtasche.

Vincent fiel auf, dass sie von Louis Vuitton war. Nova holte einen Epicura-Prospekt heraus und reichte ihn ihm.

»Vielleicht willst du mich ja mal besuchen«, sagte sie.

Vincent blätterte in dem Prospekt. Auf der ersten Seite stand ein kursiv gedrucktes Zitat.

Epikurs Richtschnur für die neue Zeit ist dieselbe wie eh und je. Erlaubt sei der Verdruss, der Kometen passiert wie ein Stern. Schnell und unbemerkt. Es ist das stille Leben, das reinigt. Vermeide sorgsam jede Art von Schmerz und begehre nichts, denn ein Leben ohne Begehren ist ein Leben, das von jeglichem Leiden befreit ist. Und genieße deinen Erfolg, denn so erreichst du Alles

John Wennhagen

»Ich habe das Zitat auf der Webseite gesehen«, sagte er. »Aber ich wusste gar nicht, dass dein Vater auch ein Anhänger von Epikur war?«

»Vor allem mein Großvater«, sagte Nova. »Mein Vater hat nur hin und wieder mitgeholfen. Hat Texte geschrieben und so. Er war nicht hundertprozentig mit Großvaters Philosophie einverstanden. Dieses Zitat war das Letzte, was er geschrieben hat, bevor er … verschwand.«

»Verschwand? Ich dachte, er wäre bei diesem Unfall gestorben.«

Nova wurde blass und senkte den Blick.

Vincent biss sich auf die Zunge. Wie unsensibel. Nova wollte anscheinend nicht so konkret über den Tod ihres Vaters sprechen. Nun hatte er sie nicht nur dazu gezwungen, sondern sie auch noch an den Unfall erinnert, von dem ihre chronischen Schmerzen herrührten. Wirklich großartig gemacht für jemanden, der von sich behauptete, in anderen lesen zu können wie in einem offenen Buch.

»Nach dem Unfall haben sie den Untergrund zwei Wochen lang mit Draggen nach ihm abgesucht«, sagte sie. »Aber er wurde nie gefunden. Ich weiß natürlich, dass er von mir gegangen ist. Aber ein kleiner Teil von mir oder besser gesagt, das kleine Mädchen, das mit ihm im Auto saß, hofft immer noch, dass er eines Tages wieder auftaucht. Mit nassen Haaren vielleicht, aber unverletzt.«

Vincent versuchte, das Bild von einem wiederauferstandenen John Wennhagen, der triefend und mit Seetang im Haar vor Novas Tür stand, aus dem Kopf zu bekommen.

»Dein Vater hatte eine poetische Ader.« Vincent deutete auf den Text, um das Thema zu wechseln.

Nova lachte. Es hatte funktioniert.

»Du brauchst nicht höflich zu sein«, sagte sie. »Dieser Text ist für Außenstehende nahezu unverständlich. Er hat sich immer an die Regel gehalten, nur eine bestimmte Anzahl von Worten zu verwenden. Und zwar kein Wort mehr oder weniger, als er vorher beschlossen hatte. Er stellte sich oft solchen kreativen Herausforderungen. Wir verwenden den Text noch immer, um ihm unsere Achtung zu erweisen. Die Adresse findest du auf der Rückseite. Falls du mal vorbeikommen möchtest, wie gesagt. Dürfte ich mich bezüglich des Wassers noch umentscheiden?«

Nova zeigte auf eine der Mineralwasserflaschen auf dem Tisch. Endlich.

»Bedien dich einfach«, sagt er so unbekümmert wie möglich und legte den Prospekt beiseite.

Nova nahm den Flaschenöffner aus dem dazugehörigen Schälchen und öffnete eine Flasche. Vincent atmete die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte. Er selbst füllte am Handwaschbecken ein Glas mit Leitungswasser.

»Ich bin übrigens in dieselben Ermittlungen involviert wie du. Der Fall mit den toten Kindern.« Er setzte sich wieder. »Deine Annahme, es könnte eine organisierte Gruppe dahinterstecken, ist durchaus interessant. Aber agieren nicht die meisten extremen Bewegungen eher im Verborgenen? Diese Gruppe scheint sogar richtig gezielt auf sich aufmerksam zu machen.«

Nova trank einen Schluck aus der Flasche und sah ihn an. Ihr Lippenstift war hinterher noch genauso makellos wie vorher.

»Na ja, vielleicht wollen die Leute nicht auf sich persönlich, sondern auf ihre Botschaft aufmerksam machen.«

»Welche Botschaft soll das denn sein? Deine Wassertheorie? Die trifft leider nicht mehr zu. Am Vormittag hat die Polizei im Fatbursparken eine weitere Kinderleiche gefunden. Die Obduktion hat meines Wissens noch nicht stattgefunden, aber ich bin mir sicher, dass der Fund mit den anderen Morden zusammenhängt. Und der Fatbursparken ist ziemlich weit vom Wasser entfernt. Von der Fontäne mal abgesehen.«

Nova lächelte ihn mit einem Blitzen in den Augen an. Mit ihrer Präsenz füllte sie den gesamten Raum aus. Er musste sich eingestehen, dass er beeindruckt von ihr war. Er hätte auch gerne diese Selbstverständlichkeit und diese geradezu magnetische Anziehungskraft ausgestrahlt. Eigentlich war es seltsam, dass sie schon so lange nicht mehr auftrat. Wahrscheinlich lehnte sie alle Angebote ab. Nova schien nicht um Aufmerksamkeit zu buhlen, was in ihrer Branche ungewöhnlich war.

»Ich würde eher sagen, dass der Fund meine Theorie bestätigt«, sagte sie. »Gerade du solltest eigentlich wissen, dass der Fatbursparken mal ein See war. Noch vor etwa sechshundert Jahren gab es mitten im Stadtteil Södermalm einen See, der die Bevölkerung mit Süßwasser und Fisch versorgte.«

Nova hatte natürlich recht. Der Park war ein Überbleibsel von einem der wichtigsten Gewässer Stockholms. Er ärgerte sich ein wenig, weil ihm das nicht eingefallen war. Peder hätte sicher gern mehr darüber erfahren.

»Ende des siebzehnten Jahrhunderts hatte sich so viel Abfall im See angesammelt, dass er zu versumpfen begann«, fuhr Nova fort. »Der Gestank muss fürchterlich gewesen sein. Trotzdem wurde er erst im neunzehnten Jahrhundert anlässlich des Baus des Südbahnhofs vollständig trockengelegt. Es hat in diesem Gebiet also schon vor der Stadtgründung Wasser gegeben. Und Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde dann der Park angelegt. In dem jetzt die Leiche gefunden wurde. Warum schmunzelst du so?«

Vincent lachte. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er lächelte. Nova musste auch lächeln und strahlte wieder auf diese funkelnde Weise. Möglicherweise hatte sie doch recht, und er irrte sich. Aber wenn es so war und er die falschen Schlussfolgerungen gezogen hatte, dann wusste er nicht, was als Nächstes passieren würde. Und er war noch weiter davon entfernt, den Mörder zu verstehen, als zu Anfang.

Nova stand auf und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Wir sind uns ähnlicher, als du denkst«, sagte sie. »Ich bin nur ein bisschen klüger als du. Komm einfach mal vorbei. Die Adresse hast du ja.«