A lle Mitglieder der Gruppe starrten an die Wand, als wollten sie einfach nicht wahrhaben, was Vincent ihnen erzählt hatte. Dabei hatte er sich doch deutlich ausgedrückt. Er hatte das Material sogar noch besser präsentiert als bei Mina zu Hause. Christer hatte ihm geholfen, einen alten Overheadprojektor aus einer Abstellkammer im Präsidium zu kramen. Ruben hatte schallend gelacht, als er das Ding in den Besprechungsraum schob.
Doch jetzt, nachdem er ihnen Johns Botschaft in allen Einzelheiten erläutert und seine Entdeckung anschaulich demonstriert hatte, indem er den Text auf der Folie auf die Karte an der Wand projizierte, waren sie still. Ihre Augenbewegungen verrieten, dass jeder die Linien auf der Karte verfolgte, um Johns Botschaft nachzuvollziehen. Immer wieder. Als ob etwas anderes herauskommen würde, wenn sie die Worte noch einmal lasen.
»Das kann doch nicht wahr sein«, rief Ruben schließlich.
»John Wennhagen also«, brummte Christer. »Wenn er wirklich nicht tot ist, hat er jahrzehntelang Zeit gehabt, seine alte Sekte wiederaufzubauen. Niemand hat nach ihm gesucht, wahrscheinlich heißt er gar nicht mehr John.«
»Welche alte Sekte?«, fragte Ruben.
»Erinnert ihr euch denn nicht mehr an die Gerüchte?«, fragte Christer. »Die haben doch alle zusammen da draußen gewohnt. Die ganze Truppe. Auf halbem Weg nach Nynäshamn. Es hieß immer, es handle sich um eine sektenartige Bewegung, aber niemand wusste Genaueres. Und nach dem Unfall haben sie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Ich kann verstehen, dass Nova schnellstmöglich den Nachnamen gewechselt hat. Wenn sie sagt, sie hat viel Erfahrung mit Sekten, dann spricht sie von sich persönlich. Was glaubt ihr wohl, warum sie mit Sektenentwöhnung arbeitet?«
»Oh, nein.« Peder strich sich über den Bart, der aus irgendeinem Grund blaue Flecken hatte. »Wenn John damals schon Sektenführer war und seine Aktivitäten seitdem die ganze Zeit heimlich fortgesetzt hat … dann hat er ja jahrzehntelang Zeit gehabt, neue Mitglieder zu rekrutieren und sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen.«
Sie wandten sich wieder Vincent zu. Einige hatten die Stirn in tiefe Falten gelegt. Außer Mina, aber die hatte das Ganze ja auch schon einmal gehört.
»Scheiße«, brummte Christer und verteilte Miniventilatoren an alle. Erst als Vincent sich dankbar einen nahm, fiel ihm auf, dass Bosse nicht dabei war.
»Er ist heute zu Hause geblieben«, sagte Christer, als er Vincents Blick auf den leeren Fressnapf bemerkte. »Zu Hause ist es ein halbes Grad kühler. So wie ich den Hund kenne, hat er sich eine eiskalte Badewanne einlaufen lassen.«
Vincent musste grinsen, als er den Golden Retriever vor seinem inneren Auge in der Badewanne planschen sah. Bestimmt hatte das Tier auch richtig viel Badeschaum ins Wasser geschüttet.
»Wir müssen so viel wie möglich über John Wennhagen herausfinden«, sagte Julia ernst. »Und zwar schnell.«
»Ich habe schon mal angefangen.« Peder klappte seinen Laptop auf.
»Irgendjemand muss Nova mitteilen, dass wir ihrem Vater auf der Spur sind«, sagte Christer.
Dann hielt er inne.
»Ihr glaubt doch nicht etwa …, dass sie mit ihm unter einer Decke steckt? Oder dass Epicura was damit zu tun hat?«
Es wurde still am Tisch.
Mina schüttelte den Kopf.
»Sie spricht mit echter Trauer in der Stimme von ihm«, sagte sie. »Falls John noch lebt, weiß Nova nichts davon. Sie wirkt vollkommen überzeugt von seinem Tod. Ich weiß zwar nicht viel über den Epikureismus, aber ich weiß, dass er nichts mit dem Töten von Kindern zu tun hat. Den Anhängern Epikurs scheint es vor allem darum zu gehen, keine hohen Wellen zu schlagen und ein Leben in der Stille zu führen. Das ist ja das genaue Gegenteil von Johns Lehre. Es wird ein harter Schlag für Nova. Aber ich kann versuchen, es ihr schonend beizubringen.«
Julia zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Die Frage ist nur, warum John das alles getan hat«, sagte Adam, der seinen Ventilator nicht in Gang bekam.
»Nein, das ist nicht die Frage«, entgegnete Julia entschieden. »Damit können wir uns später beschäftigen. Zunächst geht es um die Frage, wo wir suchen sollen. Wir haben nur noch heute und morgen Zeit, Wilma zu finden. Vorausgesetzt, dass John auch diesmal die drei Tage einhält. Und Peder, jetzt muss ich dich fragen, warum dein Bart blaue Flecken hat.«
Peder wurde rot und senkte den Blick.
»Ach, die habe ich von einem Kindergeburtstag«, murmelte er. »Die Farbe geht nicht mehr weg, ich weiß auch nicht …«
Plötzlich kam Milda herein und blieb ruckartig stehen.
»Oh, hallo, seid ihr etwa vollständig?«, fragte sie verwundert. »Eigentlich wollte ich dich sprechen, Mina, aber du warst nicht in deinem Büro. Ich habe neue Erkenntnisse über die Kinder oder, besser gesagt, über das, was wir in ihrem Inneren gefunden haben.«
»Meinst du die Fasern?«, fragte Mina.
Christer warf Milda einen Ventilator zu, den sie mit einer Hand auffing. Vincent hatte den Verdacht, dass sie in ihrer Jugend viel Brennball gespielt hatte.
»Danke«, sagte sie. »Ganz genau. Zuerst konnten wir sie nicht exakt bestimmen und wussten nur, dass es Wollfasern sind. Daher haben wir uns eingehender mit ihnen beschäftigt und dabei auf sämtlichen Fasern ein Bakterium gefunden. Dermatophilus congolensis . Das spricht für unsere Annahme, dass alle vom selben Ort stammen.«
»Was ist denn das für ein Bakterium?«, fragte Julia.
»Danke der Nachfrage. Es löst eine Hautkrankheit aus, die bei Pferden, Rindern und Schafen vorkommt. Sie wird Regenekzem oder umgangssprachlich auch Regenräude genannt. Nässe verursacht Hautrisse, in die das Bakterium eindringt. Dann bilden sich Krusten. Theoretisch kann das Bakterium auch vom Tier auf den Menschen übergehen, aber diese Zoonosen sind selten. Infektionen kommen über direkten Hautkontakt zustande oder wenn die Krusten aufweichen und Sporen an Bürsten oder Pferdedecken abgeben.«
Milda machte eine Pause, um den kleinen Ventilator einzuschalten.
Vincent war sich nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hatte. Die Kinder hatten die Bakterien in den Luftröhren gehabt. Und eigentlich lebten diese Bakterien in der Haut von Tieren? Hatte er irgendetwas verpasst?
»Wieso waren die Bakterien dann auf Wollfasern?«, wollte er wissen.
Milda schmunzelte. Anscheinend hatte er die richtige Frage gestellt.
Mit leisem Jaulen sprang ihr Ventilator an.
»Die Wolle muss mit infizierten Tieren in Berührung gekommen sein«, sagte sie. »Gleichzeitig müssen die Stoffteile aber auch groß genug gewesen sein, um die Gesichter oder vielleicht sogar die Köpfe der Kinder zu bedecken, weil die Kinder die Fasern ja eingeatmet haben. Wir haben jedenfalls keinen Hinweis darauf entdeckt, dass ihnen die Wolle mit Gewalt in den Mund gesteckt wurde. Ich vermute, aber das ist wirklich nur eine ganz persönliche Vermutung, dass …«
»Ja?«, sagte Julia ungeduldig.
»… die Wollfasern von Pferdedecken stammen.«
Vincents Gedanken drehten sich einmal um sich selbst und bissen sich in den Schwanz. Pferde. Immer begann und endete alles mit diesen rätselhaften Pferden.
»Äh, hört mal.« Peder hatte auf seinen Laptop gestarrt, während Milda redete. »Ihr erinnert euch doch an den Reiterhof, den John in den Neunzigern hatte. Diesen Hof, der dann abgefackelt worden ist.«
»Klar. Sind dabei nicht jede Menge Tiere verbrannt?«, fragte Julia. »Wenn ich mich recht entsinne, war das eine große Tragödie.«
»Das waren nicht nur irgendwelche Tiere.« Peder drehte seinen Laptop so, dass alle die Bilder sehen konnten.
Neben einem Pferdezaun stand ein lächelnder Mann mit Schnurrbart. Die Pferde an seiner Seite wirkten muskulös und stattlich.
»Pferde«, sagte Peder. »John Wennhagen hatte einen der beliebtesten Reiterhöfe im ganzen Land. Es war in Sorunda, das ist keine fünfzig Kilometer von hier entfernt. Und wisst ihr was? Auf den Satellitenbildern von Google Earth sieht es so aus, als wäre der Hof teilweise saniert worden.«
Alle im Raum starrten einander an. Dann standen sie hastig auf.