S ie konnte nicht atmen. Der Druck von allen Seiten war zu groß, um sich zu befreien. Sie konnte weder Arme noch Beine bewegen und wusste nicht mal mehr, wo oben und unten war. Sie wusste nur, dass es dunkel war und sie kaum noch Luft bekam.
Zuerst hatte Ines sie in Decken eingerollt. Nathalie hatte währenddessen gekichert, weil ihr das Ganze so albern vorkam. Dann hatte Großmutter gesagt, sie solle sich auf drei Matratzen legen. Die anderen Matratzen würden auf sie draufgelegt werden, sodass sie dazwischen eingeschlossen war. Wie ein menschlicher Hamburger, hatte Nathalie gedacht. Oder ein Hotdog.
Sie hatte nichts anderes tun müssen, als sich aus den Matratzen und Decken zu winden, um auf diese Weise symbolisch die eigene Geburt nachzuvollziehen. Sie verstand zwar nicht, was das sollte, aber sie wagte nicht zu widersprechen.
Eins hatte Ines ihr allerdings nicht gesagt. Als Nathalie zwischen den Matratzen lag, hatten sich alle anderen auf den Haufen draufgelegt. Zehn Erwachsene hatten sie plötzlich mit ihrem ganzen Körpergewicht nach unten gedrückt.
Es war schnell gegangen und hatte ihr augenblicklich die Luft abgedrückt. Müdigkeit und Schwindel waren wie weggeblasen, stattdessen strömte jetzt Adrenalin durch ihre Blutbahn. Die Polsterung verteilte das Gewicht ein wenig, aber sie hatte trotzdem das Gefühl, zu Tode gequetscht zu werden.
Ihr wurde klar, dass sie zwischen diesen Matratzen ersticken konnte. Sie hatte nicht mehr genug Luft, um zu schreien, und wer hätte sie auch hören sollen? Sie durfte nur nicht bewusstlos werden, was immer auch passierte.
Hätte sie doch wenigstens ihre Hände befreien und sich hinauswühlen können, aber die Decken, in die sie eingewickelt war, machten solche Bewegungen völlig unmöglich. Sehen konnte sie auch nichts.
Immer wieder war es so dunkel, dass sie kaum noch wusste, wo ihr Körper endete und die Decken anfingen. Sie konnte sich nur noch hin und her wälzen und musste hoffen, dass sie sich auf diese Weise millimeterweise vorwärtsbewegte. Sie glaubte jedenfalls, sich zu wälzen, aber sicher war sie sich nicht.
Ines hatte gesagt, dass sie zwischen den Matratzen erfahren würde, wer sie war. Aber im Moment war sie nur ein Gefühlszustand. Die konkreten Gedanken waren in der Wärme und der Dunkelheit verschwunden. Das Gefühl war Panik. Aber auch … Resignation.
Das Adrenalin reichte nicht aus.
Sie hatte kaum noch Energie.
Und bekam keine Luft.
Sie atmete dieselbe Luft ein, die sie ausgeatmet hatte. Wenn sie überhaupt einatmen konnte, denn ihre Lunge wurde zusammengedrückt. Sie war kurz davor, einzuschlafen. Der Schlaf versuchte, sie an einen anderen Ort zu bringen. Sich zu beruhigen. Aufzugeben. Und vielleicht war das auch gut. Sie gab doch meistens auf, oder etwa nicht? In der Schule oder im Freundeskreis ergriff sie nie die Initiative. Sie ließ sich mit dem Strom der Ereignisse treiben. Wozu kämpfen. Das Leben war doch anstrengend genug. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, wenn sie jetzt auch aufgab. Vielleicht war sie so ein Mensch.
Sie wusste es nicht.
Aber es kam ihr nicht ganz richtig vor.
Denn sie war … sie war Nathalie. Nathalie, die mit ihrem Vater auf Östermalm wohnte und aus einer völlig gestörten Familie stammte, aber Polizistin werden wollte. Nathalie, die jeden Tag von Bodyguards umgeben war und trotzdem eine Zeit lang einen Freund gehabt hatte, ohne das Wissen ihres Vaters. All das war zwar in ihrem früheren Leben gewesen, aber trotzdem. Das war auch sie gewesen. Vor allem war sie die Nathalie, die wusste, dass Schmerz reinigt. Man stand ihn eben durch. Natürlich gab sie manchmal auf. Aber wer tat das nicht?
Sie erspürte die eigenen Konturen, um zu fühlen, wo ihr Körper endete und die Decken anfingen. Es war nicht einfach, denn ihre Gedanken schweiften hierhin und dorthin, aber sie ließ nicht locker. Und schließlich hatte sie ihre Konturen erfasst. Da waren ihre Füße, die Beine, der Bauch, die Brust. Ihre Hände und Arme, der Rücken, der Hals, der Kopf.
Da war Nathalie.
Die sich befreien würde.
Nichts anderes war mehr wichtig. Nicht, was ihr Vater dachte, nicht, was ihre Großmutter hier trieb, auch die Freunde aus der Schule waren egal, all das zählte nicht mehr.
Nur noch auf eine einzige Sache kam es jetzt an.
Sie war Nathalie, und sie würde sich befreien.
Von irgendwoher holte sie eine Kraft, von der sie selbst nichts geahnt hatte.
Sie brüllte vor Wut. Die Decken wurden nass von ihren Lippen. Und sie wand sich. Spürte, wie sie vorwärtskam. Schrie und wand sich wieder. Bewegte sich. Sie würde es schaffen. Sie würde gewinnen.
Plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch. Erboste Stimmen im Streit. Immerhin war da etwas. Außerhalb. Und sie würde dort hingelangen.
Ein Streifen Licht in der Dunkelheit, direkt über ihrem Kopf. Ein Spalt zwischen den Matratzen. Das hieß, dass Luft hereinkam. Sie versuchte, sie einzuatmen, aber der Druck war zu groß. Sie versuchte es trotzdem. Der Spalt war ja ganz nah.
Nun hörte sie eine Stimme durch den Spalt.
»Bist du verrückt, wir brauchen sie! Hast du vergessen, warum sie hier ist?«
Nathalie knurrte zwischen zusammengebissenen Zähnen und wälzte sich noch einmal zur Seite. Nase und eine Gesichtshälfte erreichten jetzt den Spalt. Sie hatte sie eigentlich beschimpfen wollen, konnte aber gar nicht mehr klar denken. Sie bestand nur noch aus Gefühl, nur noch aus Wut. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, um ein nicht enden wollendes Geheul auszustoßen.
Der Druck auf die Matratzen ließ nach.
Sie fiel auf den kalten Beton. Jemand setzte sich neben sie und legte sich ihren Kopf in den Schoß. Jemand strich ihr über die Wange und schenkte ihr Liebe. Ließ sie spüren, dass alles gut war. Vorsichtig öffnete sie die Augen und sah in die von Nova.
»Verzeih mir«, sagte Nova sanft. »Ich wusste nicht, dass Ines das hier mit dir vorhat. Sonst hätte ich es untersagt. Ich möchte nicht, dass du in Gefahr gebracht wirst.«
Nathalie atmete tief ein und aus und spürte, wie der Sauerstoff in ihre Lungen und den Blutkreislauf eindrang. Ihre Augen tränten, weil es so hell war. Sie war am Leben. War neugeboren und in einer Welt angekommen, die sie zuvor für selbstverständlich gehalten hatte. Oh, sie fühlte sich sehr, sehr lebendig. Und vorher war sie einfach total naiv gewesen. Aber jetzt nicht mehr.
»Schon okay«, hustete sie.
Denn Großmutter hatte recht gehabt. Sie wusste endlich, wer sie war. Sie war Nathalie. Nathalie, die sich in diesem Augenblick sicher und geliebt fühlte. In den Arm genommen von einer Person, die sich um sie sorgte und sie diesmal nicht verlassen würde.
Das war das Einzige, was zählte.
»Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, aber sie ist leider zu Ende«, sagte Nova. »Es ist so weit. Du wirst jetzt die Wahrheit über deine Mutter erfahren.«