I ch verstehe das nicht! Wie ist er denn im Fatbursparken gelandet? Ist Vendela auch da?«
Thomas Jonsmark fegte die Hand der Maskenbildnerin weg und drehte sich zu Ruben um. Die Polizei hatte Tage gebraucht, um einen Termin bei dem großen Schauspieler zu bekommen. Ruben und Peder hatten seinem Agenten jedoch nicht im Detail erzählt, worum es ging. Thomas sollte es als Erster erfahren.
»Du sollst in zehn Minuten fertig sein«, sagte die Maskenbildnerin.
»Die sollen warten«, sagte Thomas barsch und fuhr sich durch das dichte, dunkle Haar. »Würdest du uns bitte alleine lassen?«
Neidisch betrachtete Ruben die berühmte Haarpracht. Er hatte sich selbst zwar auch für einen Frauenschwarm gehalten, aber neben Thomas Jonsmark sah er ziemlich alt aus. Er war nicht nur ein Film- und Fernsehstar, sondern auch der feuchte Traum aller Schwedinnen.
Seine Romanzen mit bekannten und unbekannten Frauen hatten die Klatschpresse jahrzehntelang mit Stoff versorgt. Und Dexter war sein Kind. War sein einziges Kind gewesen, korrigierte Ruben sich selbst. Für einen Augenblick zerriss es ihm fast das Herz.
Er sah Astrids Gesicht vor sich, und während der Sekunden, in denen ihn schlagartig das Gefühl überkam, ihr könnte etwas zustoßen, fühlte er sich wie im freien Fall. Er schüttelte sich, um das Gefühl loszuwerden. Von diesem Abgrund hatte er nichts geahnt. Und er wusste nicht genau, wie er damit umgehen sollte.
»Leider haben wir Ihre Ex-Frau noch nicht erreicht«, sagte Peder. »Und Sie waren auch nicht leicht zu erreichen.«
»Ex-Freundin«, berichtigte ihn Thomas. Ruben sah, dass der Schauspieler Peders Bart anstarrte. »Vendela und ich waren nicht verheiratet. Dexter war … Vendela und ich hatten nur eine sehr kurze Liaison, um ehrlich zu sein. Dexter war ein Unfall. Jedenfalls von meiner Seite.«
Er ließ die Andeutung im Raum stehen. Das Thema war Ruben nicht unbekannt, weil es eine Zeit lang die Titelseiten der Klatsch- und Abendzeitungen dominiert hatte. Der Ton zwischen Thomas und Vendela schien von Anfang an vergiftet gewesen zu sein, beide machten sich schwere Vorwürfe. Dass Vendela mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, die noch dazu in aller Öffentlichkeit verhandelt wurden, hatte das Ganze nicht einfacher gemacht.
»Wir haben uns bei einem Filmdreh kennengelernt. Sie hat als Coach gearbeitet und sollte mich bei meiner Rolle in Dämmerungsblut beraten. Das war der Film, für den ich den Guldbagge bekommen habe.«
Wieder fuhr sich Thomas durchs Haar. Ruben nickte, obwohl ihm weder der Film noch der Preis irgendetwas sagten. Wenn nicht Bruce Willis, Tom Hardy oder Dwayne Johnson drin vorkamen, hatte er ihn höchstwahrscheinlich nicht gesehen.
»Sie war sehr, sehr schön. Und stark. Auf diese zerbrechliche Art. Ich war ihr komplett verfallen.«
Eine junge Frau mit Headset steckte den Kopf herein.
»Wir brauchen dich gleich auf der Bühne.«
Thomas machte eine abwehrende Handbewegung, und sie machte die Tür rasch wieder zu.
»Können Sie uns von Vendelas und Dexters Verschwinden erzählen?«, fragte Peder. »Was wissen Sie darüber?«
»Wie gesagt, wir wohnen ja nicht zusammen, das haben wir nie getan. Und wenn Vendela in der Klinik war, kam Dexter immer zu ihrer Mutter. Zu dem Zeitpunkt war Vendela gerade entlassen worden.«
»Haben Sie sich Sorgen gemacht?«, warf Ruben ein.
Thomas überlegte eine Weile und zupfte dabei an seiner Nagelhaut.
»Nein, eigentlich nicht. Vendela hatte immer einen Hang zum Drama. Sie hatte im Laufe der Jahre schon einige Selbstmordversuche unternommen, aber das war eigentlich immer eher … Theater gewesen.«
»Hatte sie vor dem Klinikaufenthalt auch gedroht?«, fragte Ruben. »Sich das Leben zu nehmen, meine ich?«
»Ja, schon. Ich hatte wohl eine SMS bekommen. Sie hatte einen Artikel über meine neue Freundin gelesen. Ein Model aus Brasilien. Und wie üblich ging sie an die Decke. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, dass man das am besten ignoriert.«
Er machte eine nonchalante Geste. Eine Locke fiel ihm in die Stirn, und Ruben musste widerwillig zugeben, dass er verstehen konnte, was die Frauen an ihm fanden.
»War an dem Tag, als die beiden verschwanden, irgendetwas anders?« Peder kratzte sich am Bart.
Ruben überlegte, wie er in Worte fassen sollte, dass es wirklich an der Zeit war, das Ungetüm abzurasieren.
»Nein. Erst als Vendelas Mutter anrief, um mir zu sagen, dass Dexter nicht im Kindergarten angekommen und Vendela nicht zu erreichen war, habe ich mir langsam Sorgen gemacht. Denn das war ungewöhnlich.«
»Und dann haben Sie in der Wohnung den Brief gefunden?«, fragte Peder.
»Ja. Vendelas Mutter hat einen Schlüssel. Wir sind zusammen hingegangen und fanden den Brief auf dem Küchentisch. Oder, was heißt schon Brief. Da stand nur ›Lebt wohl‹. Sonst nichts.«
»Haben Sie die Nachricht ernst genommen?«
Ruben zuckte erschrocken zusammen, weil wütend an die Tür geklopft wurde. Eine ältere Frau mit strenger Miene riss die Tür auf.
»Du musst jetzt wirklich kommen!«
»Aber hier ist die Polizei. Sie haben Dexter gefunden«, entgegnete Thomas in scharfem Ton.
Die Frau wurde bleich und nickte stumm.
»Dann lasst euch Zeit«, sagte sie, während sie behutsam die Tür schloss. »Ich gebe dem Team Bescheid.«
»Um Ihre Frage zu beantworten, nein, wir haben die Nachricht nicht ernst genommen.«
Zum ersten Mal entglitt dem Schauspieler die Fassade ein wenig, und Ruben erkannte dahinter so etwas wie echte Trauer. Kurz darauf hatte er seine Maske wieder aufgesetzt. Als ob das ganze Leben eine Rolle wäre.
»Erst als sie auch am Abend nicht nach Hause kamen, wurde uns klar, dass vielleicht wirklich etwas passiert sein könnte, und wir haben die Polizei informiert. Der Rest ist Ihnen ja bekannt. Sie wurde zuletzt gesehen, als sie zusammen mit einem Jungen an Bord der Fähre nach Tallinn ging. Sie hatte aber nur eine Fahrkarte für sich selbst gekauft. Und in Tallinn sind die beiden nicht an Land gegangen.«
Wieder fummelte er an seiner Nagelhaut.
»Wir haben die Zeugen noch einmal befragt. Kurz bevor wir zu Ihnen gekommen sind. Sie sind sich nicht mehr sicher, ob der Junge, den sie gesehen haben, wirklich zu ihr gehörte. Wir denken, dass Vendela allein auf die Fähre gegangen ist. Wahrscheinlich ist sie gesprungen. Aber Dexter war vermutlich nicht bei ihr.«
Voller Mitgefühl beobachtete Peder, wie Thomas immer mehr in sich zusammensackte. Sein Make-up war fast fertig, und Ruben bemerkte die dicke Schicht Puder auf seiner Haut und die feinen dunklen Striche, mit denen die Augenbrauen aufgefüllt worden waren. Wenn man den Mann im Fernsehen sah, fiel die Schminke gar nicht auf.
»Was? Wie kann das sein? Und wieso ist er im Fatbursparken gefunden worden?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Ruben. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass er ermordet worden ist. Von wem, wissen wir noch nicht. Wir können Vendela als Täterin nicht ausschließen, aber aus Gründen, auf die wir nicht näher eingehen können, glauben wir nicht, dass Ihre Ex-Fr…, äh, Ihre Ex-Freundin Ihren Sohn getötet hat.«
»Die Kinder«, sagte Thomas dumpf. Unter der beigen Puderschicht wurde er weiß. »Die Kinder in den Nachrichten.«
»Wie gesagt, wir können momentan nicht ins Detail gehen«, wiederholte Peder.
Die beiden Polizisten standen auf.
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das relevant sein könnte, ganz egal, was, dann melden Sie sich bitte.«
Peder legte ihm eine Hand auf die Schulter. Als sie gingen, sah Peder aus den Augenwinkeln, wie Thomas sich mit seinem Stuhl zum Spiegel herumdrehte.
»Wartet hier«, entschied Nathalie. »Wir sollten nicht zu nah ranfahren.«
Karl nickte und parkte in einer Seitenstraße. Sie befanden sich im Karlavägen, zwei Häuserblöcke von der Wohnung von Nathalies Vater in der Linnégatan entfernt. Hier waren sie vermutlich vor seinem wachsamen Auge sicher.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Ines.
»Das ist keine gute Idee. Ich mache das besser alleine. Wartet hier auf mich.«
Mit ihrem Rucksack stieg sie aus und bog in die Jungfrugatan ein. Die Frage war, wie viel die Wachmänner ihres Vaters wussten. Hatte er ihnen gesagt, dass sie verschwunden war? In dem Fall würden sie ihn wahrscheinlich anrufen, sobald sie sie entdeckten. Aber dagegen ließ sich jetzt nichts machen. Sie würde sich damit auseinandersetzen, wenn es so weit war. In der Linnégatan stand ein schwarzes Auto direkt vor dem Hauseingang. Es konnte ein normaler Privatwagen sein, aber vielleicht saßen auch die Wachleute ihres Vaters drin. Von außen war das unmöglich zu erkennen. Als sie ins Haus schlich, war jedoch niemand zu sehen.
Sie ging die vier Treppen zu Fuß, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen. Die Gittertür quietschte so laut, dass sie bis in die Wohnung zu hören war. Vor der massiven Wohnungstür blieb sie stehen und horchte. Aus der Küche war das typische Geschirrklappern ihres Vaters zu hören. Wahrscheinlich bereitete er irgendein unnötig aufwendiges Abendessen zu, obwohl er allein zu Hause war. Sie verstand nicht, warum er rund ums Essen immer einen solchen Aufwand betrieb.
Langsam steckte sie den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und schlich sich lautlos in die Wohnung. Ihr Blick fiel auf den Rücken ihres Vaters. Er hatte sich ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen und schmeckte gerade eine Soße ab, die sicher aus vier verschiedenen Sorten frischem Chili bestand, und prüfte die Temperatur des Bratens, während er aus seinen selbst gezogenen Tomaten die schönsten auswählte. Sie hatte nie verstanden, warum er nicht ein Restaurant eröffnet hatte, wenn das Kochen ihm solchen Spaß machte.
Auf Zehenspitzen ging Nathalie in ihr Zimmer. Das schwarze Keramikschatzkästchen stand auf ihrer Kommode. Den Deckel zierte ein silberner Totenkopf. Sie klappte das Kästchen auf und sah hinein. Es waren deutlich mehr als die zehntausend Kronen darin, die sie ihrer Großmutter gegenüber erwähnt hatte. Voller Stolz malte sie sich aus, wie sehr ihre Großmutter sich freuen würde, während sie das Schatzkästchen im Rucksack verstaute. Dann nahm sie alle sauberen Slips und Socken aus der oberen Schublade. Sie überlegte, ob sie auch eine Jeans einpacken sollte, aber die brauchte sie nicht, weil Ines sie ja mit Kleidung versorgte, nur nicht mit Unterwäsche. Ihr fiel noch ein, dass sie nach dem Ladegerät suchen wollte. Schließlich schlich sie sich noch ins Bad und holte ihr Necessaire, und am Ende stopfte sie alles in den Rucksack.
So leise, wie sie gekommen war, ging sie wieder durch den Flur. In den Bratpfannen in der Küche zischte und brutzelte es, und ihr Magen tat weh vor Hunger. Vor der Küche blieb sie kurz stehen. Ihr Vater war nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie hätte zu ihm hineingehen können. Er wäre überglücklich gewesen, sie zu sehen. Und sie hätte so viel essen können, wie sie wollte.
Sie sah auf ihre Hände und den zartrosa Streifen, der quer über ihre Finger verlief. Aus der Küche roch es wirklich köstlich. Es wäre ein Leichtes gewesen, in ihr altes Leben zurückzukehren. Sie hätte nur über die Schwelle treten müssen.
Doch dann hätte sie ihre Großmutter vermutlich nie wiedergesehen. Und Ines brauchte sie. Die anderen brauchten sie. Sie waren jetzt ihre Familie. Nicht der Mann in der Küche.
Eilig schlich sie aus der Wohnung. Die Tür glitt mit leisem Klicken ins Schloss.