I ch verstehe kein Wort.«
Nach einigen Tagen in der Arrestzelle sah Mauro müde und erschöpft aus. Im fahlen Schein der Neonröhren warfen die Stühle lange Schatten in den kahlen Raum, und die grüne Häftlingskleidung verlieh seinem Gesicht einen gräulichen Schimmer. Mina saß mit Mauro am Tisch. Vincent hatte sich auf einen Stuhl an der Wand gesetzt, um das Gespräch besser beobachten zu können.
»Irgendjemand muss die Kleider da reingesteckt haben«, fuhr Mauro fort. »Jenny wahrscheinlich.«
»Sie hat ein Alibi und außerdem nichts mit Ossian zu tun«, sagte Mina. »Abgesehen von dem Fund im Restaurant gibt es noch mehr belastende Tatsachen.«
Sie vermied es sorgfältig, die Tischplatte zu berühren. Ihre Feuchttücher hervorzuholen, konnte sie sich in einer Vernehmungssituation nicht erlauben. Ihre Hände ruhten auf den Oberschenkeln, und sie versuchte, nicht an den Stuhl zu denken, auf dem sie saß. Die Sitzfläche hatte sie auch nicht abwischen können.
»Was? Mehr belastende Fakten kann es gar nicht geben, weil ich nichts getan habe. Ich würde niemals …«
»Als Sie siebzehn waren«, unterbrach sie ihn. »Was ist da passiert?«
Mauros Gesicht fiel in sich zusammen.
»Was? Da … das war …«
»Sie verstehen doch, dass wir uns fragen, warum Sie uns eine frühere Verurteilung verschwiegen haben. Ich habe mir alle Ihre Vernehmungsprotokolle noch einmal angesehen. Die Sache wird nirgendwo erwähnt.«
»Weil niemand danach gefragt hat.« Mauro hob abwehrend die Hände.
»Stellen Sie sich nicht dumm. Ihnen ist vollkommen klar gewesen, wie bedeutsam der Vorfall unter den gegebenen Umständen ist. Ist er im Zuge des Sorgerechtsstreits etwa nicht zur Sprache gekommen? Wusste Jenny davon?«
»Nein«, sagte Mauro leise. »Nein, sie wusste nicht davon. Sonst hätte sie es gegen mich verwendet. Aber es ist … es ist nicht so, wie es aussieht.«
»Wie denn dann?«, fragte Mina.
»Es war kein Missbrauch«, sagte Mauro. »Wir waren zusammen. Ich war siebzehn, sie war vierzehn. Es war einvernehmlich und beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie war im selben Reitverein wie ich. Aber ihre Eltern waren dagegen. Ich war ihnen nicht vornehm genug. Und nicht schwedisch genug.«
»Hat sie das etwa vor Gericht ausgesagt? Dass die Sache auf Gegenseitigkeit beruhte?«
Mauro grinste gequält.
»Nein. Ihre Eltern hatten ihr ein neues Pferd versprochen, wenn sie eine andere Version erzählt. Das Pferd hatte sie sich schon lange gewünscht.«
Mauro verstummte. Er verschränkte die Arme und schob die Hände unter die Achselhöhlen. Dann starrte er ratlos auf die Tischplatte. Mina warf Vincent einen kurzen Blick zu, er nickte unmerklich. Mauro sagte offenbar die Wahrheit.
Eine Weile saßen sie schweigend da. Nur die Lüftung war zu hören.
»Wir müssen über Pferde sprechen«, sagte Mina.
»Pferde?«
»Ja. Es gibt bei den Kindern eine Spur, die … mit Pferden zu tun hat. Wie Sie sich vorstellen können, spricht es nicht gerade für Sie, dass Sie früher Reitsport betrieben haben.«
»Da bin ich ja bei Weitem nicht der Einzige.«
»Ich weiß. Da gibt es noch einhundertfünfundfünfzigtausend andere.«
Aus den Augenwinkeln sah sie Vincents Mund leicht zucken.
»Wie sind Sie denn eigentlich zum Reiten gekommen? Das ist doch für Jungs ein eher ungewöhnlicher Sport, oder?«
Mauro zögerte.
»Ungewöhnlich ist untertrieben«, sagte er schließlich. »Neunzig Prozent der Aktiven im Reitsport sind weiblich. Aber meine Mutter wollte es unbedingt. Sie ist auf einem Gestüt in Italien aufgewachsen und liebte Pferde. Also hat sie mich in den Sommerferien immer auf einen Reiterhof geschickt. Ihr Hintergedanke war wahrscheinlich, dass ich mal was anderes als Asphalt und Beton sehen sollte. Ich liebte die Pferde von Anfang an. Und anscheinend hatte ich auch Talent. So war es eben. Meine Eltern haben nicht nur Zeit und Aufwand, sondern jede verfügbare Krone in meine Reitwettbewerbe gesteckt.«
Mauro so anerkennend über seine Eltern sprechen zu hören, versetzte ihr einen Stich. Bei ihr hatte es anders ausgesehen. Und sie selbst war auch nicht so eine Mutter gewesen. Sie stand auf.
»Sie werden wohl noch eine Weile hierbleiben. Aber ich nehme mir die alten Akten noch einmal vor, versprochen.«
»Danke«, sagte Mauro.
»Eine Frage noch«, sagte Vincent, während er ebenfalls aufstand. »E-4 e-5 . Italienische Eröffnung. Wie würden Sie sich verteidigen?«
Mauro wirkte verwirrt. Fragend sah er die beiden an.
»Verteidigen? Wen soll ich …? Tut mir leid, aber von Fußball verstehe ich gar nichts. Wieso fragen Sie mich das?«
»Vergessen Sie’s«, sagte Vincent. »Ich habe mich geirrt.«
Mina hielt Vincent die Tür auf.
»Er hat keine Ahnung von Schach«, flüsterte Vincent ihr im Vorbeigehen zu.
Sie sah, wie Mauros Blick wieder erlosch.
In dem kahlen Raum surrte immer noch die Lüftung.