G ute Arbeit«, sagte Milda trocken.

Aus dem Lautsprecher drang »Tausendundeine Nacht« von Charlotte Perrelli, und die Rechtsmedizinerin schien gar nicht zu merken, dass sie mitsang. Loke hielt sich wie immer schweigend im Hintergrund, war aber jederzeit bereit, Mildas Anweisungen auszuführen.

»Das ist Vincents Verdienst.« Mina warf dem Mentalisten einen Seitenblick zu.

Aus irgendeinem Grund hatte er an diesem Morgen einen roten Striemen am Hals. Der war ihr schon öfter aufgefallen, seit sie an dem Fall arbeiteten. In einem ruhigen Moment würde sie ihn fragen, was es damit auf sich hatte.

Vincent starrte die Leiche auf dem Obduktionstisch an. Bevor sie in den Saal hineingegangen waren, hatte sie ihn mehrmals gefragt, ob er sich der Sache gewachsen fühlte. Leichen von Erwachsenen waren schlimm genug, aber Kinderleichen waren noch viel schlimmer. Er hatte jedoch darauf bestanden. Seinem Gesicht nach zu urteilen, das noch blasser war als sonst, schlug er sich allerdings mehr schlecht als recht.

»Ich habe ihn gerade zugenäht.« Schnalzend zog sich Milda die Handschuhe von den Fingern.

»Kannst du schon was sagen? Hat er die gleichen Verletzungen wie die anderen?«

Mina wandte sich von dem unbekannten Jungen auf dem Tisch ab. Dass sie nicht wusste, wer er war, kam ihr unwürdig vor. Irgendwo musste ihn jemand seit Langem vermissen.

Sie hörte Vincent mehrmals kräftig schlucken. Offenbar stieg sein Mageninhalt wie ein Jojo die Speiseröhre auf. Doch nur, weil Mina die Ruhe bewahrte, kam sie nicht unbedingt besser mit der Situation zurecht. Tote Kinder waren unnatürlich. Und nun waren es schon vier.

»Aufgrund der langen Liegezeit der Leiche sieht die Sache hier etwas anders aus.« Milda drehte die Musik leiser. »Unter der Erde verwesen Leichen langsamer, weil es dort zum einen kälter ist und es zum anderen keine Fliegen gibt. Trotzdem ist die Verwesung weit fortgeschritten. Die Hautschichten haben sich voneinander getrennt, was meine Arbeit erheblich erschwert, und das Gewebe wandelt sich bereits in Leichenwachs um. Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Übereinstimmungen mit den übrigen Opfern.«

Sie verstummte. Charlotte Perrelli sang im Hintergrund leise »Du bist in meinen Träumen«.

Nachdem er wieder geschluckt hatte, fragte Vincent mit belegter Stimme: »Wie groß sind die Übereinstimmungen denn?«

»Sehr groß, würde ich sagen«, antwortete Milda. »Die gleichen Abdrücke auf der Lunge. Ich habe sogar die gleichen Fasern in der Luftröhre gefunden wie bei den anderen Opfern.«

Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Rollwagen aus Stahl, auf dem die Proben bereitlagen, die ins Labor geschickt werden sollten.

»Ihrer Einschätzung nach war es also derselbe Täter?«

»Das zu beurteilen, ist nicht meine Aufgabe, sondern eure. Aber als Rechtsmedizinerin habe ich den Eindruck, dass es beim Tathergang große Übereinstimmungen gibt.«

Mina nickte nachdenklich. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass es für Vincent Zeit zum Gehen wurde, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor.

»Zeitpunkt?«, sagte er. »Wie schätzen Sie den Tatzeitpunkt ein?«

Stirnrunzelnd betrachtete Milda die Leiche.

»Sehr schwer zu sagen. Ich kann höchstens Vermutungen anstellen. Schätzungsweise lag die Leiche seit zwei Monaten in der Erde. Aber nagelt mich nicht fest. Wenn Leichen schon mit der Wachsbildung begonnen haben, ist das schwierig. Wobei, manchmal hilft es auch, denn wenn sich das Leichenwachs schnell bildet, können dadurch Verletzungen zumindest visuell konserviert werden. Das ist hier allerdings nicht der Fall. Wir haben übrigens auch das hier in der Nähe der Leiche gefunden, aber es wird bei der Feststellung des Todeszeitpunkts nicht weiterhelfen, weil Kunststoff nicht zersetzt wird.«

Milda zeigte auf einen durchsichtigen Behälter auf der Arbeitsfläche. Er schien ein rotes und ein blaues Spielzeug zu enthalten.

Vincent sah sich das Behältnis genauer an. Sein Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe.

»Legoautos.« Er zückte sein Handy. »Darf ich …?«

Nachdem Mina genickt hatte, begann er zu fotografieren. Für Legosets schien Vincent sich fast so sehr zu interessieren wie Milda für Leichen.

»Glaubst du, die Spielsachen gehörten ihm?«, fragte Mina.

»Es gibt keinen Grund, etwas anderes anzunehmen«, entgegnete Milda. »Natürlich ist es ein bisschen merkwürdig, dass sie mit ihm zusammen begraben wurden, aber das ist ja bei Weitem nicht das einzig Merkwürdige an der ganzen Geschichte.«

Mina nickte. Milda wusste gar nicht, wie recht sie damit hatte. Versunken in seine neuesten Fotos, kam Vincent zurück.

»Danke, Milda«, sagte Mina. »Wir hören voneinander, sobald die Laborergebnisse der Proben da sind, aber melde dich bitte auch, wenn dir vorher irgendwas in den Sinn kommt, und wenn es nur ein vages Gefühl ist. Im Moment können wir jeden Hinweis gebrauchen.«

»Ja, das verstehe ich«, sagte Milda ernst und gab ihrem Assistenten ein Zeichen, die Leiche wegzuschieben.

Als Mina und Vincent zur Tür gingen, hörten sie die Musik wieder lauter werden. Perrelli sang:

»Die Schatten in der Abenddämmerung wecken in mir Sehnsucht nach Liebe, ich träume von dir und kann dich nicht vergessen …«

Schwer fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Vincent holte einige Male tief Luft und ließ den Kopf hängen. Dann trafen sich ihre Blicke.

»Vier Kinder«, sagte er zu Mina. »Von verschiedenen Personen entführt, aber auf die gleiche Art getötet. Ich werde nie wieder schlafen.«

»Ich weiß. Aber wir haben ein Problem. Die Leiche da drinnen könnte deine Schachtheorie bestätigen. Vielleicht ist das Ganze wirklich eine Knight’s tour . Wir haben die Leiche genau da gefunden, wo du vorhergesagt hast, im Fatbursparken. Aber solange wir keinen Zusammenhang zu Pferden entdeckt haben, können wir uns nicht sicher sein. Dein Muster hängt ja von zwei Dingen ab. Da ist zum einen die Platzierung der Leichen, zum anderen das Poesiebild, der Rucksack und das Graffiti. Aber Legoautos haben meiner Ansicht nach nichts mit Pferden zu tun.«

Vincent nickte nachdenklich.

»Ich weiß«, sagte er. »Und außerdem kam mir das eine Spielzeug irgendwie bekannt vor. Irgendwas ist hier seltsam.«