A ls Vincent sie aus dem Rohr fallen sah, wollte er sie eigentlich in den Arm nehmen, aber er wusste, dass das wahrscheinlich das Dümmste gewesen wäre, was er hätte tun können. Vor allem in Anbetracht ihres beißenden Geruchs und der besudelten Kleidung, die ihr am Körper klebte. Er wusste auch gar nicht, ob er genügend Kraft dazu gehabt hätte. In der Enge seine Panik in Schach zu halten, hatte ihn völlig ausgelaugt. Mina fuhr sich panisch durchs Haar und schüttelte drei Spinnen beachtlicher Größe ab, die eilig davonkrabbelten. Vincent legte sich ins hohe Gras und richtete den Blick in den strahlend blauen Himmel.

Die Helligkeit blendete ihn, aber das machte nichts. Er konnte wieder atmen. Er hatte Luft und Platz. Er drehte den Kopf. Mina hatte sich ebenfalls rücklings ausgestreckt und die Arme abgewinkelt, als wollte sie im Gras einen Schneeengel machen. Dass sie sich freiwillig auf den Boden legte, sagte einiges über das aus, was sie durchgemacht hatte. Ihr Gehirn war wahrscheinlich von Adrenalin überflutet. Der pure Überlebensinstinkt, der sie im Rohr gerettet hatte, schirmte sie noch immer von ihrer Umwelt ab. Aber lange würde dieser Zustand nicht anhalten. Auf ihrem Gesicht schimmerten Tränen. Er sah, dass sie Spuren im Schmutz hinterlassen hatten. Sie roch wirklich furchtbar. Und für ihn war sie schöner denn je.

»Pfui Teufel«, bibberte sie mit klappernden Zähnen.

Vermutlich hätte sie sich am liebsten die Kleider vom Leib gerissen.

»Was ist das bloß für ein krankes Arschloch?«, sagte sie schließlich, ohne den Blick von dem blauen Himmel abzuwenden. »Vielleicht hast du recht, und er wollte wirklich alle Menschen in seiner Umgebung umbringen und anschließend seine eigene Haut retten. Meinst du, er wollte Nova mitnehmen? Oder hatte er die Absicht gehabt, sie hier sterben zu lassen? Liegt es nicht eigentlich in der Natur des Menschen, die eigenen Kinder nicht im Stich zu lassen?«

Vincent beobachtete eine Wolke, die langsam über das große Blau hinwegzog, und grübelte. Er wusste, dass sich die Frage längst nicht mehr nur um John Wennhagen drehte. Und er wollte sich vorsichtig herantasten. Mina hatte sich nie eine Blöße gegeben oder den Anschein erweckt, über die offenen Wunden in ihrem Innern sprechen zu wollen. Daher hatte er auch nicht nachfragen wollen. Den Zeitpunkt musste sie selbst bestimmen.

»Ich glaube …«, sagte er zögerlich. »Ich glaube, so einfach, wie viele das gerne hätten, ist es nicht. Meiner Ansicht nach ist die Liebe zu den eigenen Kindern eins der mächtigsten Gefühle auf der Welt. Und ich könnte dir sowohl die psychologischen als auch die evolutionären Grundlagen erklären. Es gibt da jedoch noch etwas, das sich mit unserer Biologie und dem Überlebenstrieb der Art nicht erklären lässt. Ich würde es gerne als Geschenk bezeichnen, aber diese Formulierung wirft die Frage auf, von wem wir dieses Geschenk bekommen haben.«

Er machte eine Pause. Er hatte sich bereits in die äußersten Randgebiete seiner eigenen Überzeugungen vorgewagt. Und er wollte Mina mit dem, was er als Nächstes zu sagen hatte, nicht kränken.

»Diese Liebe überwindet jede Entfernung«, sagte er. »Kennst du die Geschichte von König Salomo? Zwei Frauen kommen zum König, der für seine Weisheit bekannt ist. Beide behaupten, die Mutter eines kleinen Kindes zu sein. Keine von ihnen will nachgeben. Der König zieht sein Schwert und verkündet, er würde das Kind zweiteilen, sodass jede Frau eine Hälfte bekommt. Die eine Frau hält das für eine ausgezeichnete Idee, während die andere sagt, in dem Fall könne die erste Frau das Kind behalten. Hauptsache, es stirbt nicht. Salomo erkennt in der zweiten Frau die wahre Mutter, denn nur sie war bereit, für das Kind ihr eigenes Glück zu opfern.«

Mina schwieg lange.

»Es war das Schwerste, was ich je getan habe«, sagte sie dann. »Sie zurückzulassen. Aber ich wusste, dass es das Beste war. Jedenfalls glaubte ich das zu wissen. Sie sollte nicht so aufwachsen wie ich. Mit einer Mutter, auf die man sich nicht verlassen konnte. Die von ihrer Sucht völlig in Anspruch genommen war. Ich konnte ihr nichts geben. Nichts. Ich war niemand. Ich war eine leere Hülle. Und ich habe nicht daran geglaubt, dass ich jemals eine andere hätte sein können. Ich habe geglaubt, ich hätte ihr nichts zu geben.«

»Sprichst du jetzt von Nathalie?«

»Ja, Nathalie.«

Mina schluchzte auf, hatte sich aber schnell wieder gefasst. Eine neue Wolke schwebte über sie hinweg. Mit leiser und brüchiger Stimme sprach sie weiter.

»Er war so verletzt, Vincent. Verletzt, weil ich ihn verlassen hatte. Aber vor allem, weil ich Nathalie verlassen hatte. Er hat mir ein Ultimatum gestellt. Wenn ich wirklich gehen wollte, dann für immer. Ich sollte aus ihrem Leben verschwinden. Und aus seinem. Ich glaube … nein, ich weiß, dass er keine bösen Absichten hatte. So ist er nicht. Er hat wirklich gedacht und denkt immer noch, eine konsequente Haltung wäre für Nathalie das Beste. Er hat seine Gründe. Sein eigenes Päckchen zu tragen. Wie wir alle. Aber ich weiß, dass er nur ihr Bestes wollte, als er mir das Ultimatum stellte. Und ein Teil von mir gab ihm recht. Ich hatte mich schließlich entschieden zu gehen. Sie war fünf Jahre alt, und ich habe mich entschieden, sie zu verlassen.«

Die Wolke war vorübergezogen, und die Sonne wärmte wieder. Und verstärkte den Geruch von Minas Kleidung. Er drehte sich auf die Seite, damit er sie besser sehen konnte. Vermutlich war sein Anzug mittlerweile voller Grasflecken. Ganz abgesehen von dem Dreck aus dem Tunnel. Er roch auch nicht gerade angenehm.

»Das Schöne am Menschsein ist«, sagte er, »dass sich alles, oder zumindest das meiste, verändern lässt. Du bist nicht mehr dieselbe. Nicht eine Zelle deines Körpers ist noch dieselbe wie damals. Und deine Gedanken sind es auch nicht. Du kannst Nathalie heute anders gegenübertreten.«

»Und wenn sie nichts von mir wissen will?«

Die Frage stieg wie ein unglücklicher Schrei zum Himmel auf. Vincent wollte Mina berühren und ihr versichern, dass ihre Sorge unbegründet war, ließ seine Hand aber im Gras liegen.

»Ich habe nicht gesagt, dass es einfach wird. Aber den ersten Schritt hast du gemacht. Ihr Vater hat dir eine Tür geöffnet. Das muss doch etwas zu bedeuten haben.«

»Er hatte ja keine andere Wahl«, sagte Mina. »Wäre es nach ihm gegangen, wäre ich immer noch eine persona non grata.«

»Sag das nicht. Manchmal tun Menschen Dinge, die sie eigentlich wollen, erst dann, wenn die Umstände sie dazu zwingen.«

Mina antwortete nicht. Es war wieder eine Wolke aufgetaucht, die ihre Vorgängerin über den Himmel jagte.

»Was waren das für Zahlen im Tunnel?«, fragte sie nach einer Weile.

»Primzahlen. Ich musste meinem Hippocampus was zu tun geben, um weiterrobben zu können.«

Lange schwiegen beide.

»Ich muss dich was fragen«, sagte sie. »Dieser rote Abdruck an deinem Hals. Sollte ich mir Sorgen machen?«

»Was meinst du?« Er sah sie an. »Ach so, der. Ich dachte, man würde ihn nicht sehen. Den habe ich aus meiner Show. Aber ich führe die Nummer nicht mehr auf.«

»Also kein … Würgesex?«

Ein donnerndes Lachen stieg in ihm auf, brach sich Bahn und hallte von den Bäumen wider. Der Klang war unglaublich befreiend. Mina musste auch grinsen, und er wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

»Weißt du, wie Atome entstehen?«, fragte er dann.

»Atome?«

»Ja, Atome. Sie werden im Innern von Sternen gebildet.«

»In der Sonne zum Beispiel?« Sie blinzelte.

Er nickte. Irgendwo dort oben hinter dem Blau des Himmels waren sie. In der Dunkelheit.

»Sterne sind eigentlich Atomfabriken«, fuhr er fort. »In ihrem Kern, da, wo sie am heißesten sind, werden alle Bausteine für das restliche Universum gebildet. Atome, die dann ins All geschleudert werden und unter anderem hier auf der Erde landen. Alles, was du siehst, alle Menschen und Dinge, sind aus den Atomen von Tausenden, vielleicht Millionen Sternen zusammengesetzt.«

Mina zupfte an ihrer Bluse. Offensichtlich hatte ihr Gehirn den Notfall für beendet erklärt, und ihr Adrenalinspiegel sank. Aufgrund dessen begann sie, sich Gedanken über den Zustand ihrer Kleidung zu machen.

»Dieser Stoff auch«, sagte er. »Und der Boden, auf dem wir liegen. Und du und ich. Zu sagen, wir kämen von den Sternen, ist keine romantische Poesie, sondern Naturwissenschaft. Alles besteht aus Sternenatomen.«

Er verstummte einen Moment, weil er nicht sicher war, wie er fortfahren sollte.

»Warum reden wir über Atome?«, fragte sie und hörte auf, an der Bluse zu ziehen.

»Weil ich, wenn ich mit dir zusammen bin …«

Er schluckte erneut. Sah ihr in die Augen. Die großen klaren Augen, die ihr gesamtes Wesen enthielten. Die ganze Mina. Augen, die ihn sahen. Er musste sich kurz abwenden. Dann sah er ihr wieder in die Augen.

Und traute sich.

»Ich weiß, wie albern es sich anhört. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, habe ich das Gefühl, dass wir zwei aus den Atomen desselben Sterns bestehen. Eines Sterns, der vielleicht so weit von der Erde entfernt ist, dass die Bausteine, die hier angekommen sind, nur für dich und mich gereicht haben. Sternenatome, die außer uns niemand hat. Denn ich … ich habe das Gefühl, ich …«

Was wären die richtigen Worte gewesen? Kenne dich? Verstehe dich? Nein. Das reichte nicht.

»Ich glaube, ich weiß, wer du wirklich bist, Mina«, sagte er. »Hier drinnen.«

Er zeigte zuerst auf seinen Kopf, überlegte es sich dann aber anders und zeigte auf seinen Brustkorb.

»So wie dich habe ich noch nie jemanden gekannt. Besser kann ich es nicht erklären. Mit dir fühle ich mich zum ersten Mal … als wären wir gleich.«

Sie nickte stumm. Vermutlich hatte er sich völlig zum Idioten gemacht. Mühsam setzte er sich auf.

»Sollen wir zurückfahren?«, fragte er.

»Wenn ich nicht in den nächsten dreißig Sekunden aus diesen Sachen herauskomme, schreie ich.« Sie fummelte den Autoschlüssel aus der Hosentasche. »Wenigstens habe ich frische Unterwäsche im Auto. Jedenfalls für mich. Für dich habe ich nur Feuchttücher.«

Vincent sah an seinem verdreckten und zerrissenen Anzug hinunter. Er würde einiges erklären müssen, wenn er nach Hause kam.