V incent ließ sich von Mina den Ruheraum des Präsidiums zeigen.

»Tut mir leid, dass ich dich gleich wieder hergebeten habe«, sagte sie. »Bist du bei deiner Familie jetzt in Ungnade gefallen?«

»Japp. Vergiss alles, was ich im Auto über Freundschaft gesagt habe«, sagte er. »Nein, keine Sorge. Maria war sowieso nicht zu Hause. Rebecka wollte eigentlich zu ihrem Freund, aber ich habe sie und Benjamin bestochen, und jetzt schauen sie mit Aston einen Film, bis ich nach Hause komme.«

Vincent bemerkte, dass Mina erstarrte, als ihr Blick auf die Liege im Ruheraum fiel. Vermutlich malte sie sich lebhaft aus, wie viele Menschen darauf schon ein Mittagsschläfchen gehalten oder sonst etwas getrieben hatten, ohne dass die Matratze ein einziges Mal gereinigt worden war.

»Ich habe ihnen Solaris eingelegt. Auf Blu-ray«, sagte er. »Also Tarkovskys Version. Auch wenn Stanislav Lem sich laut einem Dokumentarfilm durchaus dafür interessiert hat, was Steven Soderbergh und George Clooney so zustande bringen würden. Aber das russische Original von 1972 ist und bleibt eben das Original. Benjamin hat versprochen, Popcorn zu machen.«

Mina starrte ihn an.

»Ist Aston nicht erst neun?«, fragte sie. »Bist du sicher, dass er so was lieber sieht als zum Beispiel Ich – unverbesserlich? «

»Ich habe Solaris auch zum ersten Mal in seinem Alter gesehen.« Vincent zuckte mit den Schultern. »Und aus mir ist auch etwas geworden. Und außerdem ist der Film fast drei Stunden lang. Falls wir länger brauchen.«

Mina schüttelte den Kopf. Aber zumindest schien sie nicht mehr das gesamte Mobiliar mit Plastikfolie umwickeln zu wollen. Die Ablenkung hatte Wirkung gezeigt, zumindest vorübergehend. Er setzte sich auf die Liege, damit sie auf dem Stuhl Platz nehmen konnte.

»So, und jetzt erzähl«, sagte er. »Was machen wir hier? Was war denn so dringend?«

»Du hast Lenore hypnotisiert, oder?« Sie sah ihn an. »Als du sie befragt hast?«

Er zögerte. Hypnose war umstritten, und es gab mindestens so viele Meinungen über sie wie Menschen, die sie durchführten. Doch wie immer man dazu stand, die Polizei konnte diese Methode eigentlich nicht gutheißen. Und wenn Mina ihm jetzt eine Standpauke halten wollte, hatte sie sich einen merkwürdigen Zeitpunkt ausgesucht.

»Ich … habe mit Lenore gesprochen«, sagte er. »Ich habe bestimmte verbale und physische Techniken angewendet, um sie in einen mentalen Zustand zu versetzen, in dem sie entspannt und aufmerksam war, ohne das Gesagte zu analysieren oder infrage zu stellen.«

»Du hast sie also hypnotisiert.«

»Wenn du es so nennen willst.«

»Kannst du … kannst du mich hypnotisieren?«

Er war baff. Damit hatte er nicht gerechnet. Mina, die eine dicke Mauer um ihre Person gezogen hatte, fragte ihn, ob er zu ihrem Innersten vordringen wollte. Dorthin, wo sie verletzlich war.

»Willst du mich mit dieser Frage herausfordern? Weil du denkst, ich könnte es nicht?«, erwiderte er. »Oder soll ich es wirklich versuchen?«

»Als wir gestern auf diesem Hof waren, habe ich etwas gesehen«, sagte sie. »Ich kann mich nur verschwommen daran erinnern, es passierte so viel auf einmal. Ich bin nicht dazu gekommen, es wirklich zu verarbeiten. Jedenfalls nicht bewusst. Und jetzt komme ich da nicht mehr ran. Kannst du mich hypnotisieren und mir helfen, mich zu erinnern?«

Er schluckte. Bei jedem anderen hätte ihn die Frage nicht in Verlegenheit gebracht. Sie war ihm schon unendlich oft gestellt worden. Aber bei Mina war das etwas anderes. Es bedeutete, dass sie ihm wirklich vertraute. Dass sie bereit war, ihm zu zeigen, was in ihrem Kopf war. Und gleichzeitig vertraute sie darauf, dass er sich darin nicht mehr als nötig umschaute. Der Raum wurde ihm plötzlich zu eng. Oder war er zu groß? Er saß auch so komisch auf dieser Liege. Wie sollte er sich denn so des Vertrauens würdig erweisen, das sie ihm entgegenbrachte? Mina verzog das Gesicht, als die Liege unter ihm knarrte.

»Erstens«, sagte er, während er versuchte, sich zu konzentrieren. »Erstens brauchst du dich nicht hinzulegen. Du kannst einfach auf dem Stuhl sitzen bleiben.«

Mina war sichtlich erleichtert. Doch sie hatte immer noch die kleine Falte zwischen den Augenbrauen, die ihm schon aufgefallen war, als er das Thema Hypnose ihr gegenüber zum ersten Mal erwähnt hatte. So ganz wohl war ihr anscheinend doch noch nicht dabei.

»Zweitens glaube ich gar nicht, dass in diesem Fall eine Hypnose notwendig ist«, sagte er schnell. »Ich kann dir auch auf anderem Weg helfen, dich zu erinnern. Es gibt da verschiedene Techniken.«

Minas Stirn glättete sich. Er hatte recht gehabt. Wenn er sie in dem Glauben belassen hätte, er würde sie hypnotisieren, hätte er kein gutes Ergebnis erzielt. Es war unglaublich mutig von ihr gewesen, ihn darum zu bitten, aber im Grunde hatte sie Angst. Und die blockierte sie. Er musste eine andere Methode anwenden.

»Die Augen schließen und dich entspannen musst du trotzdem«, sagte er. »Kannst du das gleich mal ausprobieren?«

Mina schloss die Augen, und er konnte hören, wie sich ihre Atmung verlangsamte.

»Gut. Mach die Augen wieder auf. Wir haben noch nicht angefangen.«

Mina blinzelte leicht verwirrt.

»Aber wenn wir anfangen, möchte ich, dass du dir bewusst machst, wie sich deine Hände auf den Knien anfühlen. Mach die Augen noch mal zu und nimm es wahr.«

Mina schloss die Augen und ließ diesmal den Kopf ein wenig hängen. Er zählte stumm bis fünf.

»Ausgezeichnet. Jetzt öffne die Augen wieder. Wir haben noch nicht angefangen.«

Diesmal brauchte sie länger. Sie wirkte etwas verschlafen.

»Gleich werde ich dir helfen, dich zu erinnern. Du tust dann alles, was ich dir sage, und wirst zurück auf den Hof versetzt, und du schließt die Augen jetzt … und sinkst in einen tiefen Entspannungszustand.«

Mina schloss sofort die Augen und ließ den Kopf hängen.

»Noch tiefer … und tiefer … sinkst du in dein Unterbewusstsein und alles, was du auf dem Hof erlebt hast«, sagte er mit sanfter und monotoner Stimme. »Du riechst die Gerüche, hörst die Geräusche und siehst, was du gesehen hast.«

Er umfasste ihr Handgelenk und zog es ein Stück nach oben. Als er es losließ, fiel die Hand nicht auf ihr Knie.

Eigentlich mochte er diese Methode nicht. Sie beruhte zum einen auf sogenannter Fragmentierung, bei der man jemanden immer wieder in eine Art Trance versetzte und gleich darauf wieder in die Realität zurückholte. Der ständige Wechsel war physiologisch so anstrengend, dass das Gehirn von sich aus in Trance bleiben wollte. Und zum anderen führten die vielen Anweisungen zu einer Überlastung. Ein alter Trick, den jeder Hypnotiseur kannte. Wer ausreichend verwirrt war, befolgte die erste verständliche Instruktion, die er bekam. In diesem Fall war es die Anweisung gewesen, in einen tiefen Entspannungszustand zu sinken. Er mochte die Methode nicht, weil sie so offensiv war. Aber sie war zweifellos wirkungsvoll. Mina war bereits in tiefer Trance.

Er tippte mit dem Zeigefinger auf Minas schwebende Hand und drückte sie behutsam nach unten.

»Je weiter sich deine Hand nach unten bewegt, desto klarer werden deine Erinnerungen«, sagte er. »Und umso deutlicher siehst du alles vor dir. Du bist jetzt bereit, mir zu erzählen, was du siehst.«

Mina schwieg noch einige Sekunden.

»Wir parken«, sagte sie dann. »Vor dem Stall. Steigen aus. Ruben geht auf die Stalltür zu. Ich sehe mich um.«

»Was siehst du?«

»Das neue Haus. Bäume. Autos, unsere und ihre. Gestrüpp. Schotter.«

»Da ist etwas, das deine Aufmerksamkeit erregt«, sagte er. »Ist es ein Geräusch?«

»Es glitzert auf dem Boden«, sagte sie. »Eigentlich dürfte da nichts glitzern. Da ist ja nur Schotter. Es könnte Glas sein, vielleicht eine Scherbe, die da glitzert, aber es sieht symmetrisch aus. Ich sehe es nicht genau und muss die Augen zusammenkneifen. Und dann ruft Ruben …«

»Bleib dabei«, sagte er. »Du hast den Gegenstand gesehen, und deshalb ist er in deinem Gedächtnis gespeichert. Du hast jetzt den Laserblick und kannst kilometerweit schauen. Halt die Zeit an, betrachte den Gegenstand und sag mir, was es ist.«

Mina nickte. Er merkte ihr an, wie sehr sie sich anstrengen musste, um die abgespeicherte Erinnerung vor sich zu sehen. Plötzlich riss sie die Augen auf und schaute direkt in seine. Sie war unvermittelt aus der Trance erwacht. Als ob sie nie hypnotisiert gewesen wäre.

»Ich weiß, was es ist«, sagte sie. »Wir müssen zurück zum Hof.«