E s war Abend. Die meisten Familienmitglieder machten sich bettfertig, aber Vincent war zu rastlos dafür. Überraschend war ein Sommergewitter aufgezogen, und nun stürmte es in den Bäumen vor dem Haus. Die Stämme knackten, und das Laub raschelte, als wollte es sich losreißen. Vincent saß im Arbeitszimmer und starrte auf den Zeitungsartikel, den er schon unzählige Male gelesen hatte.

MAGIE MIT TRAGISCHEM AUSGANG !

Auf einem ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Kvibille wurde aus einer spielerischen Illusion plötzlich tödliche Wahrheit.

Doch seit er ihn in der vergangenen Woche aus dem Regal genommen hatte, konnte er ihn nicht mehr dorthin zurücklegen. Er las den Text immer wieder und versuchte, sich an die Begegnung mit der neugierigen Reporterin zu erinnern. Aber das alles war schon so lange her. Und er war geistig irgendwie nicht ganz … präsent gewesen. Er erinnerte sich an einen freundlichen Polizisten und eine schnippische Frau, aber er hätte nicht sagen können, ob seine Erinnerungen echt oder Fantasien waren, die sein kindliches Hirn aus Serien, Büchern und realen Erfahrungen zusammengesetzt hatte. Die Wahrheit lag natürlich irgendwo dazwischen. Er wusste, dass sich die wenigsten Erinnerungen genauso abgespielt hatten, wie sie ihm im Gedächtnis geblieben waren. Und die traurigen Augen des Siebenjährigen, die ihn von der Zeitungsseite anblickten, blendete er am liebsten aus.

Aber die drei Puzzles auf seinem Schreibtisch sprachen eine deutliche Sprache. Irgendjemand wollte ihn an das erinnern, was in seiner Kindheit passiert war. Und wer immer es war, Jane konnte es nicht sein, und Nova auch nicht. Er hatte geglaubt, sie hätte ihm die Rätsel geschickt. Entweder, um ihn zu verwirren und ihn von den Ermittlungen abzulenken. Oder sie hätte, was im Hinblick auf ihre narzisstische Persönlichkeitsstruktur nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, wichtige Hinweise in den Puzzles versteckt. Menschen mit einer hohen Meinung von sich selbst liebten es, andere, vermeintlich Ebenbürtige, auf die eigene Brillanz aufmerksam zu machen.

Aber weder hatte Nova ihm die Puzzles noch Ruben den Zeitungsartikel geschickt.

Irgendjemand da draußen spielte ein beklemmendes Spiel mit ihm, und er hatte keine Ahnung, wer es war.

»Was machst du denn?« Maria stand in der Tür. »Die Platte, die du im Wohnzimmer aufgelegt hast, ist längst zu Ende. Comfort Module, was ist das eigentlich für ein Bandname?«

Besorgt sah sie ihn an.

»Geht es dir nicht gut?«

Er konnte die Frage nicht beantworten. Um ehrlich zu sein, wusste er es nicht. Den Zeitungsartikel auf dem Schreibtisch hatte er instinktiv mit den Händen bedeckt. Das war zwar kindisch, aber er wollte jetzt nicht darüber sprechen. Maria bemerkte die Zeitung natürlich und warf ihm einen skeptischen Blick zu, doch er schwieg beharrlich.

»Du siehst ganz schön elend aus«, sagte sie. »Geh lieber schlafen. Du musst ja morgen früh zum Fort Boyard, da solltest du ausgeschlafen sein. Ich räume hier noch schnell auf, und dann gehen wir ins Bett.«

Sie stapelte die zusammengeklebten Puzzles auf dem Schreibtisch. Zum Glück schien sie die seltsamen Mitteilungen nicht zu bemerken.

»Wo soll ich die hinlegen?« Sie hielt den kleinen Papierstapel in den Lichtkegel der Schreibtischlampe.

Er rieb sich die Augen. Vielleicht hatte Maria recht. Er sollte hier nicht so allein mit seinen Gedanken herumsitzen. Ihre spontane Fürsorglichkeit tat ihm gut. Er merkte, dass er diese Zuwendung vermisst hatte.

Plötzlich flatterten Buchstaben über den Schreibtisch. Sie tanzten im Lichtkegel, verschwammen vor seinen Augen und wurden wieder deutlich sichtbar. Hatte er sich die Augen zu fest gerieben? Hatte er Halluzinationen? Nein, die Buchstaben waren in höchstem Maße real. Ein dumpfes Krachen vor dem Haus verriet, dass beim letzten Windstoß ein Ast abgebrochen war.

»Warte mal.« Er nahm Maria die Puzzles aus der Hand.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich habe es wenigstens versucht«, sagte sie. »Leg dich bitte bald hin. Du siehst wirklich nicht fit aus.«

Während sie das Arbeitszimmer verließ, sah er sich den Stapel ganz genau an.

Die Lücken.

Alle drei zusammengeklebten Puzzles wiesen Lücken zwischen den Tetrisschnipseln auf. Einzeln waren sie zu groß und zu unregelmäßig, als dass sie etwas bedeutet hätten, aber wenn die Puzzles übereinanderlagen, ergaben die Unregelmäßigkeiten ein Muster. Die Lücken befanden sich ungefähr an den gleichen Stellen, hatten aber verschiedene Formen. Wenn sie sich überlappten, verkleinerten sich die Konturen.

Buchstaben.

Die Lücken bildeten Buchstaben.

Er schob den Zeitungsartikel zur Seite und hielt die Puzzles, genau wie Maria es getan hatte, unter die Schreibtischlampe. Das Licht, das jetzt auf die Tischplatte fiel, ergab ein deutlich erkennbares Wort.

SCHULDIG

In seinem Innern begann der Schatten zu murmeln, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er musste sie fest zukneifen, um noch etwas zu sehen.

Das war nicht gerecht. Er hatte doch getan, was er konnte. Warum wurde er nicht frei? Nachdem er noch einmal geblinzelt hatte, richtete er seinen Blick wieder auf den Zeitungsartikel. Auf das Foto des kleinen Jungen, der er einst gewesen war.

Durch den Tränenschleier sah er das Foto verschwommen, und plötzlich erkannte er, dass zwei Linien auf dem Bild kräftiger als die anderen waren. Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und schaute noch einmal hin. Jemand hatte mit Kugelschreiber auf dem Bild herumgekritzelt. Früher hatte er das selbst auch gemacht, als Kind, wenn er nichts Besseres zu tun gehabt hatte. Auch als Erwachsener zeichnete er beim Nachdenken oft die Konturen von Personen oder Gegenständen in der Zeitung nach. Und zum Abschluss kritzelte er den Leuten einen Oberlippenbart ins Gesicht.

Er hatte beim Lesen des Artikels noch nie über das Gekritzel nachgedacht. Zum einen war es kaum zu erkennen, weil die Kugelschreibertinte verblasst war, und zum anderen umgaben die geraden Linien den schwarzen Kasten im Hintergrund.

Den Kasten, in dem Mama …

Er dachte den Gedanken nicht zu Ende und konzentrierte sich auf das Foto. Der Schatten in ihm wurde größer.

Das Gekritzel bestand aus drei Strichen. Einer verlief an der Oberkante des Kastens entlang und verband sich an der Ecke mit einem, der an der Seite des Kastens nach unten verlief. Der dritte Strich verband die beiden anderen jeweils in der Mitte.

Plötzlich wurde ihm klar, was er da vor sich hatte.

Es war ein A. A wie Alpha. Wie Anfang.

Hastig holte er die Karte hervor, die mit dem dritten Puzzle gekommen war, und las sie.

Vergiss nicht, du bist selbst schuld. Du hättest einen anderen Weg gehen können. Bist du aber nicht.

Und daher haben wir dein Omega erreicht.

Er hatte geglaubt, wenn er erst den Anfang gefunden hätte, würde verständlicher, was der Puzzlemacher meinte. Und was genau ein Ende finden sollte. Nun hatte er den Anfang gefunden, der Puzzlemacher hatte den Anfang bereits markiert, als Ruben vor zwei Jahren den Zeitungsartikel erhalten hatte, aber Vincent hatte nicht hingesehen. Am Anfang war er sieben Jahre alt gewesen, und seine Mutter war zu Tode gekommen. Da war er Vincent Walder geworden, der sich an geraden Zahlen festhielt und sich komplizierte Muster ausdachte, um nichts fühlen zu müssen. Am Anfang war der Schatten in ihn eingezogen.

Das war sein Alpha.

Er hatte geglaubt, er wäre weitergekommen, aber die Botschaft des Puzzles war eindeutig. Es war ihm nicht vergönnt, irgendetwas hinter sich zu lassen. Auf dem ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Kvibille hatte alles angefangen. Und nun hatte es ihn eingeholt.

Und daher haben wir dein Omega erreicht.

Den Anfang von deinem Ende.

Heulend toste der Wind ums Haus und rüttelte an den Fenstern, als versuchte er, gewaltsam einzudringen. Vincent würde zur Rechenschaft gezogen werden. Mehr als vierzig Jahre nach dem Tod seiner Mutter würde er schließlich seine Strafe bekommen. Von wem, wusste er nicht. Und auch nicht, wann. Er wusste nur, dass es dazu kommen würde. Der Schatten in seinem Innern brüllte so laut, dass er sich die Ohren zuhielt.