D as wird spannend«, sagt Nova.

Nathalie kann sich nicht erinnern, jemals eine solche Glut in Novas Augen gesehen zu haben. Plötzlich kommt ihr das Wort altehrwürdig in den Sinn, ohne dass sie genau weiß, was es bedeutet.

»Warum sind wir hier?«, fragt sie. »Und nicht bei den anderen?«

Sie versteht nicht, wieso sich die Gruppe aufteilen musste. Sie will so gerne mit den anderen und mit Nova zusammen sein. Will mit den Leuten zusammen sein, die sie verstehen.

»Sie gehen auf ihre eigene Reise.« Nova lächelt. »Ich wollte sie eigentlich begleiten, aber ich habe mich umentschieden. Ich bin noch längst nicht so weit. Sie fahren schon mal vor.«

»Ja, aber warum sitzen wir in diesem Raum?«

»Wir sind hier, weil ich deiner Mutter die Chance gebe, dich abzuholen, bevor es Zeit für mich wird … neu anzufangen.«

Ihre Worte klingen kryptisch, aber daran hat sich Nathalie mittlerweile gewöhnt. Nova ist so. Geheimnisvoll. Nathalie sieht sie an, als könnte sie sie auf diese Weise zwingen, sich zu öffnen. Ihre Mutter. Sie hat noch immer nicht ganz verdaut, dass ihre Mutter noch lebt. Vor einem Monat hat sie nicht einmal gewusst, dass sie eine Großmutter hat, und gestern hat Nova ihr von ihrer Mutter erzählt. Einer Mutter, die offenbar ihre gesamte Kindheit über kein Interesse daran gehabt hat, sich bei ihr zu melden. Obwohl sie anscheinend Polizistin ist.

Das war’s dann wohl mit ihren Plänen.

Nathalie versucht, sich die Erinnerungen vor Augen zu führen, die sie an ihre Mutter zu haben glaubt. Erinnerungen, die möglicherweise keine echten, sondern nur geträumt sind. Ihr Geruch, ihre Stimme, ihr Lachen. Sie will nicht, dass ihre Mutter kommt und sie abholt. In diesem Moment hasst sie ihre Mutter mehr als alles andere. Und ihr Vater kann sich auch zum Teufel scheren, weil er ihr nie von ihrer Mutter erzählt hat.

Nova ist die Einzige, die sich wirklich um sie gekümmert und sie so gesehen hat, wie sie wirklich ist. Nova hat sie nie angelogen. Im Gegensatz zum Rest der Welt. Wenn es nach Nathalie ginge, würde sie für immer bei Nova bleiben. Eine andere Mutter braucht sie nicht.

Mit schnellen Schritten geht Mina auf das imposante Gebäude aus rotem Backstein zu. Sie ist seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Sie hat gehofft, nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzen zu müssen. Auf dem großen Hof vor der Schule ist niemand zu sehen. Sie wirft einen Blick auf ihr Handy. Nathalies GPS -Sender ist immer noch deutlich zu erkennen. Sie befindet sich im Gebäude. Über Ines kann Mina sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen, aber Nathalie … Sie muss ihre Tochter finden.

Adam und Peder sind direkt hinter ihr, in voller Montur. Peders Bart ist immer noch ein bisschen blau. Auf dem Weg hierher hat Mina die Gruppe alarmiert, Adam und Peder sind gleichzeitig mit ihr eingetroffen. Julia und Ruben sind auch schon unterwegs, aber Mina kann nicht auf sie warten. Und Nathalies Vater geht immer noch nicht ans Telefon. Sie hat keine Zeit mehr.

Beide wirst du nicht retten können.

»Hier.« Adam wirft ihr ein Funkgerät zu. »Damit können wir Kontakt halten.«

Mina rennt ohne Deckung die Treppe zum Haupteingang hinauf. Aber wenn Vincent recht hat, sind die Anhänger von Epicura im Moment vor allem eine Gefahr für sich selbst.

Sie öffnet die Holztür. Ihre beiden Kollegen kommen nach.

»Wo sind sie?«, fragt sie.

Hinter der Eingangstür liegt eine breite Treppe. Die kennt sie nur zu gut. Viel zu oft hat sie hier unten gestanden und überlegt, ob sie gleich wieder kehrtmachen und nach Hause gehen soll. Die Luft steht und ist so heiß wie in einer Sauna. Peder wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann schaut er auf den Raumplan und erklärt ihnen schnell, wo die verschiedenen Säle und Klassenzimmer liegen.

»Sie haben die Aula gebucht.« Er zeigt auf die Treppe. »Zweiter Stock.«

Mina überprüft die App.

»Da ist Nathalie nicht«, sagt sie. »Sie ist in einem Klassenraum.«

Ohne abzuwarten, stürmt sie die Treppe hinauf und einen Gang entlang. Den Bildschirm lässt sie nicht aus den Augen. Nathalie muss in dem Raum am Ende des Flurs sein. Die alten Holztüren sehen massiv aus. Wenn diejenigen auf der anderen Seite der Tür es nicht wollen, wird sie nicht reinkommen. Aber Nova weiß hoffentlich nicht, dass sie schon da sind. Mina rennt schneller.

Nova steht am Fenster. Sie runzelt die Stirn.

»Stimmt was nicht?«, fragt Nathalie.

»Ich dachte, ich könnte von hier oben die Eingangstür sehen«, sagt Nova. »Aber der Klassenraum ist auf der falschen Seite. Es wäre gut gewesen, zu sehen, wie viele kommen.«

Nova setzt sich wieder zu Nathalie und lächelt ihr warmherziges Lächeln. Sie streicht Nathalie über den Kopf.

»Es tut mir leid, dass du so lange warten musst«, sagt sie. »Ich weiß, dass du lieber auf dem Hof geblieben wärst. Aber du weißt ja, dass es im Epikureismus darum geht, möglichst keine hohen Wellen zu schlagen. Wir werden sowieso nicht lange bleiben.«

Nathalie braucht etwas zu essen. Oder zu trinken. Sie hat Bauchschmerzen vor Hunger. Die Zunge klebt ihr am Gaumen. Das Nachdenken fällt ihr schwer, wenn sie so hungrig ist. Aber Nova sieht sie warmherzig an, und da weiß Nathalie wieder, dass alles gut ist. Auch wenn sie nicht versteht, was hier gerade vor sich geht. Auf Nova kann sie sich immer verlassen.

»Kann ich dich denn nicht begleiten?«, fragt Nathalie. »Allen anderen bin ich doch sowieso egal.«

Lächelnd nimmt Nova eine Flasche aus einer Kühltasche.

»Du wirst bald bei deinen neuen Freunden sein.« Sie stellt die Flasche und ein Glas auf den Tisch. »Bei Monica, Karl und allen anderen, die du bei Epicura kennengelernt hast. Und Ines natürlich.«

Die Flasche scheint Eistee oder vielleicht Wasser mit Sirup zu enthalten. Endlich etwas zu trinken. Dankbar greift Nathalie nach der Flasche, aber Nova schiebt ihre Hand weg.

»Die sparen wir uns noch ein bisschen auf«, sagt sie.

Jetzt glühen ihre Augen wieder.

»Es sei denn, deine Mutter kommt.«

Novas Nachricht an Mina geht Vincent nicht aus dem Kopf. Irgendetwas an der Wortwahl ist seltsam. Das ist natürlich Absicht und dient dazu, sie zu verwirren, aber es ist besser, wenn er sich den Kopf darüber zerbricht und nicht Mina. Die Situation im Östra Real erfordert ihre ganze Aufmerksamkeit. Nathalie ist schließlich ihre Tochter. Er ist sich nicht sicher, ob er auch so gefasst und konzentriert wäre wie sie, wenn es um Aston ginge.

Diese SMS . Wenn er inzwischen eins gelernt hat, dann, dass Nova gerne Hinweise gibt. Sowohl irreführende als auch richtige. Er muss herausfinden, um was für eine Art von Hinweis es sich hier handelt.

Beide wirst du nicht retten können, hat sie geschrieben. Wofür entscheidest du dich? Gehst du den Weg zu Ende?

Auf den ersten Blick scheint Nova zu fragen, wen von beiden Mina retten wird. Nathalie oder Ines. Aber rein grammatikalisch hat sie eine andere Frage gestellt. »Wofür entscheidest du dich?«, bezieht sich eigentlich auf das, was danach kommt. Wird Mina »den Weg zu Ende« gehen oder nicht. Das ist die Entscheidung, vor die Nova sie stellt.

Den Weg zu Ende gehen – oder nicht.

Zwei Möglichkeiten.

Zwei Personen, die gerettet werden müssen.

Den Weg zu Ende gehen – den Weg nicht zu Ende gehen

Nathalie – Ines

Er springt auf, als ihm klar wird, was das bedeutet.

»Wie lange sollen wir denn noch warten?«, seufzt Nathalie.

Nova sieht auf die Uhr.

»Nicht mehr lange«, sagt sie. »Sie müssen es schon herausgefunden haben. Ich habe auf den Namen Epicura gebucht. Einige von ihnen sind wahrscheinlich schon im Gebäude. Ich schätze, deine Mutter sucht in diesem Moment nach dem richtigen Raum. Entweder kommt gleich jemand. Oder nie.«

Wie immer versteht Nathalie nicht alles. Aber sie hat keine Kraft mehr, nachzufragen. Abgesehen davon, dass sie Hunger und Durst hat, ist sie es langsam leid. Nova so lange für sich allein zu haben, ist etwas Besonderes, das weiß sie. Es kommt ihr fast wie eine Sünde vor, nicht jeden Moment zu genießen. Aber die Wahrheit ist, dass sie gerne ein wenig schlafen würde. Dann würde ihr Magen vielleicht nicht so wehtun. Wenigstens einen Schluck müsste sie doch trinken können. Erneut greift sie nach der Flasche, aber Nova schiebt sie noch ein Stück weiter weg.

»Ich habe aber riesigen Durst.« Nathalie steht auf. »Dann gehe ich mir eben Wasser holen.«

»Du musst leider hierbleiben.« Nova sieht Nathalie mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldet.

Novas Augen lächeln nicht. Und warmherzig sind sie auch nicht mehr. Sie sind aus kaltem Stahl. Die Liebe, die Nathalie gespürt hat, ist weg.

Nathalie will nicht mehr hier sein. Sie will wirklich nicht hier sein. Aber sie weiß nicht, ob sie noch einmal die Kraft aufbringt, aufzustehen.

»Du bist mein Pfand«, sagt Nova. »Falls etwas schiefgeht. Und den Sirup wirst du Schluck für Schluck zu trinken bekommen, sei unbesorgt.«

Nathalie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Sie hat plötzlich keinen Durst mehr. Es klingt, als würde im Stockwerk unter ihnen jemand rennen. Die Schritte kommen näher und entfernen sich wieder.

»Wieso Pfand?«, fragt sie. »Was ist denn los?«

Nova lächelt, aber ihre Augen lächeln nicht. Nathalie rückt mit dem Stuhl nach hinten, weg von Nova.

Mina erreicht das Ende des Flurs. In ihrer Angst fühlt sie sich plötzlich sehr, sehr allein. Vincent ist nicht bei ihr, und Nathalies Vater geht nicht ans Telefon. Schließlich spricht sie ihm eine Nachricht auf die Mailbox. Jetzt muss sie sich konzentrieren. Und ihre Tochter retten.

Die Anordnung der Türen passt nicht zu der Position in der Tracking-App. Verdammt. Ihre Tochter ist nicht in diesem Stockwerk. Sie rennt zurück zum Treppenhaus, wo Adam laut mit Julia zu telefonieren scheint.

Schweiß tropft Mina von der Nasenspitze, aber darum kann sie sich jetzt nicht kümmern. Warum bauen die so elend lange Gänge?

»Wo seid ihr denn?«, fragt Adam ins Telefon, während er einen Blick mit Peder wechselt, der ungeduldig neben ihm steht. »Wir brauchen euch hier.«

Sie hastet an ihnen vorbei und noch ein Stockwerk nach oben. Dort biegt sie wieder in den langen Gang ein. Diesmal bewegt sie sich leiser vorwärts. Nova ist wahrscheinlich mit den anderen in der Aula.

Ganz hinten befindet sich der Klassenraum A311 . Das ist das berühmte Zimmer mit dem Wandbild von Georg Pauli. Sie legt die Hand auf das Türblatt und ringt nach Luft.

Checkt die App. Stimmt. Sie ist am richtigen Ort.

Nathalie ist hinter dieser Tür.

Gleich wird sie ihre Tochter sehen. Eine Tochter, die nicht weiß, wer sie, Mina, ist. Sie darf jetzt nichts falsch machen.

Plötzlich knistert es im Funkgerät. Schnell weicht sie von der Tür zurück und hofft, dass die Personen im Klassenraum nichts gehört haben.

»Wir haben gerade einen Blick hineingeworfen«, ruft Adam. »Offenbar hat sich ganz Epicura hier versammelt. Sieht wirklich wie eine ganz normale Konferenz aus.«

Sie runzelt die Stirn. Ganz Epicura. Dann muss Ines ja auch dort sein. Merkwürdig, dass es so leicht war, sie zu finden. Aus Novas SMS hat Mina geschlossen, dass es schwierig werden würde.

Beide wirst du nicht retten können.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Sie spürt das. Aber sie weiß nicht, was es ist.

»Was machen sie?«, fragt sie.

»Im Moment ist Kaffeepause. Ich kann allerdings keine Kaffeekannen entdecken. Die trinken anscheinend nur Wasser und Säfte. Richtige Gesundheitsfanatiker.«

Eiskalter Schweiß läuft Mina den Rücken hinunter. Der kalte Schauer lässt sie nach Luft schnappen. Allmählich dämmert ihr, was hier nicht stimmt.

Nova wandert auf und ab. Diese Nova hat Nathalie noch nie erlebt. Normalerweise hat sie etwas von einem scheuen Reh. Aber jetzt ist sie eine gefährliche Wölfin.

»Ich habe es langsam satt«, sagt Nova. »Bin ich wirklich die Einzige, die das Spiel ernst nimmt?«

Sie dreht sich zu Nathalie um und sieht sie finster an. Nathalie schreckt zurück.

»Deine Mutter hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht«, sagt sie. »Ich hatte noch drei vor mir. Mit Wilma vier. Erst danach hätte ich mich von all den Schmerzen ausruhen können. Aber ich bin nur bis zur Hälfte gekommen. Und deshalb muss ich jetzt von vorne anfangen. Nicht gleich natürlich. Zuerst muss ich abwarten, bis die Leute die Nase voll von der Geschichte und alles vergessen haben. Aber dann.«

Auf dem Gang sind schnelle Schritte zu hören. Irgendetwas knistert, dann verschwinden die Schritte wieder.

»Und daran ist deine Mutter schuld«, fährt Nova fort. »Sie und Vincent Walder. Ich habe versucht, ihm ein Bein zu stellen, aber es hat nicht funktioniert. Deshalb sind wir jetzt hier. Ich habe es wirklich satt. Wir sind seit einer Stunde hier, und niemand ist gekommen. Es reicht. Du schließt dich jetzt Epicura an. Durst hast du ja sowieso.«

Mina presst das Funkgerät an die Lippen und flüstert hinein. Ein Teil von ihr hatte registriert, dass sie mit dem Mund eine Fläche berührte, die Adam in der Hand gehalten hatte. Beim Gedanken daran wird ihr übel. Aber die Leute hinter der Tür dürfen sie nicht hören.

»Du musst sie vom Trinken abhalten«, flüstert sie ins Funkgerät. »Kipp den Tisch um oder was weiß ich. Vincent hat gesagt, Nova will sie alle umbringen. Das sind keine Säfte. Das ist Gift. Ich komme, so schnell ich kann.«

»Scheiße«, sagt Adam. »Jetzt passiert was. Ich gehe rein.«

Die Verbindung wird unterbrochen. Sie legt das Funkgerät aus der Hand und wirft einen Blick auf die App. Die Aula ist zu weit weg, als dass sie dort irgendwie helfen könnte.

Hinter der Tür hat sich nichts geregt. Hoffentlich haben sie Mina nicht gehört. Sie holt tief Luft, öffnet die Tür des Klassenraums A311 und geht zu ihrer Tochter.

Gehst du den Weg zu Ende?

Vincent hat es verstanden. Nathalie und Ines sind an verschiedenen Orten. Das hat die Nachricht zu bedeuten.

Nova ist ein Mensch, der seine Worte sorgfältig wägt. Alles hat Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass sie das Wort »Weg« gewählt hat.

Und er weiß genau, welchen Weg sie meint.

Er schließt die Augen und versucht, sich an die Fernsehsendung mit Tilde de Paula Eby zu erinnern. Dass er sie gesehen hat, ist eine gefühlte Ewigkeit her. Er bekommt nicht gleich alles zusammen, weil er der Sendung offenbar zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, als sie im Langzeitgedächtnis abgespeichert wurde. Er wendet eine andere Methode an und versucht es stattdessen mit dem Gefühl, zu Hause in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa zu sitzen. Er spürt das weiche Polster im Rücken. Dann kombiniert er diese Wahrnehmung mit seiner Erinnerung an den Ton, in dem Maria »Blabla« gesagt hat.

Das reicht aus, um die Sendung wieder vor sich zu sehen. Er hat sie fast so deutlich vor Augen wie in dem Moment.

Nova und Ines sitzen auf dem Sofa. Sie sprechen über Schmerz. Tilde fragt Nova, wie sie es trotz der Folgen des Unfalls schafft, nicht verbittert zu sein.

»Hamiltonpfade«, hat Nova gesagt.

»Das ist ein mathematischer Begriff«, erläuterte sie, als sie Tildes ratlosen Gesichtsausdruck sah. »Es geht darum, verschiedene Punkte in einer geometrischen Form so zu verbinden, dass jeder Punkt nur einmal berührt wird. Ich versuche, mein Leben auf die gleiche Weise zu leben.«

Er hatte die Sätze gehört, aber nicht verstanden, dass sie mehrere Dinge bedeuteten. Es ging Nova nicht nur darum, mit schlimmen Erinnerungen abzuschließen. Die Aussage über den nach mathematischen Regeln ausgerichteten Weg ist wortwörtlich gemeint.

Erneut faltet er den Stadtplan auseinander. Das Papier reflektiert die Sonne und blendet ihn. Die ersten acht Punkte der Knight’s tour hat er bereits eingezeichnet. Sie führen bis zum Östra Real. Nach jedem Zug des Springers kommen mehrere mögliche Züge infrage, aber immer nur einer ist der richtige. Kein Wunder, dass man solche Dinge Computern überließ.

Er tippt mit dem Finger auf die achte Position. Östra Real. Das Wort »Stern«. Er hat die zehn möglichen Züge längst errechnet, aber sicher ist sicher. Er wendet die Warnsdorffsche Regel an, nach der man sich immer auf das Feld mit den wenigsten möglichen Zügen bewegt. Auf diese Weise gelangt er auf e8 , die Königliche Technische Hochschule. Er versucht, das Adrenalin zu ignorieren, das in seinen Adern pulsiert. Es beeinträchtigt nur sein rationales Denken.

Die Berechnung wird eine Weile dauern. Jeder Zug kann nach fünf oder zehn weiteren Zügen in eine Sackgasse führen. Dann muss er umkehren und von vorne anfangen. Und Mina hat keine Zeit mehr.

Gehst du den Weg zu Ende?

Auf dem Stadtplan bleiben noch fünfundfünfzig Quadrate, bis Novas Knight’s tour abgeschlossen ist. Dann wird Nova aufhören, sich zwischen den Punkten hin- und herzubewegen. Irgendein Planquadrat ist das letzte. Das Ende des Weges.

Er muss es nur finden.

Das Klassenzimmer sieht noch genauso aus, wie Mina es in Erinnerung hat. Die Figuren im üppigen Grün an der Wand stehen auch unverändert da, ebenso wie die weißen Tische und Stühle.

Und der Raum ist leer.

Im ersten Moment denkt sie, Nathalie würde sich irgendwo verstecken, aber hier kann man sich nicht verstecken. Auf einem der hinteren Tische liegt ein Gegenstand. Nur er zeugt davon, dass jemand hier war.

Ein Rucksack.

Mina hat diesen Rucksack seit zwei Jahren nicht gesehen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass es Nathalies ist.

Sie rennt zu dem Tisch. Auf dem Rucksack liegt ein gefaltetes DIN -A4 -Blatt.

Hallo Mina, ich schon wieder. Der Peilsender im Rucksack war keine schlechte Idee, er brauchte nur eine neue Batterie. Ich habe mir gedacht, dass du dich für deine Tochter und nicht für deine Mutter entscheidest. Gute Wahl. Genauso hat mein Vater es auch gemacht. Leider hat es damals nichts genützt, und es wird auch diesmal nichts nützen. Während du das hier liest, trinkt deine Mutter ein Stockwerk weiter unten Gift. Und du bist zu weit weg, um Nathalie zu helfen. Aber das bist du ja seit vielen Jahren. Schachmatt. Sie gehört jetzt mir.

/Nova

Sie schnappt nach Luft, aber panisches Entsetzen hat ihr den Hals zugeschnürt. Arme und Beine scheinen ihr nicht mehr zu gehorchen. Nathalie. Es flimmert vor ihren Augen, der Raum dreht sich. Sie muss mit Nathalie reden. Aber sie kann sich nicht rühren. Sie will sich am Tisch festhalten, aber er ist zu weit weg. Sie muss für Natti da sein. Und weiß, dass sie versagt hat.

Das Feuerwerk vor ihren Augen gewinnt die Oberhand, sie spürt, dass sie fällt. Plötzlich ein Schmerz im Arm. Sie muss im Sturz gegen einen Stuhl gestoßen sein. Sie kommt auf dem Boden auf, und der Klassenraum A311 verschwindet genau wie der Rest der Welt.

Adam hört aufgeregtes Stimmengewirr aus der Aula. Was immer Nova geplant hat, scheint nicht vollkommen schmerzlos abzulaufen. Julia und Ruben sind immer noch nicht da, aber er hat keine Zeit mehr, auf sie zu warten. Er muss handeln. Er nickt Peder zu und geht hinein.

»Polizei!«, ruft er der Menschenmenge zu. »Was immer Sie gerade tun, hören Sie sofort damit auf. Keine Bewegung!«

Er sieht zwei Dinge auf einmal. Erstens scheint zwischen den Anhängern von Epicura Streit ausgebrochen zu sein. Sie beachten ihn und Peder gar nicht. Oder sie haben die Beamten aufgrund des Geschreis nicht bemerkt. Eine junge Frau kniet unter einem Tisch und weint hysterisch. Neben ihr liegt ein Mann, der von Krämpfen geschüttelt wird. Ein penetranter Geruch wie von Urin durchzieht den Raum.

»Wir trinken das nicht!«, brüllt ein Mann inmitten einer Gruppe von sieben oder acht Personen.

Ein junger Mann tritt vor und versetzt dem Nächsten mit dem Baseballschläger einen Schlag auf die Knie. Der Getroffene fällt schreiend auf andere Menschen, die schon am Boden liegen. Laut wimmernd vor Schmerz, hält er sich die Knie. Die Leiber unter ihm bewegen sich nicht.

»Ihr trinkt«, sagt der junge Mann und schwingt den Schläger. »Alle trinken. Schmerz reinigt.«

Vor einem Tisch stehen Menschen an, die leise murmeln.

»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, hört er sie immer wieder sagen, während einer nach dem anderen einen Pappbecher erhält und weiterreicht.

Die weinende Frau steht auf und versucht, die Becher wegzustoßen, aber sie taumelt, und schließlich drücken ihr die anderen einen Becher an die Lippen.

Das Zweite, was er sieht, ist die Pistole in der Hand einer auffällig kleinen Frau um die sechzig, die einen lila Mantel trägt. Die Pistole ist auf eine Menschentraube gerichtet, die sich offenbar weigert, die Becher anzunehmen, aber nun wirbelt die Frau im Mantel herum und richtet sie stattdessen auf ihn und Peder.

»Keine Bewegung? Das gilt für Sie zwei!«, sagt sie.

Adam hat gerade nach seiner Waffe greifen wollen, aber nun wagt er nicht mehr, sie zu ziehen. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass es Peder genauso geht.

»Nova hat Sie angekündigt«, sagt sie. »Die hier ist geladen. Also legen Sie Ihre Waffen auf den Boden. Ganz langsam. Sie zuerst.«

Sie nickt Peder zu.

Adam registriert, dass zwei Personen in der Schlange vor dem Tisch zusammenbrechen. Wie mit Klauen zerkratzen sie sich die Hälse. Einer der Männer, die sich geweigert haben zu trinken, ruft einen Namen und versucht, zu ihnen zu gelangen, wird aber an beiden Armen festgehalten und bekommt einen Becher an den Mund gedrückt.

Die ältere Frau lässt Adam und Peder nicht aus den Augen. Wieder deutet sie mit dem Kinn auf Peder, woraufhin er deutlich sichtbar seine Dienstwaffe auf den Boden legt.

»Jetzt Sie.« Sie winkt Adam mit der Pistole.

Adam umfasst seine Dienstwaffe genau wie Peder mit drei Fingern. Die Frau wirkt ruhig und gefasst, sie wird bestimmt nicht aus Nervosität schießen. Aber er will nicht, dass sie eine seiner Bewegungen missdeutet, und legt seine Waffe langsam neben sich ab.

Der strenge Geruch wird immer stärker, weil sich alle, die krampfhaft zuckend auf dem Boden liegen, in die Hose pinkeln. Adam atmet durch den Mund. Die Frau hat Nova erwähnt, aber er sieht sie nirgendwo.

»Stellen Sie sich an die Wand da drüben.« Die Frau gestikuliert mit der Waffe. »Dort stören Sie nicht.«

Mit lauter Stimme ruft sie einer Frau am anderen Ende des Raums etwas zu.

»Übernimmst du den Rest, Monica?«

»Natürlich«, ruft die Frau am Tisch mit den Flaschen und Bechern. »Es dauert noch eine Weile, aber das macht nichts. Karl?«

Ein großer blonder Mann, der extrem durchtrainiert aussieht, stellt sich neben die Frau und reicht ihr grinsend einen Teleskopschlagstock.

»Denkt an Novas Versprechen«, ruft Monica den Anhängern von Epicura zu. »Ihr werdet endlich von eurem Schmerz befreit. Bekommt endlich eure Belohnung. Und im nächsten Leben werden wir zum Dank für alles, was wir durchgemacht haben, die Könige und Königinnen sein. Ich kann verstehen, dass ihr Angst habt. Aber Angst ist eine Illusion. Kommt und trinkt, wir haben genug für alle.«

Einige der Anhänger blicken ängstlich auf den Schlagstock. Auf Karl. Auf die Pistole, die momentan auf Adam gerichtet ist. Dann reihen sie sich wieder in die Schlange ein.

»Tut es nicht«, sagt Peder zu der Frau im lila Mantel. »Ihr irrt euch. Das Leben besteht nicht nur aus Leiden.«

»Stören Sie uns nicht.« Die Frau fuchtelt mit der Pistole. »Diesen Tag haben wir seit Jahren geplant. Ihretwegen musste alles etwas schneller gehen. Das ist nicht optimal, aber wir kriegen das hin.«

»Aber Sie können nicht alle zusammen sterben.« Peder geht einen Schritt auf sie zu. »Das ist Wahnsinn.«

Adam starrt auf die blauen Flecken in Peders Bart. An den Rändern seines Gesichtsfelds flimmert es. Das Adrenalin bewirkt einen Tunnelblick. Er kneift die Augen ein paar Mal zusammen. Er muss aufmerksam bleiben und auf alles gefasst sein. Peder geht noch einen Schritt weiter, und Adam spannt jede Faser seines Körpers an.

»Wir töten niemanden«, sagt die kleine Frau und richtet die Pistole auf Peders Gesicht, während sie einen Schritt zurückweicht. »Wir tun nur das Folgerichtige. Alle sind freiwillig hier. Die meisten sind nur ein wenig durcheinander. Das ist ja auch nachvollziehbar – es ist trotz allem ein gewichtiger Entschluss.«

Sie streckt den freien Arm zur Seite.

»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt!«, ruft sie.

»Alles ist Leiden, Schmerz reinigt«, schallt es durch den Raum.

Die Frau lächelt.

»Machen Sie nicht den Fehler, zu glauben, ich würde die hier nicht benutzen.« Sie deutet auf die Pistole. »Ich tue, was nötig ist. In dieser Existenz bleiben mir sowieso nur noch Minuten.«

»Euch entgeht so viel«, sagt Peder.

Er klingt jetzt verzweifelt. Adam kann ihn verstehen. Peder will sie alle retten. Peder mit dem blauen Bart, der es mit jedem gut meint. Aber es wird nichts nützen. Es ist schon zu spät. Auf dem Boden liegen an die zwanzig Menschen. Adam weiß, dass er diesen Moment nie vergessen wird. Der Moment, in dem sie mit ansehen mussten, wie Nova alle, die an sie glaubten, ermordete.

»Ich werde euch zeigen, was ihr verpasst«, sagt Peder.

Trotz des Horrors lächelt er.

»Ich habe ein Video, auf dem meine Drillinge beim Eurovision Songcontest mitsingen«, sagt er, immer noch lächelnd.

Er will die Hand in die Hosentasche stecken.

»Sie singen zu Anis Don Demina. Wer das gesehen hat …«

Die Frau drückt ab. In dem großen Saal klingt der Schuss wie ein explodierender Stern.

Peder wird wie von einem Gummiband nach hinten geschleudert.

Sein Körper knallt gegen die Wand.

Jemand schreit.

Vielleicht ist es Adam.