S eit Nathalie am vergangenen Freitag das Geld aus der Wohnung ihres Vaters geholt hatte, war sie wieder auf dem Seminarhof von Epicura. Sie waren nicht auf den Reiterhof zurückgekehrt, wo sie in letzter Zeit gelebt hatte, sondern Ines hatte sie stattdessen zu Nova gebracht. Anfangs war Nathalie enttäuscht gewesen, weil sie mitgeholfen hatte, den Reiterhof zu sanieren und richtig schön zu machen. Sie hatte angefangen, sich dort zu Hause zu fühlen. Doch im Grunde war Novas Seminarhof im Vergleich zum Reiterhof der pure Luxus, und daher beklagte sie sich nicht. Es fühlte sich an wie eine Belohnung, hier sein zu dürfen. Und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es vielleicht genau das war. Sie hatte schließlich bewiesen, dass sie eine von ihnen war.
Als sie am Abend vom Zähneputzen zurückkam, lag auf ihrem Bett ein Stoffbündel. Darauf ein Zettel.
Zieh dich um und komm zu mir in die Aula
/Großmutter
Nathalie faltete das Stoffbündel auseinander. Es war genauso ein Gewand, wie Ines es einmal getragen hatte. Ein Nachthemd? Es war ja tatsächlich schon spät. Doch das Gewand kam ihr irgendwie … feiner vor. Sie zog Hose und T-Shirt aus und schlüpfte in das Gewand. Es fühlte sich ganz rein an. Und wichtig. Als ob etwas Bedeutsames passieren würde.
Da sie nicht genau wusste, wo die Aula war, brauchte sie einige Minuten, um sich in dem Gebäudekomplex zurechtzufinden, aber schließlich gelangte sie zu einem großen weißen Raum.
Ines stand in der Mitte. Neben ihr lag ein ganzer Berg Decken und Matratzen, in einem Halbkreis hinter ihr standen etwa zehn Personen. Einige von ihnen erkannte Nathalie wieder, aber die meisten waren ihr neu. Von ihren Freunden vom Pferdehof war niemand darunter. Keiner hatte bandagierte Hände.
»Sei willkommen, Nathalie!«, rief Ines feierlich und breitete die Arme aus. »Heute ist ein besonderer Tag. Du bist inzwischen eine von uns. Jetzt ist es Zeit, dich zu häuten. Dies ist der Tag, an dem du aus der toten Hülle deines alten, verschwendeten Lebens heraus- und in ein neues Leben eintrittst. Ein vollendetes und intensives Leben. Wenn du auf den heutigen Tag zurückblickst, wirst du erkennen, dass du an diesem Tag neu geboren wurdest.«
Nathalie hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Aber es hörte sich wichtig an. Wie so oft in letzter Zeit tanzten an den Rändern ihres Gesichtsfelds Sterne und verliehen ihrer Großmutter einen funkelnden Schimmer.
»Danke«, sagte Nathalie leise. »Ich hätte gerne eine so intensive Ausstrahlung wie du.«
Ines nahm sie strahlend an der Hand und führte sie zum Matratzenhaufen. Dort setzten sie sich.
»Du hast mich mehrmals unseren großen Anführer John Wennhagen zitieren gehört«, sagte Ines. »Alles ist Leiden, Schmerz reinigt. Ich habe dir aber nicht vollständig erklärt, was das bedeutet. Der erste Teil stammt aus dem Buddhismus. Nach Ansicht der Buddhisten beruht unser allumfassendes, aber völlig unnötiges Leiden auf Wünschen und Begehrlichkeiten. Wir wollen Dinge kaufen, die wir uns nicht leisten können. Wir glauben, wir würden glücklicher, wenn wir in eine größere und schönere Wohnung umziehen. Die anderen auf Instagram haben viel mehr Spaß als wir. Jeder unrealistische Wunschtraum, jede Sache, die wir haben wollen, obwohl wir sie nicht brauchen, erzeugt Leiden. Die Buddhisten glauben, dass wir unser Begehren loswerden müssen, um nicht mehr zu leiden. Kannst du mir noch folgen?«
Nathalie nickte. Das klang genauso wie in Novas Vorträgen. Sie hatte bestimmt mal einen gehört. Das musste alles ewig her sein.
»Hier befreien wir uns vom Leiden, indem wir die Perspektive verändern«, fuhr Großmutter fort. »Oder, um es mit Johns Worten zu sagen, Schmerz reinigt. Du hast bereits erlebt, was das bedeutet. Doch was war wohl das schmerzhafteste Ereignis deines Lebens?«
Was sollte sie da nehmen? Früher hätte sie wahrscheinlich gesagt, es wäre damals gewesen, als Papas Leibwächter einen Jungen verscheuchten, den sie mochte. Oder als sie sich beim Skateboarden das Bein brach. Oder als ihr klar wurde, dass ihre Mutter tot war. Aber jetzt? Sie zuckte mit den Schultern.
»Es war deine Geburt«, sagte Ines. »Davor hat in deiner Welt kein Schmerz existiert. Deine Umgebung war sicher und warm, du warst geborgen und kanntest nichts anderes. Doch plötzlich wurdest du stundenlang durch einen engen Kanal gepresst, der von allen Seiten Druck auf dich ausübte, um schließlich in eine Welt voller Licht, Kälte und unbekannter Gerüche zu gelangen, wo du den Herzschlag deiner Mutter nicht mehr hörtest. Fürchterlich. Du hattest auch keine Möglichkeit, dieses Erlebnis einzuordnen. Nichts ist mit dem ersten Schmerz vergleichbar. Und daher werden wir jetzt deine Erinnerung wiederherstellen. Damit du verstehst, wer du wirklich bist. Du, Nathalie, sollst wiedergeboren werden. Sei so gut und zieh dich aus.«