M ina zuckte zusammen. Sie wusste genau, was für ein Geräusch sie geweckt hatte. Ein Pistolenschuss. Während sie sich aufgerappelt hat, ist ihr klar geworden, dass Novas Botschaft real ist. Sie ist aus dem Klassenzimmer gerannt, war aber immer noch so wacklig auf den Beinen, dass sie ein paar Stühle umgestoßen hat.

Ein Stockwerk tiefer, hat Nova geschrieben. Ihre Mutter war ein Stockwerk tiefer. In der Aula. War Natti auch dort? Novas Spiele waren verwirrend, und Mina verstand nicht alles.

Der Flur schien sich endlos in die Länge zu ziehen, bis sie die Treppe erreichte und mit großen Schritten hinunterrannte. Auf halbem Weg wäre sie beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch am Geländer festhalten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie musste ihr Tempo bremsen.

Als sie sich der Aula näherte, hörte sie Schreie und laute Kommandos durch die halb geöffnete Tür. Sie spähte durch den Spalt. Der Gestank war fürchterlich. Adam richtete seine Dienstwaffe auf eine Gruppe von Menschen mit erhobenen Händen. Andere lagen am Boden, die meisten von ihnen rührten sich nicht. Andere wanden sich vor Schmerzen. Was immer hier passiert war, schien aus dem Ruder gelaufen zu sein. Eine ältere Frau im lila Mantel saß auf dem Boden. Die Hände waren ihr auf den Rücken gebunden. Adam oder Peder hatten ihr offenbar Handschellen angelegt. Ein Stück entfernt entdeckte sie Ines zusammen mit den anderen auf dem Fußboden.

Sie machte durch laute Rufe auf sich aufmerksam, um nicht versehentlich von ihren Kollegen erschossen zu werden.

»Adam! Hier ist Mina! Ich komme jetzt rein!«

Langsam zog sie ihre Dienstwaffe, während sie auf Adams »Okay« wartete. Als es ertönte, öffnete sie die Tür ganz und stürzte auf Ines zu. Ihre Mutter konnte kaum noch die Augen offen halten. Neben ihr lag ein leerer Pappbecher.

»Was hast du gemacht? Mama! Wo ist Nathalie?«

Ines sah sie an und streckte mühevoll die Hand nach ihr aus. Nach kurzem Zögern griff Mina danach. Die Hand ihrer Mutter zu halten, fühlte sich seltsam und vertraut zugleich an. Ines schien am Ende ihrer Kräfte zu sein. Mina empfand rasende Wut. So durfte das alles nicht enden. Sie hatte noch so viele Fragen. Aber eine war ihr wichtiger als alles andere. Flehentlich sah sie Ines in die Augen.

»Wo ist Nathalie, Mama?«

»Ich habe sie getäuscht, Mina«, sagte Ines mit rauer Stimme. »Tatsächlich. Ich habe Nova getäuscht. Verzeih mir. Mir war nicht klar … Bis kurz vor Schluss. Ich wusste nicht, was sie und die anderen vorhatten. Als ich es begriff, habe ich getan, was ich konnte. Für dich. Für Nathalie. Sie wollte Nathalie töten. Das ist mir im letzten Moment klar geworden. Deshalb habe ich zu Nova gesagt, sie würde Zeit gewinnen, wenn sie Nathalie mitnimmt. Sie bräuchte mehr Zeit, um ihr Werk zu vollenden. Nova sei zu wichtig, um hier mit uns zu verschwinden. Ich wusste, dass ihr Narzissmus darauf anspringen würde …«

»Wo hat sie sie hingebracht?«

Ines hustete. Mina sah, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Mina wollte sie nicht allein lassen, aber der Gedanke an Nathalie ließ ihr keine Ruhe.

»Es tut mir leid. Alles. Es tut mir leid«, flüsterte Ines.

Dann ließ Ines die Hand ihrer Tochter los und schloss die Augen.