DIE VIERTE WOCHE

H allo!«

Ruben zuckte vor Schreck zusammen. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er nicht mehr allein war.

»Hallo.« Instinktiv fuhr er sich durchs Haar.

An diesem Dienstagmorgen machte es, was es wollte.

»Wie läuft’s?«, fragte Sara aus der Datenanalyse.

Die Sara, die ihnen beim Strukturieren und Sortieren aller möglicher Informationen behilflich war und die ihn aus irgendeinem Grund nicht mochte. Als sie sich neben ihn setzte, nahm er eine dezente Mischung aus Parfum und Waschmittel wahr. Sara sah trotz der Hitze völlig entspannt aus, und Ruben musste den Impuls unterdrücken, unter den eigenen Achseln zu schnuppern. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Aufgabe, die er vor sich hatte.

»Unsere Arbeit ist unendlich viel schwieriger geworden.« Seufzend zeigte er auf den Monitor. »Seit die Morde so viel mediale Aufmerksamkeit bekommen, melden Eltern ihre Kinder schon nach einer Viertelstunde als vermisst. Das Telefon klingelt am laufenden Band. Außerdem sind die Leute sauer. Sie sind der Meinung, wir würden unsere Arbeit nicht ordentlich machen. Und sie haben Angst. Eltern lassen ihre Kinder kaum noch aus den Augen.«

»Lieber eine Vermisstenanzeige zu viel als eine zu wenig.« Sara sah blinzelnd zum Bildschirm.

»Und als ob das nicht genug wäre, haben wir am Wochenende erfahren, dass der Mörder Mittwoch in einer Woche wieder zuschlagen könnte.« Er seufzte tief. »Aber nach dem Fiasko mit Mauro stehen wir sowieso wieder ganz am Anfang. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt. Gestern haben wir den ganzen Tag zusammengesessen und sind die Protokolle aller Befragungen im Fall Ossian durchgegangen, aber es ist rein gar nichts dabei herausgekommen. Niente. Unser Mörder ist ein Phantom.«

»Kann ich irgendetwas tun?« Sie griff nach der vollen Kaffeetasse, die sie auf dem Schreibtisch abgestellt hatte.

»Danke, aber im Moment wüsste ich nicht, was. Und falls dieser Kaffee aus dem Automaten kommt, muss ich dich warnen. Pures Rattengift.«

Sara lachte. Ihr Lachen klang hell und melodisch. Ulkig, dass ihm das nicht früher aufgefallen war.

»Ich bin die amerikanische Plörre gewohnt.« Sie trank einen Schluck. »Verglichen damit, schmeckt in Schweden auch der schlechteste Kaffee himmlisch.«

»Okay. Was ist denn eigentlich mit den USA ? Ich habe gehört, du bleibst endgültig hier?«

»Du meinst, du hast von meiner Trennung gehört?«

Sara seufzte. Er bemühte sich, keine verstohlenen Blicke auf ihre Kurven zu werfen, die sich zweifellos an den richtigen Stellen zeigten. Ihr Mann musste ein Idiot sein.

»Es hat sich herausgestellt, dass wir in mancher Hinsicht unterschiedlicher Meinung sind«, sagte sie. »Er wünscht sich eine Hausfrau, die im Allgemeinen die Klappe hält. Und ich sehe das wohl … ein wenig anders.«

»Kapiert.« Ruben scrollte sich durch die vielen Vermisstenmeldungen. »Verzeih mir, wenn die Frage zu privat ist, aber wie macht ihr es mit den Kindern? Wenn ihr auf verschiedenen Kontinenten wohnt?«

Sara sah ihn verwundert an.

»Das sind ja ganz neue Seiten an dir. Ich hätte gar nicht gedacht, dass du von meinen Kindern weißt.«

Ruben wurde rot, aber dann drückte er den Rücken durch. Sie hatte ja recht. Er entwickelte tatsächlich neue Seiten. Oder, na ja, was hieß schon neu. Eigentlich war er immer ein fürsorglicher Mensch gewesen, wenn er das mal so sagen durfte. Es hatte nur nicht so viele Menschen gegeben, um die er sich kümmern musste. Oder vielleicht doch, und er hatte es nur nicht gemerkt. Ach, Scheiße, nun wurde alles wieder so kompliziert. Aber kompliziert war gut, wie seine Psychologin Amanda zu sagen pflegte. Kompliziert bedeutete, dass sich etwas bewegte. Auch wenn es manchmal mühsam war.

»Ich habe erfahren, dass ich eine Tochter habe«, sagte er. »Sie heißt Astrid und ist zehn Jahre alt.«

»Oh, gratuliere!«

Sara sah ihn noch verwunderter an.

»Was … wie fühlst du dich damit?«

»Großartig«, sagte er und stellte fest, dass es stimmte.

Denn es war ja wirklich so. Er fand es großartig. Sie war großartig.

»Natürlich ist das traurig, dass ich von ihrer Kindheit so viel verpasst habe. Aber so ist es nun mal. Ich weiß auch nicht, ob ich eine Hilfe gewesen wäre. Ihre Mutter ist klug. Im Grunde weiß ich, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat, als sie mich rausgeschmissen hat. Aber jetzt will ich das Beste daraus machen. Und ein so guter Vater wie möglich sein.«

Kopfschüttelnd führte Sara ihre Tasse zum Mund. Sie musterte den Kaffee und stellte die Tasse wieder ab.

»Hier passieren ja Sachen, wenn man mal ein paar Tage weg ist«, sagte sie. »Ich freue mich unheimlich für dich. Und um deine Frage zu beantworten … das mit den Kindern ist ziemlich vertrackt. Ich will hierbleiben, weil ich hier meine Familie habe, und ich will, dass die Kinder hier aufwachsen. Er will das nicht. Die amerikanischen Gesetze sind nicht besonders toll, wenn es um die Rechte von Müttern geht. Jedenfalls nicht, wenn diese Mütter aus anderen Ländern stammen. Ich habe Angst, dass er die Kinder nicht wieder rausrückt, wenn sie ihn das nächste Mal besuchen. Und deswegen soll er vorerst herkommen, wenn er sie sehen möchte. Unsere Anwälte sind ›im Gespräch‹.«

Sie deutete mit den Fingern Gänsefüßchen an.

»Scheiße«, sagte Ruben spontan, und Sara nickte nur.

Sie trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht.

»Du hast recht. Es ist Rattengift.«

»Sag ich doch«, sagte er. »Hast du Lust, mit mir die Kinder durchzugehen, die in den vergangenen Wochen vermisst gemeldet wurden? Die meisten Kinder wurden sicher längst wieder aufgefunden oder sind von allein zurückgekommen. Manche Eltern vergessen einfach, Bescheid zu sagen. Ich schlage vor, wir rufen alle an. Nicht dass wir auf diese Weise unseren Entführer finden, denn der schlägt ja erst nächste Woche zu, wenn die Theorie stimmt. Aber diese Arbeit hier muss auch gemacht werden.«

»Wie weise von dir.« Sara setzte sich neben ihn und zog ihr Handy aus der Tasche. »Und wer weiß, vielleicht entdecken wir ja doch was Interessantes. Vielleicht ist die Zeit der Wunder ja doch noch nicht vorbei.«

Er sah sie verstohlen von der Seite an. Warum hatte er noch nie mit ihr geredet? Sie war schlau und witzig. Noch dazu schien sie kein bisschen zu schwitzen. Diskret schob er die Finger unter seine Achseln. Verdammt. Klitschnass. Und er hatte nur ein hellgraues T-Shirt an. Er wusste, dass das schwarze besser gewesen wäre.